Am Anfang ist er noch zusammengezuckt und hat entschuldigend hinübergegrinst zur Kanzel. Doch dann gewöhnte sich Michael Braatz-Tempel daran, dass der Sonntagsgottesdienst in Heidelberg-Handschuhsheim alle zehn Minuten von begeistertem Applaus unterbrochen wird. Der liturgisch-unpassende Jubel gilt den fünf Kinderchören, die der evangelische Bezirkskantor an der Friedenskirche aufgebaut hat.
Daneben gibt es noch eine Jugendkantorei und zwei Erwachsenen-Chöre. „Bei uns singt fast in jedem Gottesdienst einen Chor“, sagt Braatz-Tempel. Weil guter Gesang die Liturgie intensiver macht, die Gemeinde anspornt und die Kirchenbänke füllt. Eine Reise ins Reich des mehrstimmigen Gotteslobs.
„Musik in höchster Blüte, speziell für den Gottesdienst komponiert – das gibt es nur im Christentum“, strahlt Michael Braatz-Tempel. „Diesen Reichtum besitzt keine andere Religion.“ Deshalb sei die sakrale Musik auch viel mehr als nur schmückendes Beiwerk zur Liturgie, findet der 48-jährige evangelische Bezirkskantor. „Orgel und Gesang fungieren als zweite Kanzel.“ Damit wäre die Fallhöhe des Themas klargestellt. Zumindest für den evangelischen Gottesdienst.
Im Idealfall verschmelzen Musik und Liturgie zu einer Einheit
Die katholische Eucharistiefeier ist diffiziler und unflexibler, was Markus Uhl gut gefällt. Wegen der Herausforderung. „Ich habe von Anfang an sehr viel Wert auf die Gestaltung von Messen gelegt“, erklärt der 39-jährige katholische Bezirkskantor von Heidelberg-Weinheim und Wiesloch. Hier mal einen Familienchor einbauen, dort eine Mini-Schola. „Musik kann die Dramaturgie des Gottesdienstes verstärken“, nickt Uhl. „Im Idealfall verschmilzt sie mit der Liturgie zu einer Einheit.“ Wenn das gelingt, sagt der Bezirkskantor, werden Bereiche tief im Menschen angesprochen, die Wort und Sakrament allein nicht erreichen.
Schon die ersten christlichen Gemeinden vor 2000 Jahren wussten um diese Macht der Musik. „In den ältesten Berichte über Christen steht, dass sie viel gesungen haben“, erzählt Michael Braatz-Tempel. Umso inbrünstiger, je heftiger man sie verfolgte. Kaum war das Christentum Staatsreligion geworden, verstummte das gesungene Gotteslob in den Wohnstuben. Geistliche Lieder blieben nun den Priestern und Ordensleute vorbehalten. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit intonierten sie lateinische Choräle in den Basiliken.
Dann kam Martin Luther. Der passionierte Lautenspieler mit schöner Singstimme übersetzte nicht nur die Bibel ins Deutsche, er verpackte seine neue Theologie auch gleich in Kirchenlieder. In seiner berühmten Torgauer Kirchweihpredigt von 1544 erklärte Luther, im evangelischen Gottesdienst „redet unser lieber Herr selbst mit uns durch sein heiliges Wort, und wir reden mit ihm durch Gebet und Lobgesang.“ Vor allem die Kinder, so Martin Luther, sollten „singen, singen, singen“, damit „das Evangelium in Schwang kommt.“ Das war die Geburtsstunde des Kirchenchors. Die Evangelischen haben’s erfunden.
„In Heidelberg verzeichnen wir einen Boom der Kinderchöre“
Bis Ende des 16. Jahrhunderts sangen die Gemeinden a cappella und auswendig. Gesangbücher gab es nicht, Orgelbegleitung war verpönt. Als der 18-jährige Johann Sebastian Bach, damals Organist im thüringischen Arnstadt, den Gemeindegesang leise mit seinem Instrument untermalte, erhielt er sofort einen Rüge. Die Orgel „confundiere“ die Gemeinde. Will heißen: Ein Instrument verwirrt die Sänger bloß. Erst im Barock gelangte die sakrale Musik zu voller, reiner, wunderschöner Blüte.
Der Kirchenchor, wie wir ihn heute kennen, ist ein Kind des 20. Jahrhunderts. Nach dem Zweiten Weltkrieg suchten die Menschen Heilung in einer kleinen, überschaubaren Welt. Die Vereine boomten und die Kirchenchöre wurden aus dem Dornröschenschlaf wachgeküsst, in den sie Jahrzehnte zuvor gefallen waren. „Wenn heute überall 125- oder 175-jähriges Chorjubiläum gefeiert wird, suggeriert das eine uralte, ungebrochene Tradition, die es nie gegeben hat“, stellt Markus Uhl klar. So wenig wie es heute das „Kirchenchorsterben“ gibt, das überall lauthals herbeigeschrieben wird. „Ich sehe, dass Chöre sterben, aber gleichzeitig entstehen wieder neue“, sagt Michael Braatz-Tempel. „In Heidelberg verzeichnen wir gerade einen Boom der Kinderchöre.“ Sehr gefragt seien aber auch Gospelchöre, Oratorienchöre und Projektchöre.
