Eiszeit im Stall

Ein Weihnachtsausflug nach Bethlehem. In Zeiten der Kälte.

Da sitzen sie nun, Maria und Josef. Dicht beieinander auf einem mageren Rest alten Strohs. Erschöpft, verstört, durchfroren. Er trägt zwei Jacken übereinander, sie hat sich vier Tücher um die Schultern gewickelt. Doch das Zittern will nicht aufhören. Vielleicht, weil die Kälte im Laufe der Nacht immer unerbittlicher durch die Ritzen des Bretterverschlags kriecht. Vielleicht aber auch, weil die Angst und die Anspannung der letzten Tage einfach zu viel war.

Doch das Allerwichtigste ist ja jetzt geschafft: Das göttliche Bündelchen gluckst zufrieden im Arm seiner Mutter. Wen kümmern da noch der eisige Wind? Oder die Frage, wie es jetzt weitergehen soll. Ein Weihnachtsausflug nach Bethlehem. In Zeiten der Kälte. 

Etwa 150 Kilometer sind es von Nazareth nach Bethlehem – Maria und Josef gingen zu Fuß.

Es war ein langer Weg. Und ein beschwerlicher. Etwa 150 Kilometer liegen zwischen Nazareth und Bethlehem. Das ist so weit wie von Heidelberg nach Ulm, wobei Maria und Josef noch 800 Meter ins Gebirge hinaufsteigen mussten. Mindestens fünfzehn, wahrscheinlich eher zwanzig Tage Fußmarsch wird Josef dafür wohl einkalkuliert haben.

Wenn man sich ausgeschlossen fühlt, friert man deutlich schneller.

Für die hochschwangere Maria muss das eine Unendlichkeit gewesen sein. Wie oft mag sie sich niedergesetzt und heimlich gestöhnt haben in diesen langen Stunden der Wanderschaft? Mit ihrem schweren Leib, der sich auf dem Esel ebenso unwohl gefühlt hat wie auf den geschwollenen Füßen. 

„Eine Schwangerschaft birgt immer Gefahren. Für das Baby wie für die Mutter.“

Und dann noch die Angst um das göttliche Kind. „Eine Schwangerschaft birgt ja immer Gefahren. Für das Baby wie für die Mutter“, überlegt Monika Boschert, Pastoralreferentin in der Seelsorgeeinheit Walldorf-St.Leon-Rot. Aber das Risiko, dem sich Maria mit dieser Wanderung ausgesetzt hat, sei schon außergewöhnlich hoch gewesen. „Ich an ihrer Stelle hätte mich permanent angespannt gefühlt.“ 

Christiane Glöckner-Lang, die Dekanin des Kirchenbezirks Kraichgau, nickt. Sie auch. Aber Maria und Josef hätten ja keine Wahl gehabt. Sie mussten nach Bethlehem gehen. Weil der römische Kaiser Augustus die Volkszählung befohlen hatte. „Wäre Josef nicht fristgerecht in seiner Heimatstadt angekommen, hätte ihm sicherlich eine Haftstrafe gedroht.“ Und auf schwangere Frauen habe die Politik noch nie Rücksicht genommen, bedauert Christiane Glöckner-Lang. „Das sehen wir jetzt wieder in der Ukraine.“

Monika Boschert ist Pastoralreferentin in der Seelsorgeeinheit Walldorf-St.Leon-Rot.

Womöglich haben schon im Gebirge die Wehen eingesetzt. Das heilige Paar im Panikmodus.

Vielleicht hat sich die Situation ursprünglich auch gar nicht so dramatisch dargestellt. Vielleicht hatte Maria rein rechnerisch noch Zeit genug bis zu ihrer Niederkunft, um problemlos nach Bethlehem und zurück zu reisen. Schließlich war das Pärchen jung und fit. Maria 16 oder 17, sicher noch keine 18 Jahre alt. Josef vielleicht 25 oder 26.

Woher soll ein so junges Paar wissen, dass solch ein „wahnsinniger Erschöpfungsmarsch“ (Glöckner-Lang) die Geburt beschleunigen kann. Wie das jede Form von extremem Stress tut. In der Ukraine beispielsweise ist seit Kriegsausbruch die Zahl der Frühgeburten dramatisch angestiegen. Womöglich haben bei Maria schon im Gebirge die Wehen eingesetzt. Das heilige Paar im Panikmodus.

In der Nacht sinkt das Thermometer in Bethlehem oft bis in den einstelligen Bereich. Weil die Stadt so hoch liegt.

