Lasst den Geist frei

Das Kreuz war mal
ein IKEA-Regal

Das Kreuz ist eigentlich ein IKEA-Regal, der Kerzenleuchter war mal eine Badewanne und gebeichtet wird in einem Pfadfinderzelt. Diese Woche. Nächste Woche ist das Kreuz vielleicht aus Pappe, beklebt mit tausend gelben Fürbitt-Post-its. Und wer etwas auf dem Herzen hat, setzt sich mit dem Pfarrer in eine Hollywoodschaukel.

Alles ist möglich, alles ist flexibel, alles fließt in Samuel, der katholischen Jugendkirche von Mannheim. „Nur der Beamer ist fest installiert“, lacht Daniel Kunz, der Jugendpfarrer. Dann wird er ernst. Samuel sei mehr als nur Event, sagt Kunz. Samuel sei der Versuch, Kirche mit „mehr Weite“ zu denken. „Auch wenn das oft brutal schwer fällt.“ Zwei Gespräche über die neuen Aufbrüche in der katholischen Kirche. Passend zu Pfingsten.

In Mannheim stehen sich Kirche
und Moschee direkt gegenüber

Samuel ist ein Kind des Katholikentags

Das Bild ging um die Welt: Auf der einen Straßenseite das schlanke Minarett der zweitgrößten Moschee Deutschlands, auf der anderen den neugotischen Turm der katholischen Liebfrauenkirche. Ein Fotograf hatte die Gotteshäuser aus einer so genialen Perspektive aufgenommen, dass die Türme genau nebeneinander standen. Seitdem steht Mannheim als Symbol für den Dialog der Religionen. Das Foto verschweigt, dass die Liebfrauenkirche schon lange keine Gemeinde mehr hatte, weil im Mannheimer Jungbusch kaum noch Christen leben. Zudem drohte die neugotische Kirche, 1903 aus minderwertigem Sandstein gebaut, einzustürzen. Das Ende von Liebfrauen war eigentlich schon besiegelt.

Dann kam der Katholikentag nach Mannheim. 2012. Das Erzbistum Freiburg sanierte die Liebfrauenkirche, taufte sie „Samuel“ und erklärte sie zur Jugendkirche für die gesamte Region. Vielleicht darf man in dieser Auferstehung ein Symbol sehen: Die äußere Gestalt der Kirche ist gleich geblieben. Aber ihr Innenleben hat sich komplett verwandelt.

Daniel Kunz war zehn Jahre Jugendpfarrer in Mannheim

„Samuel hat keine Stammgemeinde, die bei jedem Gottesdienst oder zu jeder Veranstaltung da ist“, erklärt Pfarrer Daniel Kunz. Das Zeitalter der festen Verbindlichkeiten ist vorbei. Heute kommen und gehen die jungen Menschen nach ihren eigenen Prinzipien. Und: Sie entscheiden sehr kurzfristig, von Fall zu Fall. „Läuft alles über WhatsApp“, sagt Kunz.

„Wir müssen lernen, den zarten Pflänzchen zu trauen“

Das gilt für ehrenamtliches Engagement generell. „Youngcaritas“ nennt sich ein Projekt in Mannheim, das Jugendlichen und jungen Erwachsenen Angebote macht, wo sie spontan mithelfen können. Heute Nachmittag zwei Stunden Gesellschaftsspiele im Seniorenheim, morgen Klettertraining für Geflüchtete oder Pizza backen mit Obdachlosen. Übermorgen Frühstück für wohnungslose Frauen. Immer nur einige Stunden, ohne Beitrittserklärung, ohne Verpflichtung. Funktioniert gut.

Michael Gerber nickt. „Tatsächlich entstehen im kirchlichen Bereich momentan viele neue Netzwerke, in denen sich Menschen per WhatsApp oder Facebook miteinander verbinden“, beobachtet der 48-Jährige, der vor fünf Jahren zum Weihbischof von Freiburg geweiht worden ist.  Er ist einer der drei jüngsten Bischöfe Deutschlands. Kaum jemand sucht so intensiv nach Aufbrüchen in der katholischen Kirche wie er. „Wir müssen lernen, den kleinen, zarten Pflänzchen zu trauen. In ihnen steckt oft viel Lebenskraft.“

