Mit den Kirchen im Kraichgau verhält es sich so: In jedem Ort gibt es eine alte, oft aus dem Barock, und eine neue, oft aus den 1960-er Jahren und Beton. Die alten Kirchen sind fast immer evangelisch, die neuen die katholisch. Das ist ungewohnt.
„Der Kraichgau war die erste geschlossene Zelle der Reformation in Südwestdeutschland“, schreibt der Kirchenhistoriker Georg Gerner-Wolfhard in seinem neuen Buch über den „Protestantismus in Baden“. Was an Martin Luthers Aura und den Kraichgau-Rittern gelegen hat. Entflammt von Luthers Heidelberger Disputation, standen die Ritter dem Reformator getreu zur Seite. Selbst in den schweren Zeiten der Reichsacht. Eine Reise ns 16. Jahrhundert.
Heidelberg anno 1518. Die Erde wird noch hundert Jahre eine Scheibe bleiben, doch der Buchdruck hat schon eine wahre Informationsflut ausgelöst. Weshalb sich die Kunde, dass zu Wittenberg ein Augustinermönch 95 wütende Thesen an die Tür der Schlosskirche genagelt hat, „als wären die Engel selbst die Botenläufer gewesen“ (Luther) bis an den Neckar verbreitete. „Ganz besonders in Acht nehmen muss man sich vor jenen, die sagen, jene Ablässe des Papstes seien jenes unschätzbare Geschenk Gottes“, hatte Martin Luther am 31. Oktober 1517 geschrieben. Eine Breitseite gegen die römische Praxis, den Menschen gegen Geld ihre Sünden zu erlassen. „Gibt es eine Hölle, so steht Rom darauf“, wird Martin Luther im Jahr 1532 ausrufen.
Hochspannung vor dem ersten Auftritt
1517 in Wittenberg ist Luther von derlei Polemik noch weit entfernt. Er versteht sich als Mahner in den eigenen katholischen Reihen, wie es vor ihm schon viele gab. „Es ist der katholischen Kirche diesmal nur nicht gelungen, den Reformimpuls zu integrieren“, überlegte der frühere EKD-Vorsitzende Wolfgang Huber kürzlich bei einem Podiumsgespräch in Mannheim. Statt gelassen abzuwarten, demonstrierte der Vatikan Macht. Man teilte Pater Luther mit, eine Beschwerde sei gegen ihn eingereicht worden und er habe mit einem Kirchenbann zu rechnen.
Die Luft knisterte. Auch in Heidelberg, wo sich eines der wichtigsten Klöster der Augustinereremiten befand. 1279 war es auf dem Gelände des heutigen Universitätsplatzes gegründet worden. Der Klostergarten erstreckte sich bis zum Hexenturm, die Kirche reichte von der Graben- bis zur Augustinergasse. Angesichts der aufregenden Nachrichten aus Wittenberg traf es sich gut, dass Ende April 1518 turnusgemäß eine Augustiner-Generalversammlung in Heidelberg stattfinden sollte. Martin Luther fungierte seit 1515 als Distriktsvikar für Sachsen und würde in dieser Funktion automatisch am Generalkapitel teilnehmen. Warum nicht die Gelegenheit zu einer öffentlichen Disputation über die Thesen nutzen?
Wie diese Einladung zu werten ist, darüber streitet die Forschung. Christoph Strohm, Professor für Reformationsgeschichte an der Uni Heidelberg, erkennt eher eine Vorsichtsmaßnahme. „Da Luther Angehöriger des Ordens der Augustinereremiten war, konnten die heftigen Auseinandersetzungen um die Thesen nicht ohne Folgen für den Orden bleiben.“ Der Kirchenhistoriker Georg Gerner-Wolfhard dagegen hält die Disputation für eine „demonstrative Ehrung.“ So oder so. Die Disputation in Heidelberg war jedenfalls Luthers erster öffentlicher Auftritt, seit ihn der Anschlag berühmt gemacht hatte.