Nur eben der klassische Kirchenchor nicht mehr so sehr. Was weniger an seiner Form liegt, als vielmehr an Versäumnissen in der Vergangenheit. „Die Chöre haben sich viel zu lange viel zu wohl miteinander gefühlt“, lächelt Markus Uhl. Niemand verspürte eine Notwendigkeit, neue Leute anzusprechen. Bis es zu spät war. Liegt das Durchschnittsalter eines Chors erst einmal bei „60 plus“, hat er kaum noch eine Überlebenschance. „Es ist völlig utopisch, solch einen Chor mit 20-Jährigen auffüllen zu wollen“, formuliert Heidelbergs katholischer Bezirkskantor. Was nicht heißt, dass sich die Sangesgemeinschaft auflösen muss. Sie sollte sich vielmehr in der eigenen Altersgruppe umsehen. Wie wäre es mit einem ökumenischen Chor? Oder einem Zusammenschluss von zwei oder drei Nachbarorten? „Hauptsache“, sagt Uhl, „das Singen macht wieder Spaß.“
Gläubige und Agnostiker singen einträchtig miteinander
Rund 450 Erwachsenenchöre und 120 Kinder- und Jugendchöre zählt die Badische Landeskirche. Etwa 20000 Protestanten gehen regelmäßig zur „Singstunde“. Der Cäcilienverband der Erzdiözese Freiburg vermeldet 860 Kirchenchöre mit ebenfalls 20000 Sängern. Die boomenden Gospel- und Projektchöre fehlen in den Statistiken. 64 hauptamtliche Kantoren beschäftigt die Badische Landeskirche. 35 das Erzbistum Freiburg. Dazu kommen unzählige ehrenamtliche oder nebenberufliche Organisten und Chorleiter. Sie spielen in den kommenden Jahren eine zunehmend wichtige Rolle, denn Kirchenmusiker werden rar. „Wir steuern auf einen akuten Mangel zu“, bedauert Markus Uhl. „Schon bald können wir nicht mehr alle Stellen besetzen.“
Dabei setzt das sakrale Singen gerade zu einem Höhenflug an. Vor allem in den Städten. Kinderchöre erleben einen enormen Zulauf, „selbst in Gemeinden, in denen es schon lange keinen Chor mehr gibt“, beobachtet Michael Braatz-Tempel. Markus Uhl berichtet von deutlich gestiegenem Interesse aus dem studentischen und akademischen Milieu.
Als „gläubig“ würden sich die wenigsten dieser Sänger bezeichnen. Sie kommen nicht wegen des Gottesdienstes sondern wegen der Musik.
Sowohl in Kantorei an der Friedenskirche wie auch in der „Cappella Palatina“ an der Jesuitenkirchen singen Gläubige und Agnostiker, Katholiken, Protestanten und Ausgetretene einträchtig miteinander. Wer was ist, weiß niemand. Weil niemand danach fragt. „Musik ist kein Instrument zur Rekrutierung neuer Kirchenmitglieder“, betont Markus Uhl. „Die Chöre wollen singen und haben in den Kirchen ihre natürlichen Auftrittsorte. Punkt.“ Manchmal macht Gott trotzdem etwas mit den Menschen, die in seiner Kirche singen. Kantor Uhl lächelt und nickt: „Es gibt Momente, in denen ein Sänger spürt, dass Irgendetwas in diesem Gottesdienstgeschehen ihn anspricht. Das ist das Maximum, das ein Kirchenchor leisten kann.“
„Chorsingen ist ein wunderschönes Gefühl.“
Kantor Braatz-Tempel definiert Musik als „Brücke“ zwischen der Kirche und einer Gesellschaft, „die heute nicht mehr selbstverständlich kirchlich sozialisiert ist.“ Und diese Brücke gilt es so oft wie möglich zu bauen. Womit wir wieder bei den fünf Kinderchören an der Handschuhsheimer Friedenskirche wären. „Wenn ein Kind bei mir singt, sorge ich dafür, dass es ein Morgenlied, ein Abendlied und ein Tischlied kann. Diese Lieder bringt das Kind dann seinen Eltern bei.“ Was noch nie als Einmischung in die Erziehung empfunden wurde. “In Handschuhsheim gehört es inzwischem zum guten Ton, die Kinder in den Kirchenchor zu schicken.“
Und wenn die Kinder dann im Gottesdienst singen, füllen die Eltern die Stuhlreihen der Friedenskirche und freuen sich am Strahlen der Gesichter. „Chorsingen ist ein wunderschönes Gefühl“, sagt Michael Braatz-Tempel. „Wenn die eigene Stimme mit anderen Stimme verschmilzt, empfindet man pures Glück. Ich bedaure manchmal sehr, dass ich vorne stehen muss und meine Stimme nicht im Gesamtklang aufgehen lassen darf.“