Wer hat eigentlich das Gerücht in die Welt gesetzt, der November sei grau und traurig? Ist er nicht. Sondern klar, still und tief. Das tut gut nach dem Rausch des endlosen Sommers. Zumal der November froh beginnt. Allerheiligen ist kein Tag der Trauer, sondern ein Fest der Freude über gelungenes Leben.
„Heilige waren nicht unbedingt Menschen, die etwas Außergewöhnliches getan haben“, überlegt Joachim Dauer, der katholische Dekan von Heidelberg. „Heilige waren Menschen, die das Gewöhnliche besonders gut getan haben.“ Ein Spaziergang durch die Heidelberger Altstadt auf den Spuren der Heiligen.
Die Großmutter des Gottessohns begnügt sich mit einem Seitenaltar
Bildhübsch, aber auch ein wenig verloren steht sie da die kleine St. Anna-Kirche in der Plöck. Einst sollte sie die Kapelle eines großen Krankenhauses mit zwei Flügeln werden. Dann starb der Kurfürst, sein Nachfolger verkrachte sich mit Heidelbergs Bürgern und zog nach Mannheim. Die zweite Hälfte des Spitals kam nie. In St. Anna beginnt unser Spaziergang.
Die heilige Anna war die Mutter der Gottesmutter, die Oma Jesu. Behauptet das apokryphe Evangelium des Jakobus. Offiziell erwähnt wird Anna nirgends. Trotzdem gehört die Urmutter seit Anbeginn des Christums zu den beliebtesten Heiligen. Anna hilft bei allen Müttersorgen, schützt aber auch gut vor Gewitter. Der junge Martin Luther beispielsweise geriet im Wald von Stotternheim in ein Unwetter. In Todesangst versprach er der heiligen Anna, ins Kloster einzutreten, so sie ihn rette. Voilà. In St. Anna zu Heidelberg begnügt sich die Großmutter des Gottessohns mit einem Seitenaltar. Man sieht, wie sie Maria unterrichtet.
St. Anna wird dominiert von einem gewaltigen Kruzifix, das hoch über dem Holzaltar aufragt. Er ist der einzige Barockaltar Heidelbergs, der noch am ursprünglichen Standort steht. Zu Fuße des Kreuzes kniet der heilige Rochus, zuständig für Krankheiten aller Art. Im 14. Jahrhundert erzielte Rochus sensationelle Erfolge bei Pestepidemien. Nur durch Auflegen des Kreuzes. Wenn man genau hinsieht, entdeckt man auf seinem Pilgergewand eine Pestbeule aus Gold. Und die beiden Putten am Tabernakel ahmen frech die Bewegungen des Heiligen nach.
Ignatius und Franz Xaver künden von der Rückkehr der katholischen Kirche
Papst Gregor III. war es, der 731 festgelegt hat, fortan am 1. November ein Fest für alle Heiligen zu feiern. Wie viele Heilige die katholische Kirche inzwischen offiziell verehrt, ist schwer zu sagen. 2004 waren es 6650. Inzwischen dürften es deutlich mehr sein, denn die heutigen Päpste sprechen gern heilig. Im Mittelalters agierte man zögerlicher. Zu zögerlich für den Geschmack des Volkes. Es wählte seine Heiligen einfach selbst, bis der Vatikan ein Machtwort sprach. Seither muss jeder Heilige ein beglaubigtes „Wunder“ gewirkt haben.
Der rechte Seitenaltar in St. Anna erinnert an den heiligen Franz Xaver, einen der Gründer des Jesuitenordens. Ihm begegne wir noch öfter. Denn die Jesuiten waren es, die im 18. Jahrhundert auf kurfürstlichen Befehl den katholischen Glauben ins calvinistische Heidelberg zurückbrachten. Franz Xaver geriet als karrierebewusster Student aus dem Baskenland in eine Wohngemeinschaft mit Ignatius von Loyola. Vier Jahre brauchte Ignatius, um seinen Mitbewohner davon zu überzeugen, einen Orden zu gründen. Franz Xaver missionierte in China und Japan. Mit großem Erfolg.