Martin Luther überraschte alle
Der 34-jährige Mönch ging zu Fuß nach Heidelberg. Oder er hatte es zumindest vor, bis er in Würzburg Augustinern aus Erfurt begegnete, die ihn im Wagen mitnahmen. Am Neckar angekommen, lud ihn Pfalzgraf Wolfgang, der jüngste Bruder des Kurfürsten Ludwig V., gleich zum Diner ins Schloss. Man kannte sich. Wolfgang hatte in Wittenberg studiert und war sogar Rektor der dortigen Universität gewesen. Übernachtet hat Martin Luther zehn Tage lang im Augustinerkloster auf dem heutigen Uniplatz.
Dann war er plötzlich da, der 26. August 1518. Ein Freitag. Und mit ihm der Hype. So groß war der Ansturm auf die Luthersche Disputation, dass man im Augustinerkloster keinen geeigneten Raum finden konnte. Man sah sich gezwungen, in den Hörsaal der philosophischen Fakultät in der Augustinergasse auszuweichen. Da saßen sie nun die Professoren, die Studenten und die etwa 60 Reichsritter aus dem Kraichgau. Luther überraschte sie alle.
Er verlor kein einziges Wort über den Ablass. Stattdessen vermittelte er in 28 theologischen und 12 philosophischen Thesen die Grundgedanken seiner neuen Theologie. „Nicht der ist gerecht, der viele Werke tut, sondern wer ohne Werke an Christus glaubt“, sagte Martin Luther. In der Heidelberger Disputation habe Martin Luther erstmals öffentlich die „völlige Abhängigkeit des Menschen von der Gnade Gottes“ unterstrichen, urteilt Professor Christoph Strohm. „Obwohl möglicherweise die radikalsten Thesen über die Kreuzestheologie gar nicht mehr zur Sprache kamen, reichte das Dargebotene völlig aus, um die etablierte Theologenzunft zu entsetzen“, schreibt Georg Gottfried Gerner-Wolfhard.
Die Studenten standen in Flammen, die Professoren waren verstört
Der Thesenanschlag am 31. Oktober 1517 in Wittenberg mag ein medienwirksamer Paukenschlag gewesen sein. Theologisch fundierter war ohne Zweifel die Disputation in Heidelberg. „Mit guten Gründen ließe sich der 26. April 1518 als ein reformatorischer Meilenstein bezeichnen“, meint Alt-Bischof Wolfgang Huber. Die Reformation habe durch Luthers Auftritt „in hohem Maß an Reputation und Anhängerschaft im südwestdeutschen Raum“ gewonnen. Umso erstaunlicher, dass in Heidelberg lediglich eine Gedenkplatte auf dem Uniplatz an dieses welthistorische Ereignis erinnert. Die Platte stammt aus dem Jahr 1983 und ist in ihrer Farbgestaltung so unspektakulär, dass Besucher wie Einheimische meist achtlos an ihr vorübergehen. Aber es bleiben ja noch drei Jahre bis zum 500. Reformationsjubiläum.
Vielleicht gründet diese Zurückhaltung auch darin, dass sich Heidelberg schon immer schwer getan mit diesem Martin Luther. Nach der Disputation geschah vierzig Jahre lang gar nichts. Um die Mitte des 16. Jahrhunderts dann avancierte Heidelberg relativ rasch zur Hochburg des Calvinismus. Reiche und hochqualifizierte Religions-Flüchtlinge aus ganz Europa strömten herbei, machten die Uni zu einer der wichtigsten Hochschulen der Welt und Heidelberg zur blühenden Metropole. Nie zuvor und nie wieder war Heidelberg so schillernd und mondän wie in der calvinistischen Ära.
