So viel Geduld müsste man haben. Seit zweitausend und fünfzehn Jahren steht Josef von Nazareth treu in der hintersten Ecke des Stalls und schweigt. Das Kind kommt, die Engel kommen, die Hirten kommen, die Könige kommen. Josef schweigt.
Voll Vertrauen, dass irgendwann auch seine Stunde kommen wird.
Und jetzt ist sie da: Im Jahr der großen Flucht richten sich alle Augen auf Josef. Schließlich war er es, der mit dem göttlichen Kind und seiner Mutter vor den Todeschwadronen des Herodes nach Ägypten floh. Zu Fuß, ohne Proviant, ohne Gepäck, ohne Papiere. Wie jetzt so viele. Machen wir uns auf die Suche nach der Geschichte dieses Mannes, der vor lauter Lauschen und Staunen still geworden ist.
„Ohne Josef hätte die heilige Familie nicht überlebt“
Siegelsbach im Kraichgau ist eine kleine, aber selbständige Gemeinde vor den Toren Bad Rappenaus. Es gibt hier ein hübsches Schlösschen, das ehemals den Grafen von Wiser gehörte, viel Fachwerk und zwei schöne Kirchen. In der katholischen erhebt sich über dem rechten Seitenaltar eine lebensgroße Bronze. Man sieht einen majestätisch hoch aufgerichteten Mann, der mit konzentriertem Blick seine Umgebung absucht. Unter seinem Umhang trägt er geborgen und liebevoll Maria, das Kind und den Esel.
„Ohne Josef hätte die heilige Familie nicht überlebt“, sagt Thomas Grün, katholischer Klinikseelsorger im Heidelberger St. Josefskrankenhaus und deshalb ein fundierter Josef-Kenner. „Er war der Beschützer im Hintergrund, der stets tat, was nötig war.“ Gesprochen hat Josef dabei nicht viel. Die Evangelien überliefern kein einziges Wort vom Ehemann der Gottesmutter. Was ihn umso interessanter macht. „Josef ist eine Figur, die wir schwer fassen können, weil wir so wenig von ihm wissen“, findet Pastoralreferent Grün. „Er gibt uns viel Raum zum Spekulieren.“
Die Geschichte des Josef von Nazareth beginnt mit einer Katastrophe. Von einem Augenblick zum anderen zerbricht sein Lebensglück. „Maria war mit Josef verlobt“, schreibt der Evangelist Matthäus. Doch „noch bevor sie zusammen gekommen waren, zeigte sich, dass sie ein Kind erwartete.“ Etwas Schlimmeres konnte im antiken Galiläa kaum passieren.
Am Anfang steht eine Katastrophe: Von einem Augenblick zum anderen zerbricht das Lebensglück.
Die Sitten waren streng. Zwischen Verlobung und Hochzeit musste ein Jahr vergehen, in dem das Mädchen im Haus seiner Eltern lebte. Ein intimes Zusammensein der Verlobten wurde unter keinen Umständen gestattet. Und wäre wohl auch nicht möglich gewesen. Das Dorf Nazareth zählte zwischen 100 und 200 Einwohner. Jeder kannte jeden, kein Geheimnis überlebte den Tag
Maria blieb nichts anderes übrig, als sich Josef anzuvertrauen. Ein schwieriges Gespräch. Wie sollte sie diesem redlichen Mann erklären, was sie – Engel hin oder her – selbst noch nicht begriffen hatte. Welche Zukunftaussichten hatte sie denn jetzt noch?
„Nach jüdischem Recht brauchte ein Mann nur sagen, das Kind sei nicht von ihm, und schon war die Verlobung gelöst“, weiß Thomas Grün. Die schwangere Frau stand dann allein, ohne Geld, ohne Rechte. „Wenn ihre Familie sich weigerte, sie zurück zu nehmen, gab es keine andere Möglichkeit als sich zu prostituieren.“ Zeigte der betrogene Mann seine Verlobte öffentlich an, so drohte ihr sogar die Steinigung. Maria zitterte und bebte.
Die wundersame Alterung des Josef von Nazareth
Blutjung, höchstens 15 Jahre alt war sie gewesen, als sie Josefs Antrag angenommen hatte. Ein normales Heiratsalter vor zweitausend Jahren. Der Bräutigam dürfte ein paar Jahre älter gewesen sein. Schließlich musste er zunächst einen Beruf erlernen, mit dem er seine Familie ernähren konnte.
