Ein Vorgeschmack aufs Paradies

„Das Paradiesgärtlein“ von 1410
hängt im Frankfurter Städel

Das beste Rezept gegen hartnäckige Bauchschmerzen? Fünf Scheiben Rettich in Honig und Aloe einweichen, in ein Leinentuch wickeln und auf den Bauchnabel binden. Hilft garantiert. So wie die Wurzel der jungen Brennessel bei Zahnweh. Das zumindet behauptet das „Lorscher Arzneibuch“ von 785.

Es ist das älteste Klosterheilbuch der Welt und wieder hochaktuell. Der Kräutergarten des Klosters Lorsch nämlich wurde neu angelegt. Jetzt wachsen hier wieder mehr als 200 Heilpflanzen, die das uralte Arzneibuch empfiehlt. Ein Streifzug durch historische Kirchengärten in der Region.

„In einem Klostergarten kann man den ursprünglichen Einklang zwischen Gott, seiner Schöpfung und dem Menschen erahnen.“

Die Geschichte der Menschheit begann in einem Garten. Adam und Eva lebten umgeben von Sonne, Blumen und Bäumen. Doch das Paradies ging verloren, und der Garten wurde zur Ursehnsucht des Menschen. „In einem Klostergarten kann man noch etwas erahnen vom ursprünglichen Einklang zwischen Gott, seiner Schöpfung und den Menschen“, schreibt Pater Anselm Grün von der Abtei Münsterschwarzach.

Die Einhards-Basilika des
Klosters Lorsch ist Weltkulturerbe
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Bettina Walter ist Biologin und Mitglied in der „Kräutergarten AG“ des Klosters Lorsch. In unermüdlicher Arbeit haben die ehrenamtlichen Gärtner den Apothekengarten der ehemaligen Benediktinerabtei neu angelegt. Direkt hinter der Zehntscheuer. „Jede Pflanze, die im Lorscher Arzneibuch eine Rolle spielt, soll hier ihren Lebensraum erhalten“, sagt Walter. Was nicht einfach ist. Denn die Welt hat sich verändert. „Vor 1235 lag Lorsch inmitten von Sanddünen“, erzählt Bettina Walter. „Das war magerer Boden, wie Wildkräuter ihn schätzen.“

Heute jedoch stehen die Königshalle und die Nazarius-Basilika auf saftigem Rasen. Optisch tut das dem Weltkulturerbe gut. Wie Edelsteine ruhen die karolingischen Schönheiten auf samtigen Untergrund. Ein Kräutergarten jedoch gedeiht in diesem Ambiente nicht. Weshalb die neuen Beete etwas abseits liegen. Am Fuß der letzten verbliebenen Sanddüne. Spittelsberg nennen die Lorscher den Hügel. „Vielleicht hat ja hier früher das Spital des Klosters gestanden“, hofft Bettina Walter. Das wäre der Volltreffer. Denn in diesem Spital wurde das berühmteste Arzneibuch der Welt verfasst. Hinter fest verschlossenen Türen.

Das Christentums vernichtete das gesamte Heilwissen der Antike.

Der neue Heilkräutergarten
von Kloster Lorsch
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Der Siegeszug des Christentums in Mitteleuropa begann an Weihnachten 498. Mit der Taufe des Merowingerkönigs Chlodwig im Dom von Reims. Nur wenige Jahre später hatten die Franken das gesamte Wissen der Antike vernichtet. Im Namen des neuen Glaubens. Die Medizin galt nun als Gotteslästerung. Kein Mensch dürfe sich erdreisten, in den Heilsplan Gottes einzugreifen. Selbst die Herstellung von Arzneimitteln wurde unter Strafe gestellt.

Erst Karl der Große hat – Jahrhunderte später – die medizinische Forschung wieder aufgenommen. Weil es die christliche Nächstenliebe gebiete, kranken Menschen zu helfen. Diese Erklärung steht wörtlich auch im Lorscher Arzneibuch. Seit 2013 zählt es zum Weltdokumentenerbe.

