Marias Weg

Ihr „Ja“ machte Maria zur berühmtesten Frau der Welt

Maria rennt. Es geht steil den Hügel hinauf. Sie stolpert über Steine und kratzt sich an Disteln, doch das bemerkt sie gar nicht. Warum hat sie bloß Ja gesagt? Sie hätte sich vom Engel doch Bedenkzeit erbitten können. Um mit jemandem zu reden über seine Botschaft. Mit Josef. Oder mit der Mutter.

Aber nein, sie hat gleich zugestimmt. Und jetzt ist sie „guter Hoffnung“. Wie man so schön sagt. Mit dem Sohn Gottes. Wer soll ihr diese Geschichte nur glauben? Am ehesten Elisabeth, die Cousine, sehr viel älter als Maria und auch schwanger. Da steht sie schon und lächelt. Als ob sie genau wüsste, dass Maria dieses allererste Weihnachtsfest schon schaffen wird. Irgendwie. Und sei es in einem Stall.

Echte Fakten gibt es kaum über die berühmteste aller Frauen

Ihr Name ist der beliebteste Vorname der Welt. Früher haben ihn sogar Männer getragen. Maria wurde millionenmal gemalt, modelliert und besungen. Doch echte Fakten gibt es kaum über die berühmteste aller Frauen. Marias Herkunft bleibt dunkel, in den Evangelien kommt sie wenig zu Wort. Aber wenn sie etwas sagt, dann hat es Format.

Der Engel Gabriel zerlegte
Marias Leben komplett

Das apokryphe Jakobusevangelium erzählt die mysteriöse Geschichte von Anna und Joachim. Sie Hausfrau, er Hirte. Weil beide unablässig beten, bekommen sie im hohen Alter doch noch ein Kind: Maria. Zum Dank für dieses späte Glück bringen sie das Töchterchen mit drei Jahren in den Tempel, wo Maria fortan als gottgeweihte Jungfrau lebt. In den offiziellen Kanon der Evangelien hat es die blumige Erzählung des Jakobus nie geschafft. Nur die Namen der Eltern sind haften geblieben. Anna, die Großmutter Gottes, ist bis heute eine der beliebtesten Heiligen.

Offiziell biblisch begegnen wir Maria im Städtchen Nazareth in Galiäa. Wie alt sie da sein mag? 15? 17? Sicher nicht älter. Und sie ist verlobt. „Mit einem Mann namens Josef“, der wie sie selbst „aus dem Hause Davids“ stammt. Das klingt nach redlichem Mittelstand. Beide respektable Partien, beide nicht reich. Er arbeitet als Zimmermann, „Tekton“ steht im griechischen Urtext. Mit diesem Wort werden sämtliche Berufe aus der Baubranche bezeichnet. Ob Josef nun Maurer, Tischler oder Architekt war, wissen wir nicht. Ist auch nicht wichtig, denn jetzt kommt schon der Engel. Und alles wird anders.

Maria und Elisabeth:
Gespräche von Frau zu Frau

Gabriel ist hebräisch und bedeutet. Die Kraft Gottes

„Gabriel ist hebräisch und bedeutet: Die Kraft Gottes“, erklärt Imke Diepen, die evangelische Pfarrerin der Heidelberger Altstadt. „Dieser Kraft, kann sich niemand widersetzen.“ Weshalb die ersten Worte eines Engels auch grundsätzlich lauten: Fürchte dich nicht. „Danach zerlegt er komplett unsere Lebensumstände“, sagt Diepen.

Aus Maria von Nazareth, der Zimmermanns-Braut, wird innerhalb eines Engelwimpernschlags eine ledige Schwangere, die den „Sohn des Höchsten“ trägt. Wie es ihr damit geht? Schwer zu sagen. Äußerlich bleibt Maria völlig ruhig. Keine Ohnmacht, kein hysterischer Wortschwall, noch nicht einmal ein Seufzer. Maria erkundigt sich lediglich nach den genauen Details der Empfängnis. Dann ist sie einverstanden. „Engel“, weiß Pfarrerin Diepen, „sensibilisieren uns, den richtigen Weg zu gehen. Sie sind Gottes Führung in der Geschichte.“