Josef war „tekton“, berichtet das griechische Original des Neuen Testaments. Mit diesem Begriff werden sämtliche Berufe aus der Baubranche bezeichnet. Ob er nun als Maurer, Zimmermann oder Architekt gearbeitet hat, wissen wir nicht. Thomas Grün, unser Josef-Experte, glaubt, dass Marias Auserwählter nicht zu den Besserverdienern gehörte. „Sonst wäre es ihm später sicher möglich gewesen, in Bethlehem ein Zimmer zu bestellen.“
Das apokryphe Jakobus-Evangelium aus dem zweiten Jahrhundert nach Christus ist dafür verantwortlich, dass wir uns so schwer tun mit der Vorstellung von Maria und Josef als jungem Liebespaar. Jakobus berichtet von der angeblichen Brautwerbung Josefs. Maria, so behauptet der „Evangelist“, sei Tempeljungfrau in Jerusalem gewesen und durfte daher nur einen älteren Witwer heiraten, der versprach, sie unberührt zu lassen. Bewerber für solche Versorgungsehen gab es reichlich. Antike Frauen brachten viele Kinder zur Welt und starben häufig bei einer Geburt.
Eine blumige Geschichte bestimmt unser Josef-Bild
Jeder Witwer, der um die junge Maria anhalten wollte, so erzählt Jakobus weiter, musste seinen Stab auf dem Altar des Tempels legen. Josefs Stock begann sofort zu grünen und zu blühen. Damit nicht genug der Zeichen. Es ließ sich auch noch eine Taube als Zeichen der göttlichen Bestätigung auf Josefs Kopf nieder.
Diese blumige Geschichte hat es nie in den Kanon der Evangelien geschafft. Dennoch bestimmt sie seit dem Mittelalter unser Josef-Bild. Auf Gemälden, in den Kirchen, in den Krippen und auf fast allen Weihnachtskarten des Jahres 2015 begegnen wir einem älteren Mann mit grauem Rauschebart. Ausgeschlossen, sich die bildhübsche junge Maria und diesen Greis als verliebtes Paar vorzustellen. Was der katholischen Kirche durchaus gelegen kam. Mit einem stattlichen Helden wie dem Josef von Siegelsbach ließe sich das Dogma von der „immerwährenden Jungfräulichkeit Mariens“ deutlich schwieriger vermitteln.
Das Matthäus- und das Lukas-Evangelium erwähnen Josefs Alter nicht. Markus und Johannes erwähnen noch nicht einmal Josef. Dafür geben sich Matthäus und Lukas ungeheuer viel Mühe, den Stammbaum Josefs auf König David zurückzuführen. „Und von David wissen wir, dass er ein Hübscher war“, lächelt Thomas Grün. „Vielleicht war Maria ja bis über beide Ohren in ihren Verlobten verliebt.“
In der Antike galt man mit Mitte 30 schon als älterer Mann
Pastoralreferent Grün glaubt, dass Josef zu einer Seitenlinie des Davidschen Königsgeschlechts gehörte und so etwas wie „verarmter Adel“ war. Womit Maria und Josef wahrscheinlich „standesmäßig auf gleicher Höhe gestanden haben“.
Bei seiner Hochzeit wird Josef zwischen 20 und 24 Jahre alt war gewesen sein, schätzt Grün. Zwölf Jahre später, als die verzweifelten Eltern ihren halbwüchsigen Sohn Jesus drei Tage lang in Jerusalem suchten, wäre Josef dann Mitte 30 gewesen. Da galt man in der Antike schon als älterer Mann. Was erklären würde, warum Josef noch einmal 18 Jahre später, als das öffentliche Wirken Jesu begann, nicht mehr erwähnt wird. Er war wohl schon gestorben.
Doch so weit sind wir noch nicht. Im Moment gesteht Maria ihrem Verlobten gerade mit bebender Seele, was ihr der Engel Gabriel verkündet hat. Josef glaubt ihr kein Wort. „Josef, ihr Mann, der gerecht war und sie nicht bloßstellen wollte, beschloss, sich in aller Stille von ihr zu trennen“, berichtet Matthäus. Das ist interessant. Obwohl Josef zutiefst verletzt ist, sinnt er nicht auf Rache. Im Gegenteil. Er will, dass es Maria gut geht. Ein Mann mit einem Riesenherz. Wenn auch die Idee, sich in „aller Stille“ von seiner Verlobten zu trennen, etwas naiv anmutet. Wie hätte das denn gehen sollen in einem Dorf wie Nazareth?
