Nur die Ruhe

Eine Suche nach den
verlorenen Rhythmen

Wie hatte man sich auf diesen Abend gefreut. Endlich mal keine Termine und nichts mehr aufzuräumen. Sogar die Mails waren beantwortet. Zeit für sich selbst und das Buch, das schon so lange auf dem Schreibtisch lag. Doch die innere Ruhe wollte nicht kommen.

Da war der Kollege, über den man sich geärgert hatte. Die Milch, die zur Neige ging. Und der Personalausweis, der bald erneuert werden musste. Hatte man nicht gehört, das sei neuerdings schwierig? Schwupps, schon steckte das Smartphone wieder in der Hand. Woran liegt das? Warum fällt es so schwer, einfach nur in der Gegenwart zu verweilen? Eine Suche nach den verlorenen Rhythmen im Leben. Als Einstieg in die Fastenzeit.

Die Heidelberger Benediktinerabtei Neuburg ist ein kleines Kloster auf halber Höhe über dem Neckar, zauberhaft hingestreckt zwischen Streuobstwiesen. Die wenigen Gästezimmer sind einfach, werden aber rege nachgefragt, sagt Pater Ambrosius Leidinger, der Prior des Konvents. Er erlebt die Zerrissenheit des modernen Lebens täglich am Telefon. „Die Menschen rufen an und bitten um ein Zimmer im Kloster, weil sie zur Ruhe kommen wollen.“ Doch wenn nicht gleich etwas frei ist, verlieren die Anrufer jedes Interesse und melden sich nie wieder.

Der Anspruch, alle Bedürfnisse sofort zu befriedigen, ist typisch für unsere säkulares Zeitalter.

Mit dem Aschekreuz
beginnt die Fastenzeit

Dieser Anspruch, alle Bedürfnisse sofort zu befriedigen, sei typisch für unsere säkulares Zeitalter. Findet der Neuburger Prior. „Wenn man glaubt, nur dieses kurze irdische Dasein zu haben, ist die Furcht, etwas zu versäumen, allgegenwärtig.“ Der heilige Benedikt von Nursia hat schon vor 1500 Jahren in seiner Mönchsregel das vierte Kapitel der „Discretio“ gewidmet. Das ist die Fähigkeit, das richtige Maß im Leben zu finden. „Die Discretio ist das Gegenteil jener Haltung, die bei allem dabei sein und alles mitnehmen muss“, definiert Pater Ambrosius Leidinger. „Sie steht gegen die Sucht, alles im Leben zu erleben.“

Was brauche ich wirklich? Und womit vergeude ich nur meine Zeit? Diesen Fragen müssen sich auch Mönche stellen, sagt der Benediktinerpater. Zumal es keine Klostermauern mehr gibt und das Internet längst in der Klausur angekommen ist. Gut, wenn man sich da auf uralte Rhythmen verlassen kann. „Solange ein Mönch seine Gebetszeiten einhält, ist sein Maßstab intakt“, glaubt Pater Ambrosius. „Alle Fragen, die vor dem Gebet noch von hochwichtig waren, haben sich danach relativiert.“

Am Anfang jeder Veränderung steht eine Sehnsucht.

Das Heidelberger
Benediktinerkloster Neuburg

„Quadragesima“, die Zeit der vierzig Tage, nannte die Urkirche das, was für Katholiken die Fasten- und Protestanten die Passionszeit ist. Vierzig ist eine magische Zahl. Vierzig Tage fastete Jesus in der Wüste, vierzig Jahre brauchte das Volk Israel bis zum Gelobten Land, vierzig Tage nach der Auferstehung wurde Jesus in den Himmel aufgenommen. Die vierzig Fastentage von Aschermittwoch bis Ostersonntag dienen dazu, innerlich wacher zu werden. Früher versuchte man dies durch den Verzicht auf Fleisch, Eier, Süßspeisen und Alkohol zu erreichen. Heute weiß man, dass es ebenso wichtig ist, die Seele zu durchlüften.