Angst legt sich wie eine Eisschicht über die Seele.

„Es muss ein ungeheuer Druck auf Josef gelastet haben, als sie endlich in Bethlehem angekommen sind“, vermutet Pastoralreferentin Monika Boschert aus St.Leon. „Das Kind kam, es begann kalt zu werden und Josef musste so schnell wie möglich ein Zimmer und eine Hebamme finden.“ Etwa 15 Grad beträgt die Durchschnittstemperatur in Bethlehem im Dezember. Am Tag. Doch in der Nacht sinkt das Thermometer oft bis in den einstelligen Bereich. Weil die Stadt so hoch liegt. 

Und man darf die Angst nicht vergessen, die sich wie eine dicke Eisschicht um die Seele legen kann. Ganz gleich, welche Temperatur draußen herrscht. Wenn man sich fürchtet, beginnt man manchmal sogar unkontrolliert zu zittern. Der Weg von Maria und Josef nach Bethlehem glich einem „Spannungsbogen der Not“, der sich von Minute zu Minute steigerte, findet Monika Boschert. Bis er bei Einbruch der Dunkelheit seinen dramatischen Höhepunkt erreichte: Bethlehem war komplett voll! Kein Platz, kein Zimmer, kein Bett, nirgends. Was nun?   

„Die Erfahrung, dass keine einzige Tür offen steht, ist wahrscheinlich die härteste, die einem Menschen zustoßen kann.“

„Die Erfahrung, dass keine einzige Tür offen steht, ist wahrscheinlich die härteste, die einem Menschen zustoßen kann“, überlegt Christiane Glöckner-Lang. Niemand öffnete für Maria und Josef, niemand stellte ihnen auch nur eine Kammer zur Verfügung. Dabei krümmte sich die junge Frau bereits vor Schmerz. Mehr soziale Kälte geht nicht. „Das muss ein Gefühl von totaler Isolation gewesen sein“, meint die Sinsheimer Dekanin. „Ein Verzweiflungszustand.“ 

Christiane Glöckner-Lang ist Dekanin des evangelischen Kirchenbezirks Kraichgau.

Wobei man den Wirtsleuten und Hoteliers von Bethlehem eigentlich keinen Vorwurf machen könne, findet Monika Boschert. Es war schließlich Volkszählung und wahrscheinlich wirklich alles komplett ausgebucht. Aus solch einer ausweglosen Situation könne man sich nur retten, indem man die Fragestellung ändert. Josef scheint das gemerkt zu haben. Denn plötzlich suchte er nicht mehr nach einem Zimmer. Er fragte jetzt nur noch nach irgendeiner Möglichkeit, wo er mit seiner Frau für die Nacht unterkommen könnte. Und tatsächlich bot man ihnen in ihrer Not zumindest einen Stall an.

„Ich glaube nicht, dass sich der Stall draußen auf dem freien Feld befand, wie uns das die Weihnachtskrippen suggerieren.“

Wer sich fürchtet, beginnt unkontrolliert zu zittern.

„Ich glaube nicht, dass sich der Stall draußen auf dem freien Feld befand, wie uns das die Weihnachtskrippen suggerieren“, überlegt Christiane Glöckner-Lang. Und auch Monika Boschert stellt sich eher einen Anbau an einem Haus oder ein Untergeschoss mitten in Bethlehem vor. „Früher haben die Menschen ja oft mit ihren Tiere zusammengelebt. Unten schliefen die Kühe, oben die Menschen.“ Das machte warm und sparte Heizkosten. Dekanin Glöckner-Lang ist sogar fest davon überzeugt, dass das heilige Pärchen in seinem Stall auch Tiere angetroffen hat.

Aber viel Zeit, sich über ihre Situation Gedanken zu machen blieb Maria und Josef sowieso nicht mehr. Die Wehen kamen in immer kürzeren Abständen, die werdende Mutter wollte sich nur noch eins: Sich endlich niederlegen. Zur Not sogar auf das alte Stroh am Boden.

Vielleicht war Josef so überfordert, dass er noch einmal losgegangen ist, um Hilfe zu holen.

„Für Josef war die Situation komplexer“, vermutet Pastoralreferentin Boschert. Er hatte keine Ahnung, was er tun sollte, wenn das Kind kommt. Es gab kein warmes Wasser, viel zu wenig Decken und die Sache mit der Vaterschaft war für ihn auch noch nicht befriedigend geklärt. „Josef hat wahrscheinlich eher gewusst, was sein Esel braucht, als was seine gebärende Frau braucht“, meint Monika Boschert.