Heidelbergs Dekan Joachim Dauer hält es für zu kurz gedacht, dass Heilige zwangsläufig gestorben sein müssen. „Ich glaube, dass es auch Heilige gibt, die mitten unter uns leben.“ Die toten Heiligen nennt er „unsere Leute bei Gott“. Dauer ist überzeugt, dass sie die Möglichkeit haben, bei Gott ein gutes Wort für uns einzulegen. „Ich nehme jeden Morgen mit den Heiligen Kontakt auf, die im Heiligenkalender stehen“, berichtet Dauer. „Ich denke an sie, überlege, was ich von ihnen weiß und bete für die Menschen, die ihren Namen tragen.“
Den heiligen Antonius kann man immer gut brauchen. Er sucht Verlorenes.
Beim Abschied von der St. Anna-Kirche treffen wir noch auf Antonius von Padua, einen Franziskanermönch aus dem 13. Jahrhundert. Diesen Heiligen kann man immer gut brauchen. Weil er Verlorenes wiederbeschafft. Angeblich funktioniert das sogar bei Ehepartnern und Parkplätzen. Doch Vorsicht: Antonius ist auch der Patron der Armen. Wer mit seiner Hilfe den Schlüssel wiederfindet, sollte ihm auch etwas in die Kasse legen. Fürs „Antoniusbrot“.
Über die Akademiestraße und die Brunnengasse erreichen wir das St. Vincentius-Krankenhaus. Es trägt den Namen des heiligen Vincent von Paul. Er war ein berühmter Ordensgründer. Seit dem 17. Jahrhundert kümmern sich Vinzentinerinnen auf der ganzen Welt um arme, alte und kranke Menschen. Vincent von Paul ist aber auch ein Beispiel dafür, dass man nicht unbedingt als Heiliger geboren wird. Der französische Bauernsohn entschied sich nur deshalb für den Priesterberuf, weil man für wenig Arbeit viel Geld bekam. Doch das sorglose Leben mündete in eine tiefe Glaubenskrise und eine radikale Neuausrichtung auf Gott.
Im Vincentius-Krankenhaus gibt es keine Vinzentinerinnen mehr. Es wird heute von der Evangelischen Stadtmission betrieben. Wohl aber gibt es eine hübsche katholische Kapelle mit zwei barocken Heiligen: Maria und Josef. Der heilige Josef war der großer Schweiger. Die Bibel überliefern von ihm keine Worte sondern nur Träume. Josef ist der Patron der Arbeiter und Handwerker. Er soll aber auch gut bei der Wohnungssuche helfen. Vielleicht wegen des Stalls.
„Man glaubt ja immer die Heiligen seien bei den Evangelischen abgeschafft. Aber das stimmt so nicht.“
Vincenzo Petracca ist Citypfarrer an der Heidelberger Heiliggeistkirche. Er findet es zwar „seltsam“, dass man sich bei einem Evangelischen nach Heiligen erkundigt. Doch nun gut. „Man glaubt ja immer, bei uns seien die Heiligen abgeschafft“, hebt Petracca an. Das stimme so aber nicht. Die evangelische Kirche habe ihnen nur eine andere Rolle zugeschrieben. „Ich sehe in den Heiligen keine Fürsprecher bei Gott, sondern Vorbilder und Ratgeber, die zeigen, in welche Richtung ich gehen kann.“
Franz von Assisi etwa mit seinem kompromisslosen Eintreten für Armut, Gerechtigkeit, Pazifismus und Schöpfungsliebe sei für ihn ein großes Vorbild, sagt Petracca. „Ich bewundere die Radikalität, mit der er versuchte, die Bibel zu leben.“
Die Bauamtsgasse führt uns zum Kurpfälzischen Museum. Es residiert seit 1906 im Palais Morass und besitzt die wertvollste Heiligendarstellung der Stadt: Den „Zwölfbotenaltar“ von Tilman Riemenschneider aus dem Jahr 1509. Man sieht einen hochgewachsenen Christus umrahmt von kleinen Aposteln. Die Gesichter sind ausmodelliert wie lebensechte Porträts, keine Frisur und kein Faltenwurf gleichen dem anderen. Ein Meisterwerk der Schnitzkunst.
Der heilige Augustinus hat in seiner Jugend nichts anbrennen lassen
Den Uniplatz lassen wir rechts liegen und biegen in die kleine Augustinergasse ein. Je näher man der Jesuitenkirche kommt, desto zahlreicher werden die Madonnen an den Häusern. Das hat Kurfürst Johann Wilhelm so angeordnet. Als Zeichen, dass das calvinistische Bilderverbot endgültig erledigt ist. Kurz vor der Augustinergasse grüßt uns noch ein verwitterter „Heiliger“. Man sieht Konrad von Weinsberg, der ab 1391 Erzbischof von Mainz war. Was hat ein Mainzer Erzbischof in der Heidelberger Hauptstraße zu suchen hat? Die Antwort ist sehr profan: Konrad II. warb fast ein Jahrhundert lang für Bier der Mainzer Aktienbrauerei.