Auf Luthers furiose Disputation von 1518 hingegen reagierten Heidelbergs Professoren und Honoratioren verstört. Damit wollte man nichts zu tun haben. Ganz anders die Theologiestudenten und die Reichsritter aus dem Kraichgau. Sie standen sofort in Flammen. Johannes Brenz etwa, der als 19-Jähriger Student die Disputation verfolgt hatte, wurde ab 1522 als Pfarrer von Schwäbisch-Hall zum Motor der Reformation. Martin Bucer, ein 26-jähriger Dominikanermönch, verließ nach Luthers Rede seinen Orden und reformierte ab 1523 von Straßburg aus das Elsass.
Und die Ritter trotzten sogar dem Kaiser
Ebenso konsequent setzte die Kraichgauer Ritterschaft Luthers Lehre um. Jeder Freiherr wachte über zwei oder drei Dörfer und hatte dort das Recht, den Pfarrer auszuwählen. Wovon man weidlich Gebrauch machte. „Schon ab 1522 wurde in allen Dörfern der Ritter von Gemmingen, von Steinbach, von Mentzingen, von Neipperg, von Berlichingen und der Göler von Ravensburg der Gottesdienst auf lutherische Art gehalten“, berichtet Gerner-Wolfhard. In deutscher Sprache und mit Kommunion in der Gestalt von Brot und Wein für alle. Außerdem folgten viele Ritter dem Beispiel Wolf von Gemmingens, der ab 1521 zu seinen sechs Pfarrern noch einen lutherischen Prädikanten einstellte, um die Sonntags- und Werktagspredigten zu halten.
Eine heikle Sache. Seit der Reichstag in Worms 1521 eine Reichsacht für Martin Luther ausgesprochen hatte, waren alle höchst bedroht, die dem Geächteten halfen. „Wir gebieten, dass keiner Martin Luthers Schriften kaufe, verkaufe, lese, drucke, noch seiner Opinion zufalle, predige noch beschirme“, steht im Wormser Edikt vom Mai 1521. Anderenfalls werden man seine Anhänger niederwerfen und ihre Güter behalten.
Auf Burg Guttenberg wohnten 30 protestantische Prediger
„Es ist erstaunlich, das die Kraichgauer Reichsritter das Edikt ihres Kaisers Karl V. missachteten“, schreibt Kirchenhistoriker Gerner-Wolfhard. Stattdessen korrespondierten sie unentwegt mit Luther, Melanchthon und Brenz, um herauszufinden, wie man evangelisch korrekt zu verfahren habe. Dietrich von Gemmingen stellte überdies Burg Guttenberg den bedrängten evangelischen Theologen als Zuflucht zur Verfügung. Bis zu 30 Prediger wohnten zeitweise dort. 1537 gab es im Kraichgau schon mehr als 40 lutherische Pfarreien, was dem Kaiser natürlich nicht behagte. Als er 1546 seine Bestrafungsaktion für die Anhänger der Reformation, den „Schmalkaldischen Krieg“ startete, wurde die Ravensburg bei Sulzfeld in der Nähe von Eppingen komplett zerstört.
Den Glauben der Ritter konnte auch das nicht erschüttern. Sie blieben „ihrem“ Reformator treu. „Nur eine Generation nach Luthers Heidelberger Disputation war der Kraichgau eine fast geschlossen evangelische Landschaft“, steht in der Chronik der Landeskirche von Baden. Will sagen: Eine geschlossen lutherische Landschaft. Denn obwohl die Hügel des Kraichgau durchzogen waren von Handelsstraßen, hatten dort weder die Zwinglianer, die von Basel aus missionierten, noch die Calvinisten, die von Straßburg kamen, eine Chance. Im Kraichgau glaubte man lutherisch. Amen. Hätte die badische Landeskirche nicht 1821 eine Union beschlossen, würde der Kraichgau wahrscheinlich immer noch lutherisch glauben. Und die Katholiken? Sie sind erst nach 1945 wieder in größerer Zahl in den Kraichgau zurückgekehrt. Als Flüchtlinge aus dem Osten.