Doch Vorsicht: Marias äußere Ruhe täuscht. Als Gabriel gegangen ist, gesellt sie sich nicht wieder zu den anderen Frauen am Herd. Stattdessen „eilt sie in eine Stadt im Bergland“, berichtet Evangelist Lukas. Maria rennt. „Sie musste ja erst einmal kapieren, was ihr passiert ist“, überlegt Imke Diepen. „Das ist ein Prozess, ein Weg der durch Höhen und Tiefen führt.“

Imke Diepen: Pfarrerin
in der Heidelberger Altstadt

„Maria war in Panik. Wenn man innerlich aufgewühlt ist, hilft Laufen immer.“

Martina Reiser ist katholische Seelsorgerin an der Heidelberger Kinder- und an der Frauenklinik. Sie kennt sich aus mit werdenden Müttern. „Maria war in Panik“, diagnostiziert Reiser. „Wenn man innerlich so aufgewühlt ist, hilft Laufen immer.“ Weil der Kopf entlastet wird. „Und wenn der Weg so anstrengend ist, dass man nicht mehr denken kann, tut das auch gut.“

Martina Reiser kann verstehen, dass Maria ausgerechnet zu Elisabeth läuft. “Zwei schwangere Frauen, für die es eigentlich unmöglich ist, schwanger zu sein, kommen sofort ins Gespräch.“ Imke Diepen lächelt. Sie ist auch zu ihrer Cousine nach Berlin gefahren, als sie zum ersten Mal schwanger war. „Es ist wirklich hilfreich, von Frau zu Frau zu reden.“

Martina Reiser: Katholische
Klinikseelsorgerin in Heidelberg

Diese Erfahrung macht auch Maria. Kaum bei Elisabeth angekommen, sprudeln die Worte nur so aus ihr heraus. Wie ein Geysir. Oder mehr noch: Wie ein Vulkanausbruch. „Meine Seele preist die Größe des Herrn“, ruft sie. „Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen.“ Das ist nicht mehr die brave Mädchen aus Nazareth. Das ist Aufruhr. Grundstürzend. Dietrich Bonhoeffer hat das „Magnificat“ Mariens „das revolutionärste Adventslied“ genannt, das je gesungen wurde.

„Tatsächlich verkörpert Maria das revolutionäre Potenzial der Kirche“

„Tatsächlich verkörpert Maria das revolutionäre Potenzial der Kirche“, nickt Imke Diepen. In den armen Ländern der Welt sei das „Magnificat“ der bekannteste Text der Bibel. Weil er Menschen Mut macht, ihre Biographien nicht als unveränderliches Schicksal hinzunehmen. „Jesus ja gezeigt, dass jede scheinbare Wahrheit umgekehrt werden kann. Sogar das Verhältnis von Tod und Leben hat er auf den Kopf gestellt“, sagt Diepen. „Auf diese transformierende Kraft Gottes kann man sich immer verlassen.“

Weihnachtsfenster in
St. Johannes, Leutershausen

Eigentlich sei jede Geburt eine Revolution, findet Imke Diepen. „Das Leben der Eltern verändert sich durch ein Kind vollkommen. Es wird nie wieder so sein wie zuvor“, stimmt Martina Reiser, die katholische Klinikseelsorgerin, zu. Maria habe wohl erst oben auf dem Berg bei Elisabeth geahnt, welche umstürzende Wirkung dieses Kind auf ihr Leben haben würde. Trotzdem fehlt von Angst jede Spur, da ist nur Euphorie. „Eine sehr starke Frau“, meint Reiser. Drei Monate bleibt Maria in ihrem Exil bei Elisabeth. Dann steigt sie wieder hinab in die Welt.

Josef empfängt sie mit offenen Armen. Auch er ist inzwischen geläutert durch die Begegnung mit einem Engel. Usprünglich nämlich hatte der Zimmermann beschlossen, „sich in aller Stille von Maria zu trennen“. Was natürlich nicht im Sinne des Erfinders war. Deshalb Gabriel. „Engel greifen immer ein, wenn Leute etwas nicht kapieren“, nickt Imke Diepen. Im Traum berichtete der Engel dem Josef, was wirklich geschehen ist. Josef glaubt und verspricht, Maria und das Kind zu beschützen. „Ohne diesen gesellschaftlichen Rahmen hätte die Schwangere im Orient keine Chance gehabt“, meint Pfarrerin Diepen. „Aber ich glaube, die Beiden haben sich auch wirklich geliebt.“

Fenster in Heidelbergs
Evangelischer Kapelle

Vielleicht war der Stall gar nicht so verkehrt. Besser jedenfalls als die überfüllte Herberge.