„Am Anfang jeder Veränderung steht eine Sehnsucht“, formuliert Susanne Schneider-Riede, die Leiterin der Fachstelle „Geistliches Leben“ bei der Badischen Landeskirche in Karlsruhe. „Erst wenn ein Mensch spürt, dass seinem Leben etwas fehlt, wird er aktiv.“ Manchmal sogar hyperaktiv. Dann buchen Meditationsneulinge zehntägige Exerzitien nach Ignatius von Loyola. Schweigen rund um die Uhr, vier Gebetszeiten am Tag, ein Gottesdienst, zahllose Achtsamkeitsübungen. „Das ist die hohe Kunst der Kontemplation“, lächelt Pfarrerin Schneider-Riede. „Für Ungeübte kaum zu empfehlen.“

Pater Ambrosius Leidinger,
der Prior

Besser klein anfangen. Mit „Exerzitien im Alltag“. Sie starten mit einem Gang durch die Wohnung. Die Aufgabe: Suche nach einem Platz, der für dich Ruhe symbolisiert. „Der Küchentisch kann solch ein geistliche Ort sein, die Gartenbank oder der Sessel vor dem Kamin.“ Dazu noch eine Kerze oder eine Tasse Tee, dann kann die Suche nach dem Seelenfrieden beginnen. Im Handumdrehen findet man ihn nicht. „Stille aushalten bedarf ebenso eines mühsamen Trainings wie Fahrradfahren oder Klavierspielen“, weiß Pfarrerin Schneider-Riede.

Wer kontemplative Übungen in seinen Alltag einbauen will, muss sich ehrlich die Frage stellen, wieviel Zeit er aufbringen kann.

Mindestens sechzig Tage, haben moderne Zeitmanagement-Gurus herausgefunden, dauert es, bis sich ein neuer Lebensrhythmus verfestigt hat. Nicht umsonst nannte Ignatius von Loyola, der Gründer des Jesuitenordens, die Begegnung mit Gott ein „exercitium“, eine „Übung“. Wer diese kontemplativen Übungen dauerhaft in seinen Alltag einbauen will, muss sich daher vor allem ehrlich die Frage beantworten, wieviel Zeit er dafür realistischerweise aufbringen kann. Schneider-Riede: „Es ist viel besser, sich nur zehn Minuten pro Tag vorzunehmen. Und an denen treu dranzubleiben.“

Pfarrerin Susanne
Schneider-Riede

Bei Exerzitien dreht sich alles darum, wieder ins Wahrnehmen zu kommen. Was höre ich? Was sehe ich? Wie fühlt sich die Luft an? Wie riecht sie? Wie ist der Grund beschaffen, den ich unter den Füßen spüre? Wie klingt mein Atem? Drückt mir etwas die Luft ab? Kann ich loslassen? „Die Gegenwart“, sagt ein altes Wort, „ist der Punkt, an dem sich Zeit und Ewigkeit berühren.“

Um 480 wurde der heilige Benedikt von Nursia geboren, im Bergland Umbriens. Es war eine Zeit gewaltiger gesellschaftlicher Umbrüche und tiefer Verunsicherung. Nicht unähnlich der unseren. Die Hochkultur des römischen Reiches war zerbrochen, in den kommenden Jahrhunderten würden die Goten und die Vandalen über Europa herrschen. Kein Gesetz, keine Sicherheit, nirgends. In diese moralische Düsternis hinein gründete Benedikt sein Kloster. Als Hort des Hörens auf die Stimme Gottes. Bis heute ist die Benediktsregel Grundlage für viele Ordensgemeinschaften.

Die „Ruminatio“ kann Dinge wieder ans Licht bringen, die lange im Inneren der Seele verborgen lagen.