Ein leidenschaftlicher Pilger: Weihbischof Michael Gerber

Längst sind WhatsApp und Facebook nicht mehr nur für die Jungen unverzichtbar. Auch Menschen, die in caritativen oder seelsorgerischen Berufen arbeiten, vernetzen sich miteinander. Um sich Halt und Stabilität zu geben. „Diese Menschen sind psychisch sehr gefordert und fühlen sich oft allein“, berichtet Michael Gerber. „Doch wenn man weiß, dass vierhundert Kilometer weiter jemand an einen denkt, gibt das Kraft.“ Natürlich treffen sich die Mitglieder solcher Netzwerke auch leibhaftig. Drei oder vier Mal im Jahr übers Wochenende.

Firmung auf dem Berg und Beichte im Gehen

Weihbischof Gerber stammt aus dem Schwarzwald. Er ist begeisterter Pilger und Skilangläufer. Wann immer er Zeit hat, zieht er mit Jugendgruppen los, um Gott in der Natur zu entdecken. Im Wald, auf der Wiese, auf dem Berg. „In der Pfingstwoche gehe ich mit Pfadfindern, die sich firmen lassen wollen, einen mehrtägigen Pilgerweg vom Kloster Hegne am Bodensee bis auf den Kandel im Schwarzwald“, freut sich der Weihbischof. Dort oben auf dem Berg steht in 1200 Metern Höhe eine Kapelle. Hier findet die Firmung statt. Die Versöhnungsgespräche werden wahrscheinlich bereits auf dem Weg geführt. Nie beichtet es sich leichter als beim Gehen.

Alles fließt: Die Jugendkirche Samuel
verändert sich jeden Tag

Auch die Mannheimer Jugendkirche ist Anlaufstelle für Firmandengruppen aus der gesamten Rhein-Neckar-Region. Die meisten dieser Jugendlichen zählen nicht zu den regelmäßigen Kirchgängern. In Samuel stört das niemand. Hier darf man ganz von vorn anfangen. Im „Escape-Room“ beispielsweise. Das ist ein etwa dreißig Quadratmeter großer Raum ohne Fenster, aber mit vielen Regalen, in den die Jugendlichen in Gruppen eingeschlossen werden. Eine Stunde haben sie Zeit, um den Schlüssel zu finden, mit dem sie sich aus ihrem Gefängnis befreien können. Dafür müssen Hinweise gedeutet und Bibelrätsel gelöst werden. „Viele von den Firmanden haben im Escape-Room zum ersten Mal eine Bibel in der Hand“, berichtet Daniel Kunz. „Aber es macht ihnen großen Spaß.“

Das gilt seltsamerweise auch für die Versöhnungsabende in Samuel. Zwei Stunden lang durchlaufen die Firmanden einen Parcours mit verschiedenen Stationen, die alle etwas mit Versöhnung zu tun haben. Dann ist es Zeit für einen Besuch beim Pfarrer, der auf einem Schemel in der Jurte hockt. Das Wort „Beichte“ fällt nie, betont Daniel Kunz. „Ich frage immer: Wofür könntest Du den Segen Gottes gebrauchen? Dann sprudelt es aus den Jugendlichen nur so heraus.“

Weihbischof Gerber im Gespräch mit Jugendlichen in Samuel

Die tiefe Sehnsucht nach der Stille

Weihbischof Gerber lädt traditionell an Fronleichnam Jugendgruppen aus der gesamten Diözese zu einer Stern-Pilgerwanderung ins Kloster Hegne am Bodensee. „Letztes Mal kamen über 200 Teilnehmer.“ Der Pilgertag klingt aus mit einer Jugendvigil, die bis in die Nacht hinein dauert. Man betet, singt, wird still. Oder sucht das vertraute Gespräch mit dem Bischof. „Ob das ein Segensgebet ist oder eine Beichte oder irgendetwas dazwischen, entscheiden die Menschen selbst.“

Womit wir bei Taizé wären. Kaum ein anderer Ort zieht junge Menschen so magisch an wie die Communauté im Burgund. Drei Tage, sagen die Brüder, brauche ein Neuankömmling, bis er sich eingestimmt hat auf den Rhythmus von Schweigen, Gesang und Gebet. Danach will er nie wieder weg von Taizé. „Ich glaube, dass in jedem Menschen eine tiefe Sehnsucht wohnt, in der Stille mit seiner Seele in Berührung zu kommen“, sagt Michael Gerber.