Imke Diepen findet den Stall als Geburtsort gar nicht so verkehrt. Besser jedenfalls als eine laute, völlig überfüllte Herberge. „Der Stall bot Maria und Josef einen privaten Rahmen, abgeschottet von der Außenwelt“, meint Diepen. Das seien ideale Bedingungen, damit der Geburtsprozess in Gang kommen kann. „Maria wird durch nichts abgelenkt, sie kann sich ganz auf die Geburt ihres Kindes konzentrieren.“ Hausgeburten seien ja früher das Normalste der Welt gewesen. „Die Frauen haben ihren Kindern immer allein die Nabelschnur durchgeschnitten.“

Mit den traditionellen Krippendarstellungen habe sie sich ihr Leben lang schwer getan, gesteht Martina Reiser, die Klinikseelsorgerin. „Da kniet Maria neben der Krippe und betet das Jesuskind an, während Josef unbeteiligt daneben steht.“ So viel Distanz, nachdem man gerade zusammen ein Kind zur Welt gebracht hat. „Das hat für mich nie gepasst“, sagt Reiser.

Dann steht sie auf, geht zum Schrank und holt ein Kästchen hervor. Darin: Eine kleine Krippe. Eine Schwester der „Sœurs de Bethléem“ hat sie entworfen. Man sieht: Josef als bildhübschen, blutjungen Kerl, der auf dem Boden hockt und verliebt seine bildhübsche, blutjunge Frau anlächelt. Maria, die sich mit dem göttlichen Bündelchen hingelegt hat, schaut ebenso verliebt zurück. „Die beiden sind ganz bei sich und ganz beieinander. Das ist für mich Weihnachten“, sagt Martina Reiser. „Der Moment, in dem sich Himmel und Erde verbinden.“

Eine Geburt macht die Eltern extrem verletzlich. Ihr Herz steht ungeschützt weit offen.

Die Krippe von St. Anna
in Heidelberg

Aber auch der Moment, in dem Eltern am verletzlichsten sind. An dem das Herz völlig ungeschützt weit offen steht. „Auch wenn heutzutage nur noch die Wenigsten eine Geburt mit Gott in Verbindung bringen, spüren sie doch mit jeder Faser: Hier geschieht etwas Großartiges, etwas Wunderbares“, erzählt die Klinikseelsorgerin. Selbst Eltern, die wissen, dass ihr Kind nicht lange leben wird oder gar tot zur Welt kommt, erlebten die Stunden nach der Geburt als fast so etwas wie eine glückliche Zeit. „Sie berichten von einer großen Ruhe. Von Stolz und Freude darüber, dass dieses Kind bei ihnen war, wenn auch nur für kurze Zeit.“

Die Mutter mit ihrem toten Kind im Arm. Die Pietà. Dreißig Jahre später, am Karfreitag. Völlig selbstverständlich harrt Maria aus unter dem Kreuz, an dem ihr Sohn stirbt. Josef steht nicht neben ihr. „Das ist unsere alte Sehnsucht, dass man als Paar alles Schwere gemeinsam aushält“, nickt Martina Reiser. „Aber in der Realität geschieht dies nicht immer.“

Man wird das alles schon schaffen. Irgendwie. Zur Not mit Hilfe eines Engels.

Maria und Kind in der
Heidelberger Jesuitenkirche

Es gebe auch Menschen, die das Schwere nicht aushalten könnten. Und solche, die so schwer an ihrer eigenen Trauer trügen, dass sie nicht auch noch die Trauer des Partners auf sich nehmen könnten. „Deshalb finde ich es gut, dass die heilige Familie nicht unterm Kreuz versammelt ist“, sagt die Klinikseelsorgerin. „Dafür sind andere Menschen da, die mit Maria aushalten.“

Doch so weit sind wir noch nicht. Jetzt ist erst einmal Weihnachten. Maria und Josef sitzen im Stall und lächeln einander an. Zufrieden, glücklich, verliebt, hingerissen. Und plötzlich muss Maria an jenes andere Lächeln denken, neun Monate zuvor. Das Lächeln der Elisabeth. Und an ihre feste Zuversicht, dass man das alles schon schaffen wird. Irgendwie. Zur Not mit Hilfe eines Engels.

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