Papst Franziskus: „Josef erscheint als starker Mann, aber in seinem Inneren zeigt sich eine große Zärtlichkeit“
„In den Evangelien erscheint Josef als ein starker, mutiger Mann, aber in seinem Inneren zeigt sich eine große Zärtlichkeit, die auf eine Seelenstärke hindeutet“, sagte Papst Franziskus bei seiner Einführung.
Das Paar trennte sich, wie wir alle wissen, doch nicht. Gott sei Dank. Er schickte noch einen Engel. Matthäus erzählt: „Während Josef noch darüber nachdachte, erschien ihm ein Engel des Herrn im Traum und sagte: ‚Josef, Sohn Davids, fürchte dich nicht, Maria als deine Frau zu dir zu nehmen; denn das Kind, das sie erwartet, ist vom Heiligen Geist.‘ Als Josef erwachte, tat er, was der Engel des Herrn ihm befohlen hatte, und nahm seine Frau zu sich.“
Gerade diese Stelle des Evangeliums, warnt Klinikseelsorger Grün dürfe man keinesfalls wörtlich nehmen. Träume in der Bibel beschrieben nie Entscheidungen über Nacht sondern lange Entwicklungsprozesse im Inneren des Menschen. „Jemand fühlt sich völlig machtlos angesichts seiner Probleme, geht in die Stille und wird von der leisen Stimme Gottes verändert.“ Ein anstrengender, schwieriger, oft monatelanger Weg. Josef von Nazareth ist ihn gegangen. Der Bildhauer Ernst Barlach hat Josef mit einer übergroßen Ohrmuschel dargestellt.
Träume in der Bibel beschreiben immer lange Entwicklungsprozesse
Wie gewohnt spricht Josef auch beim Auftritt seines Engels kein Wort. Er schreitet zur Tat. Maria wurde seine Frau, das Ungeborene offiziell sein Kind. Glaubt man der katholischen Lehre, so ahnte Josef wohl schon bei der Hochzeit, dass Jesus sein einziger Nachkomme bleiben würde. „Das muss schwer auszuhalten gewesen sein in einer Gesellschaft, in der die Zahl der Söhne den Status eines Mannes definierte“, überlegt Thomas Grün. Abraham wurden Nachkommen wie Sand am Meer versprochen. Josef muss der eine Sohn genügen.
Noch zwei Mal wird der Engel im weiteren Verlauf der Weihnachtsgeschichte Josef im Traum begegnen. Beide Male gehorcht der Zimmermann wortlos. Nachdem die Weisen aus dem Morgenland die Krippe in Betlehem verlassen haben, befiehlt der Engel dem Josef, mit seiner kleinen Familie so schnell wie möglich das Land zu verlassen. König Herodes wolle den Jungen töten lassen. Mitten in der Nacht packt der Zimmermann Hab und Gut und flieht mit seinen Lieben über die Grenze nach Ägypten. Mehr als 400 Kilometer zu Fuß. Ein Teil des Weges führte durch die Wüste.
Wie lange die heilige Patchworkfamilie heimatlos im Asyl gelebt hat, wissen wir nicht. Per Traumphone gab der Engel dem Josef irgendwann Entwarnung. Josef, Maria und Jesus kehrten zurück nach Nazareth in Galiläa.
Drei Tage lang suchten die verzweifelten Eltern, bis sie ihren Sohn im Tempel wiederfanden
Fast dreißig Jahre vergehen, bevor wir der Zimmermannsfamilie im Neuen Testament wieder begegnen. Dreißig Jahre. Das ist eine lange Zeit. Es ist anzunehmen, dass Josef in all diesen Jahren ein enges Verhältnis zu seinem Zieh-Sohn aufgebaut hat. Vielleicht hat er manchmal sogar vergessen, dass dieses Kind gar nicht von ihm ist. „In den ersten Jahren wird sich vorwiegend die Mutter um den Jesus-Knaben gekümmert haben“, meint Thomas Grün. Dann kam das Debakel von Jerusalem. Während einer Wallfahrt verschwand der 12-jährige Jesus spurlos.
Drei Tage lang suchten die verzweifelten Eltern, bis sie ihren Sohn im Tempel wiederfanden, wo er in aller Seelenruhe mit den Schriftgelehrten debattierte. Pastoralreferent Grün: „Spätestens da wird Josef gesagt haben: Schluss! Jetzt lernt der Junge etwas Ordentliches.“
Josef brachte dem Jungen bei, wie man mit Beil, Säge, Hammer, Schabeisen, Messschnur und Zirkel umgeht. Wie man die großen Balken sägt, die das Dach tragen, und Türen einpasst. Gerd Theißen, dem Professor für Neutestamentliche Theologie an der Uni Heidelberg, verdanken wir ein wunderbares Gedankenmodell über die Beziehung zwischen Jesus und Josef. Theißen vermutet, dass der Zimmermann Josef einen Großauftrag beim Wiederaufbau der Großstadt Sepphoris an Land gezogen hatte.