Insgesamt 482 Rezepte haben die Benediktiner gesammelt. „Die meisten Heilpflanzen, die man für ihre Herstellung braucht, wachsen heute wieder in unseren Beeten“, freut sich Bettina Walter. Da sind der Alant und die Eberraute, die nach Cola riecht. Der Andorn und das Johanniskraut, die Artischocke oder die Schwertlilie. Und viele, viele mehr. „Bei jeder Pflanze steckt die Heilkraft woanders“, erklärt Walter. „In der Wurzel, den Blättern oder in den Blüten. Manchmal auch in den Samen.“

Königskerzen helfen
bei Husten und Heiserkeit
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Sehr alte Kirchengärten sind Kraftorte. Sie stärken und ermutigen.

Das Wort „Paradies“ stammt aus dem Alt-Iranischen und meint „Umzäumung“. „Chortos“, von dem sich unser „Garten“ ableitet, ist indogermanisch und bezeichnet einen umfriedeten, behütenden Ort. Sehr alte Kirchengärten jedoch können noch mehr: Sie sind Kraftorte, die stärken und ermutigen. Dafür sorgt schon allein der Standort der Gotteshäuser. Unsere Vorfahren haben ihn sehr viel sorgfälltiger ausgewählt als wir das heute tun.

Die alte Kirche St. Dionys in Bammental beispielsweise steht exakt auf der Grenze zwischen dem Odenwald und dem Kraichgau. „Dort, wo der Bundsandstein unter den Kalkstein taucht“, formuliert Ulrich Bastian, der Vorstand des Bammentaler Duft- und Heilkräutergartens. Seit 2002 umrahmt der Naturgarten den Turm der alten Kirche, dessen Untergeschoss aus dem 13. Jahrhundert stammt. Es stand aber auch schon in Merowingischer Zeit hier ein Kirchlein.

Der Alte Kirchturm wacht seit dem
13. Jahrhundert über Bammental
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Bis 1980 behütete der Alte Kirchturm den Friedhof von Bammental und Reilsheim. Dann gab es den neuen Waldfriedhof, und das Gelände um die alte Kirche verödete. Bis eine Gruppe von zwölf Naturfreunden die Sache in die Hand nahm und rund um den Turm ein kleines, urwüchsige Paradies schuf. Für jeden jederzeit frei zugänglich. Der Anfang war Knochenarbeit, erinnert sich Ulrich Bastian. Steine schleppen, Trockenmauern bauen, hacken, jäten. Doch dann gewann man einen Naturschutzpreis, erhielt Zuschüsse von der Gemeinde und von Stiftungen.

Jedes Beet hat ein anderes Motto: Biblischer Garten, Duftgarten, Bauerngarten oder Wassergarten.

Heute ist der Garten an der Alten Kirche ein Dorado. Für Naturliebhaber wie für Stillesucher. 400 verschiedene Pflanzenarten gedeihen hier, 536 Tierarten haben sich angesiedelt. Viele von ihnen sind von Aussterben bedroht. „In den Trockenmauern brüten Eidechsen, Schlangen, Insekten, Spinnen und Vögel“, freut sich Bastian. Jetzt im Spätsommer sieht der Garten recht wild aus. Das sei aber gewollt, betont Naturschützer Bastian. „Wir lassen die Pflanzen lange stehen, damit sie sich aussamen können und Larven darin Unterschlupf finden.“

Ulrich Bastian liebt die „Wildniss“
des Gartens am Alten Kirchturm.

Sieht man genauer hin, dann erkennt man die streng-strukturierte Aufteilung des Naturgartens, die der eines Klostergartens in nichts nachsteht. Es gibt umgrenzte Parzellen, die von „Paten“ betreut werden. Jedes Beet hat ein anderes Motto: Bauerngarten, Duftgarten, Biblischer Garten, Rosengarten oder Wassergarten. Immer mal wieder werde eine Parzelle frei, sagt Ulrich Bastian. „Neue Gärtner sind willkommen.“

Im 13. Jahrhundert veränderten sich die Klostergärten. Die Orden arbeiteten nun nicht mehr selbst darin, sondern engagierten bezahlte Hilfskräfte. Damit sich die Mönche und Schwestern ganz dem Gebet widmen konnten. Zugleich schwand die Kargheit der Beete. Blumen hielten Einzug. Das war die Geburtsstunde des Kirchenschmucks.