In der Hauptstraße 130 befand sich seit 1878 das „Mainzer Rad“. Die Wirtschaft war eine der beliebtesten Studentenkneipen Heidelbergs. Ausgeschenkt wurde ausschließlich Bier der Mainzer Aktienbrauerei. 1975 schloss „Mainzer Rad“ endgültig ihre Türen. Das gotische Original des Konrad-Epitaphs steht bis heute im Dom zu Mainz.
Den Kirchenlehrer Augustinus treffen wir ein paar Meter weiter über dem Eingang zum Karzer. Das passt. Denn in jungen Jahren hat Augustinus nichts anbrennen lassen. Der Superstar der Rhetorik feierte gern, hatte Freundinnen und einen unehlichen Sohn.
„Mit den Heiligen ist es wie mit dem Licht“, sinniert Dekan Joachim Dauer. Ein Prisma bricht es auf in Myriaden von Farben. Jede anders, jede wunderschön. „Und manchmal flackert und schillert das Licht halt ein bisschen“, lächelt Dauer.
Ambrosius fiel in den Honigtopf und Hubertus traf ein Hirsch mit leuchtendem Kruzifx
Die Jesuitenkirche hat die Aura einer Königin. Stolz und elegant dominiert sie ihr Quartier. Baujahr 1759, da erwartet man eigentlich Barock satt. Doch wenn man die schwere Tür öffnet, steht man in einer Halle aus Licht mit sparsamen Vergoldungen und ohne Engel. Wahrscheinlich ist die Jesuitenkirche die reduzierteste barocke Kirche, die je gebaut wurde. Was sie sensationell modern macht.
An Heiligen mangelt es hier nicht. Ignatius und Franz Xaver hängen in Öl neben dem Eingang. Petrus und Paulus überwachen den Chor. Augustinus steht Aug’ in Aug’ mit Bischof Ambrosius, der ihn nach seiner Bekehrung in Mailand getauft hat. Ambrosius war als Baby in einen Bienenschwarm geraten, doch die Tiere stachen ihn nicht, sondern träufelten ihm Honig in den Mund. Fortan sprach Ambrosius zuckersüß. Hubertus, der Patron der Jäger, begegnete einem Hirsch, in dessen Geweih ein Kruzifix leuchtete.
Evangelische Heilige könnten Bonhoeffer oder Maas heißen
Durch die Kettengasse erreichen wir die evangelische Heiliggeistkirche. Sie ist Gotik in Perfektion. An der Außenwand der Sakristei hat eine Schutzmantelmadonna den Calvinismus überlebt. „Immer wenn ich vorbeikomme, vertraue ich ihr die Menschen der Stadt an“, freut sich Dekan Dauer. Drinnen in der Heiliggeistkirche denkt der evangelische Pfarrer Vincenzo Petracca über evangelische Heilige nach. Vorbildliche Christenmenschen. „Dietrich Bonhoeffer, die Geschwister Scholl und natürlich Hermann Maas! “ Der Pfarrer der Heiliggeistkirche hat in der NS-Diktatur vielen Juden das Leben gerettet. „Dort drüben steht seine Gedenkplatte“, sagt Petracca.
Schräg gegenüber auf dem Kornmarkt erhebt sich seit 1716 die Königin der Heidelberger Madonnen. Mit der Schlossruine als pittoreskem Hintergrund. Die Muttergottes steht auf einer Weltkugel, die von Engeln getragenen wird. Unter ihren Füßen zertritt sie die garstige Schlange.
Noch einen Sprung über die Alte Brücke. Am Neuenheimer Ufer steht Johann Nepomuk. Der Heilige hat im 14. Jahrhundert am Hof des Böhmischen Königs in Prag gelebt. Als er sich weigerte, dem König die Beichtgeheimnisse der Königin zu verraten, ertränkte man ihn in der Moldau. Nepomuk schaut nach Süden, der Sonne entgegen. Manchmal funkelt sein Heiligenschein noch im November.