Männergespräche des Morgens auf der Landstraße
Sepphoris lag nur sechs Kilometer von Nazareth entfernt und war einst die prachtvolle Hauptstadt von Galiläa gewesen. Im Jahre 4 vor Christus hatten die Römer die Stadt völlig zerstört. Herodes Antipas, der Sohn von Herodes dem Großen, ließ Sepphoris neu aufbauen. Im griechisch-römischen Stil mit prunkvollen Mosaikböden, sprudelnden Brunnen und eleganten Badehäusern. Sehr wahrscheinlich, dass Josef dort arbeitete und dass Jesus ihn begleitete.
Professor Theißen stellt sich vor, wie Josef und Jesus Morgen für Morgen zusammen sechs Kilometer hin und Abend für Abend zurück gewandert sind. Viel Zeit für lange Männergespräche. Welche Themen mögen Vater und Sohn diskutiert haben? Welche Ratschläge hat Josef seinem Stiefsohn mit auf den Lebensweg gegeben? Die Beziehung zwischen Jesus und Maria ist eng gewesen. Die zwischen Jesus und Josef war es auch.
Im rechten Seitenschiff der Ludwigshafener Innenstadtkirche St. Ludwig hängt eine Figurengruppe aus Kastanien- und Fichtenholz. Sie trägt den Titel: „Josef im Dialog mit Jesus als Azubi“. Man sieht Josef und sein Sohn Jesus als Bauhandwerker in einer Arbeitspause. „Vater“ und „Sohn“ befinden sich im Dachgebälk eines Hauses im Rohbau. Beide Männer tragen moderne Arbeitskleidung mit klobigen Sicherheitsschuhen. Josef hat gerade seine Säge abgesetzt. Jesus sitzt auf einem Balken, hält eine Bauzeichnung in den Händen und sieht zu ihm auf. Der Blick, mit dem die beiden Männer einander ansehen, zeugt von Vertrauen und Vertrautheit. Ein eingespieltes Team.
Papst Franziskus: „Wenn ich ein Problem habe, schreibe ich es für Josef auf einen Zettel. Damit er davon träumt.“
Der Südtiroler Bildhauer Gebhard Piccolruaz hat die ungewöhnliche Skulptur 1999 geschnitzt. Der nicht weniger ungewöhnliche Josef aus Siegelsbach entstand 1971 im Atelier des Würzburger Künstlers Otto Sonnleitner. Beide Kunstwerke legen Zeugnis ab von der Emanzipation des Josef von Nazareth in den letzten fünf Jahrzehnten.
1962 nahm der Konzilspapst Johannes XXIII. den Heiligen in den römischen Messkanon auf. Der Text war bis dahin seit 604 nicht mehr geändert worden. Seit 2013 wird Josef im katholichen Hochgebet erwähnt. Und 2015 ist er als Patron der Flüchtlinge allgegenwärtig. „Josef hat ganz das, was heute mehr und mehr verloren geht“, resümiert der Heidelberger Experte Thomas Grün. „Die Fähigkeit, in die Stille zu gehen und zur Ruhe zu kommen.“
„Ich liebe den heiligen Josef sehr“, gestand Papst Franziskus kürzlich bei seinem Besuch in Manila. „Er ist ein starker und ein schweigsamer Mann. Auf meinem Schreibtisch habe ich ein Bild des heiligen Josefs, der schläft. Und schlafend leitet er die Kirche! Ja! Er kann es, wir wissen das. Und wenn ich ein Problem habe, eine Schwierigkeit, dann schreibe ich es auf ein kleines Blatt und schiebe es unter den heiligen Josef, damit er davon träumt!“
Wie wäre es der heiligen Familie wohl ergangen, wenn sie heute als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen wären?
Vincenzo Petracca, der evangelische Citykirchen-Pfarrer von Heidelberg, hat in seiner Weihnachtsbotschaft auch über Josef nachgedacht. Er stellt sich vor, wie es der heiligen Familie anno 2015 in Deutschland ergangen wäre. „Gäbe Josef im heutigen Asylverfahren als Fluchtgrund an, dass ihm ein Engel erschienen sei und gesagt habe, er solle mit seiner Familie fliehen, würde unser Bundesamt sicherlich den Bescheid ausstellen: ‚Asylantrag offensichtlich unbegründet‘.“