Fünf Mal am Tag versammeln sich die Benediktinermönche von Stift Neuburg in ihrer Klosterkirche zum Gebet. Sie singen die Psalmen. Jede Woche alle 150. „Das hat etwas Heilendes“, sagt Pater Ambrosius. „Es erquickt den Menschen, macht ihn froh.“ Was nicht heißen solle, dass das spontane, freie Gebet, das im Herzen gesprochen wird, weniger Wert hat. „Jesus hat auf beide Arten gebetet.“

Der Heilige Benedikt
im Park von Stift Neuburg

Susanne Schneider-Riede, die evangelische Exerzitien-Expertin, empfiehlt ebenfalls die Psalmen für die Fastenzeit. Allerdings hat sie die Erfahrung gemacht, dass schon ein einziger Vers durch die ganze Woche tragen kann. „Ich muss nur aufmerksam hinhören, welches Wort mich besonders berührt.“ Dieses „geschenkte“ Wort „kaut“ man dann. Laut und leise, in den unterschiedlichsten Situationen und Stimmungslagen. „Ruminatio“ nannte die alte Kirche diese geistliche Übung. „Verkostung“. Sie kann Dinge wieder ans Licht bringen, sagt man, die lange im Inneren der Seele verborgen lagen. „Wenn man einen Psalm mit einer Gruppe liest, kommt es erstaunlich selten vor, dass sich zwei Menschen von demselben Wort angerührt fühlen“, berichtet Susanne Schneider-Riede.

Ignatius von Loyola, geboren 1491, hat tausend Jahre nach Benedikt von Nursia gelebt. Merkwürdigerweise wieder an einer Zeitenwende voll von erdrutschartigen Umbrüchen. Es war die Morgendämmerung der Neuzeit. Kopernikus bewies, dass sich die Erde um die Sonne dreht. Kolumbus entdeckte Amerika, Gutenberg erfand den Buchdruck. Und Luthers Reformation erschütterte die katholische Kirche. In diese allumfassende Verunsicherung hinein gründete Ignatius den Jesuitenorden. Die ignatischen Exerzitien dienen fast allen christlichen Kirchen als Basis für geistliche Auszeiten.

Fünf Mal am Tag beten
die Mönche in der Klosterkirche

In der Stille meldet sich das, was wichtig ist, von selbst

Doch Vorsicht, warnt Susanne Schneider-Riede, die Innerlichkeits-Expertin der Badischen Landeskirche: In unserer übervollen Zeit bestehe immer die Gefahr, dass wir die „Exerzitien im Alltag“ zu einem Tagesordnungspunkt unter vielen anderen machen. Bloße Technik. „Die Stille steht dann neben dem Einkauf auf die To-do-Liste und man arbeitet sie ab.“ Das macht die geistliche Übung sinnlos. „Bei Exerzitien geht es ja gerade darum, vom Tun ins Sein kommen“, betont Schneider-Riede. „Ziel der Übung ist es, jenseits des eigenen Wollens einfach nur zu sein.“ Die Natur wahrzunehmen, den Körper, den Atem, die Hände, auf sein inneres Wort lauschen. Absichtslos. „Man das Steuer des eigenen Lebens einfach aus der Hand und vertraut sich Gottes Führung an.“ In der Stille meldet sich das, was wichtig ist, von selbst.

Ignatius von Loyola
gründete den Jesuitenorden

„Gott ist treu und immer da“, nickt Pater Ambrosius Leidinger, „Nur wir übersehen ihn meistens.“ Weil wir feststecken in banalen Alltagsgedanken. Im Immermehr, Immerbesser. „Die Stille schafft neuen Raum, in dem wir von Gott geliebt werden können.“ Ein kurzes Gebet am Morgen und eines am Abend, sagt der Pater, reichen schon vollkommen aus. Die Sehnsucht nach mehr komme dann von ganz allein.

Einen Psalter oder ein Gebetsbuch benötige man dazu übrigens nicht unbedingt. „Das Schweigen ist vielleicht die intensivste Form des Betens“, überlegt Pater Ambrosius Leidinger. Man kenne das ja von Verliebten, die sich im gemeinsamen Schweigen mehr sagen, als wenn sie reden würden. Der Apostel Paulus hat von einem „Seufzen“ gesprochen, „das wir nicht in Worte fassen können“. Der Philosioph Sören Kierkegaard schrieb:„Ich meinte zuerst, beten sei reden. Ich lernte aber, dass beten nicht bloß schweigen ist, sondern hören.“ „Man ist auf dem richtigen Weg, wenn einem etwas fehlt, weil man nicht gebetet hat.“

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