Der Kraichgau ist eine meditative Landschaft. Hügel folgt auf Hügel. So verlässlich wie das Stundengebet der Orden.

Den Chor zieren
allerfeinste Fresken.

Kloster Lobenfeld liegt im Kraichgau, der vielleicht meditativsten Landschaft Deutschlands. In sanften Wellen folgt Hügel auf Hügel, so ruhig und verlässlich wie das Stundengebet der Orden. Das romanische Kloster wurde ursprünglich für Augustinerchorherren gebaut, doch ab 1250 übernahmen es die Zisterzienserinnen. Was für die Schwestern wahrscheinlich ein Glücksfall war. Die Lobenfelder Klosterkirche ist ausgemalt mit Fresken von allerhöchster Qualität. Ein Frauenkloster hätte man nicht so kostbar ausgestattet.

Die Reformation hat dem zarten Kloster übel mitgespielt. Es darbte als Schafstall, Getreidespeicher und Tabakscheune. Erst 2006 konnte das romanische Kleinod gerettet werden. Die Sanierung ist ein Meisterwerk. Sie versteckt die Wunden des Raumes nicht, sondern konserviert sie unter Glas, wodurch sie nicht mehr schmerzen. Heute ist Kloster Lobenfeld das „Geistliche Zentrum“ des evangelischen Kirchenbezirks Neckargemünd-Eberbach. Seit einigen Jahren gibt es auch wieder einen kleinen, feinen Klostergarten. Er ist eine Neuschöpfung. Weil niemand weiß, wie der Lobenfelder Garten ursprünglich ausgesehen hat.

„Dieses Kloster ist ein Ort, an dem man erstaunlich schnell zur Ruhe kommt.“

Kloster Lobenfeld darbte als
Getreidespeicher und Tabakscheune.

„Dieses Kloster ist ein Ort, an dem man erstaunlich schnell zur Ruhe kommt“, beobachtet Pfarrerin Michaela Deichl, die Leiterin des Geistlichen Zentrums. „Vielleicht weil die uralten Kirchenmauern die Gebete, den Zweifel und die Klagen all der Menschen bergen, die uns vorausgegangen sind.“ Das gebe Geborgenheit und helfe bei der Suche nach eigenen Antworten, findet Deichl.

Der federleichte Klostergarten bietet dazu den perfekten Kontrast: Viel Luft, viel Duft und hunderte von Farben. Der mittelalterliche Klostergarten, überlegt Michaela Deichl, lieferte ja nicht nur Nahrung und Heilung, er war auch ein Ort der Gottesbegegnung. Diese Funktion soll im Kloster Lobenfeld in den Vordergrund rücken.

„Unser Klostergarten ist jung. Aber die Pflanzen, die in ihm wachsen, haben den Menschen schon seit Jahrhunderten gut getan“, überlegt Pfarrerin Deichl. Eine perfekte Kombination, um Menschen zu ihren Wurzeln zu führen. Woher komme ich? Wer waren meine Vorfahren? Was haben sie mir hinterlassen?

Pfarrerin Michaela Deichl ist
die Leiterin des Geistlichen Zentrums
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„Der Garten erinnert daran, dass es etwas gibt, das schon immer da war, und das immer weitergeht“, definiert Deichl. Hochzeitspaare wissen das zu schätzen. Sie heiraten gern in dem kleinen Pavillon im Lobenfelder Klostergarten.

Vielleicht spüren sie aber auch, dass das Kloster und seinen Garten „etwas Geheimnisvolles“ umgibt, sinniert Michaela Deichl. „Manchmal passieren hier Dinge, bei denen ich das Gefühl habe, Gott spricht zu mir.“ Andere Menschen hätten Ähnliches berichtet. „Ein Klostergarten ist immer zuerst ein Ort für die Seele“, lächelt die Pfarrerin. Erst danach kommen Rettiche und Brennnessel. „Dieser Garten lehrt uns zu sehen, was Gott uns schenkt.“

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