Dass sich der Stall weit draußen auf dem Feld befand, glaubt niemand.

Sie kann sich sogar vorstellen, dass Josef so überfordert war, dass er noch einmal losgegangen ist, um Hilfe zu holen. Und womöglich hat er sogar jemanden gefunden, der mitgekommen ist und geholfen hat. Die Wirtin? Eine Nachbarin? 

Welch ein Gedanke! Maria krümmt sich mutterseelenallein auf dem Boden im Stall. Und Josef irrt panisch durch Bethlehem auf der Suche nach Hilfe. Der Weihnachts-Albtraum.

Vielleicht hat das Paar aber auch felsenfest darauf vertraut, dass Gott sie durch diese Situation hindurch führt.

Schon bei der Vorstellung bekommt man kalte Füße und taube Fingerspitzen. Ein Forscher-Team der Universität von Toronto in Kanada beispielsweise hat in einer Versuchsreihe nachgewiesen, dass Menschen, die sich von einer Gruppe ausgeschlossen fühlen, einen Raum als sehr viel kälter empfinden als solche, die sich angenommen wissen. Unsere Sprache weiß das auch. Wir sagen, dass wir jemanden „kaltstellen“, ihm „eisig begegnen“ oder ihm „die kalte Schulter zeigen.“ 

Wer sich ausgeschlossen fühlt, empfindet die Temperatur deutlich kälter.

Christiane Glöckner-Lang geht dieser Gedankengang zu weit. Vielleicht, sagt sie, war es bei Maria und Josef genau umgekehrt. „Vielleicht haben diese Beiden felsenfest darauf vertraut, dass Gott sie sicher durch diese Situation hindurch führt. Egal wie schlimm es kommen mag.“ Schließlich hätten sowohl Maria als auch Josef direkten Kontakt mit einem Engel gehabt. Das präge fürs ganze Leben. Glöckner-Lang: „Ich glaube, dass Menschen, die an der Verheißung Gottes festhalten, von ihm durch alles Elend hindurchgeführt werden.“

„Gott wollte mit der Geburt seines Sohnes ein Gegenprogramm schaffen zu all den Heldengestalten.“

Stellt sich natürlich die Frage, warum Gott es dem heiligen Pärchen so furchtbar schwer gemacht hat, das Jesuskind zur Welt zu bringen. All der Schmutz. All die Kälte. All die Angst. Musste das sein? „Ich denke, Gott wollte mit der Geburt seines Sohnes ein Gegenprogramm schaffen zu all den Heldengestalten, die die Menschen so gern anhimmeln“, sagt Christiane Glöckner-Lang.

Ein Gegenprogramm zu all den Reichen und Berühmten, die in Palästen und im Luxus lebten, die Geld hätten und sich bei Bedrohung mit Waffengewalt wehren könnten. „Gottes Sohn hingegen“, lächelt die Dekanin, „kam in einem Stall zur Welt. Dort, wo es am allerdunkelsten, am allerschmutzigsten, am allerschwierigsten, am allerärmsten und am allerkältesten ist. Das ist die Botschaft von Weihnachten.“ 

Plötzlich springt die Stalltür auf und ein Trupp zottiger Gestalten steht im Stall. Und alles ist anders.

Später werden die Könige das Kind in Gold aufwiegen.

Da sitzen sie nun, Maria und Josef. Dicht beieinander auf einem mageren Rest alten Strohs. Erschöpft, verstört, durchfroren. Er trägt zwei Jacken übereinander, sie hat sich vier Tücher um die Schultern gewickelt. Plötzlich springt die Stalltür auf und ein schmaler Strahl des Mondlichts fällt herein. Ihm folgt ein Trupp zottiger Gestalten. Ein Engel, stammeln die Hirten verwirrt, habe sie hergeschickt, um den Heiland der Welt zu begrüßen.

Aber offensichtlich gebe es hier für sie noch viel mehr zu tun. Warme Schaffelle und Wolldecken auszubreiten, beispielsweise. Damit Maria endlich schlafen kann. Die Krippe für das Kindlein zu polstern. Josef mit einer großen Portion Schafskäse und Brot wieder aufzupeppeln. Später werden dann auch noch die Könige kommen und das Kind mit Gold aufwiegen. 

Aber so weit sind wir noch nicht. Heute ist erst Heiligabend. Und wer weiß. Vielleicht klopft es irgendwann spät nachts noch an der Tür. Ein völlig erschöpftes junges Pärchen steht davor. Und alles ist anders. 

Ein Gedanke zu „Eiszeit im Stall

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