Kein Ort zieht Jugendliche so magisch an wie Taizé in Burgund

Der Weihbischof hat vor einiger Zeit ein Experiment gestartet hat: Bei Firmungen, Taufen oder Hochzeiten, wenn viele Menschen im Gottesdienst sind, die keinen Bezug zur Kirche haben, baut er grundsätzlich eine zweiminütige Stille ein. Das klappt. „Plötzlich wird diese plurale Gemeinde absolut still. Es ist faszinierend.“

Der neueste katholische Hype nennt sich „Abenteuerland“

Daniel Kunz wird Samuel bald verlassen. Im Juli übernimmt der 42-Jährige die große Seelsorgeeinheit Maria Magdalena im Mannheimer Norden. Sechs Pfarreien mit rund 18800 Katholiken. Was wird er aus der Freiheit der Jugendkirche hinüberretten in die Hochhausschluchten der Vogelstang und die Neubausiedlungen von Ilvesheim?

Vielleicht die Erfahrung, wie viele verschiedene Wege es gibt, Gott zu begegnen, überlegt Kunz. Er gaube nicht mehr daran, dass es einen Gottesdienst gibt, der für die ganze Gemeinde stimmt. „Die Menschen sind heute nicht weniger religiös als früher. Aber sie möchten Gottesdienste feiern, die zu ihrem Leben passen.“ Weihbischof Michael Gerber nickt. „Genau darin sehe ich die Chance der großen pastoralen Räume. Sie können Vielfalt anbieten.“ Und für einen wirklich profilierten Gottesdienst, weiß Gerber, seien die Leute auch bereit, ein Stück weit zu fahren. Zumal die Jungen, die sowieso immer unterwegs sind.

Pfarrer Kunz wird
Samuel bald verlassen

Und dann erzählt der Weihbischof vom Abenteuerland. Das ist ein Familiengottesdienst, den die Bamberger Ordensschwester Teresa Zukic erfunden hat. In der Erzdiözese Freiburg gibt es schon dreißig oder vierzig Gemeinden, die regelmäßig einmal im Monat solch einen Abenteuerland-Gottesdienst feiern.

Obwohl es eine aufwändige Sache ist. Das Abenteuerland beginnt schon eine halbe Stunde vor dem Gottesdienst im Gemeinderaum oder im Kirchgarten. Für die Kinder gibt es eine Spielstraße, für die Eltern einen Willkommens-Kaffee. Dann zieht man gemeinsam ein in die Kirche, wo die Band schon das Eröffnungslied anstimmt.

Einst sprudelte der Geist frei und ungehindert aus dem Boden heraus

Nach dem Evangelium verlassen die Kinder den Gottesdienst. Aufgeteilt in Altergruppen und angeleitet von eine Kindergottesdienstteam, dürfen sie spielen, basteln, singen oder malen. „Die Erwachsenen bekommen in dieser Zeit eine richtig gute Predigt und eine konzentrierte Eucharistiefeier.“ Erst gegen Ende des Gottesdienstes stoßen die Kinder wieder zur Gemeinde. Meist isst man dann auch noch gemeinsam zu Mittag.

Jugendlichen entscheiden sehr spontan.
Alles läuft über WhatsApp

„Es braucht einen enorm langen Vorlauf, um so einen Abenteuerland-Gottesdienst einzuführen“, weiß Weihbischof Michael Gerber. Und es braucht fast dreißig bis vierzig engagierte Helfer, um ihn zu gestalten. Aber die Sache lohnt sich, sagt Gerber. „Da sind plötzlich hundert bis zweihundert Kinder und Eltern in der Kirche. Alles Familien, die vorher nie oder sehr selten da waren.“

Der Heilige Geist sprudelte einst frei und ungehindert aus dem Boden heraus, sagt Daniel Kunz. Dann haben die Menschen das Wasser des Lebens eingefangen in einem ordentlichen Brunnen, und Mauern darum gebaut. Irgendwann tröpfelte der Heilige Geist nur noch. Dann war er versiegt. Hier, an diesem Ort. Irgendwo anders sprudelt er noch. Frei und ungehindert aus dem Boden heraus. „Wir sollten uns schnellstens auf die Suche machen.“

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