Stille Nacht im Bergland. Es ist klirrend kalt, doch die Sterne glitzern und die Glut des Feuers spendet sanfte Wärme. Die Schafe rücken zusammen, die Hirten schlagen ihre Decken um sich. Plötzlich steht er da. Der Engel. Und alles ist anders.
Der Himmel gleißend weiß, die Sterne verschwunden, die Luft wie elektrisch geladen. Die Hirten sinken auf die Knie. Sie zittern. Dann Worte. Sanft wie ein Windhauch, grollend wie Donner: „Fürchtet Euch nicht“.
Das ist leichter gesagt als getan. Ein biblischer Engel hat nichts gemein mit den niedlich-geflügelten Kleinkinder, die uns von barocken Altären oder von Weihnachtsbäumen entgegenlächeln. Er ist auch kein verstorbener Mensch, dem im Himmel Flügel gewachsen sind. Nein, ein biblischer Engel ist ein machtvolles Wesen, groß, fremd, unnahbar, gebieterisch. Er erscheint in einer Aura überirdischen Lichts, trägt mitunter ein Flammenschwert und verkündet stets das Ende der gemütlichen Routine.
„Ein jeder Engel ist schrecklich“, schrieb Rainer Maria Rilke, der Dichter
Wer einem Engel begegnet, dessen Leben wird nie wieder so sein, wie es war. Das galt für die Hirten an Weihnachten vor zweitausendsechzehn Jahren. Und das gilt heute noch. „Ein jeder Engel ist schrecklich“, warnt Rainer Maria Rilke, der Dichter. Nähern wir uns den Engeln also lieber auf Zehenspitzen.
Alle Religionen der +Menschheitsgeschichte kennen fliegende Himmelswesen. Man findet Engel im Islam, im Judentum und im Hinduismus. Es gab geflügelte Götterboten schon bei den Sumerern, den Babyloniern, den Ägyptern, den Griechen und den Römern. Kurz: Der Glaube an Engel ist so alt wie die Menschheit und damit deutlich älter als der Glaube an den christlichen Schöpfergott. Was dem säkularen 21. Jahrhundert ganz gut ins Lebenskonzept zu passen scheint. Alle Umfragen melden, dass heutzutage mehr Menschen an Engel glauben als an Gott.
Heute glauben mehr Menschen an Engel als an Gott
Dabei ist das eigentlich schwierig zu denken. Der Name „Engel“ stammt vom griechischen Wort „angelos“, was „Bote“ oder „Abgesandter“ bedeutet. Engel agieren also nie aus eigenem Antrieb, sondern stets im Auftrag ihres Herrn. „Gott kann von Menschen, die auf der Erde leben, nicht unverhüllt geschaut werden, deshalb erscheint er ihnen in Form eines Boten“, definieren die Kuratoren der großen Engelschau im Diözesanmuseum Freising. Der Engel als Zwischenwesen. Stark genug, um den Anblick Gottes auszuhalten, selbstbeherrscht genug, um den störrischen Eigensinn der Menschen zu ertragen. Zumindest meistens.
Im Buch Numeri zückt ein Engel schon mal verärgert sein Schwert, um den Seher Bileam zu zerteilen, weil er den Sendboten Gottes einfach ignoriert hat. Der Esel rettet Bileam das Leben. Und als sich der Prophet Habakuk nicht traut, nach Babylon zu gehen, wo Daniel in der Löwengrube festsitzt, schleppt ihn der Engel kurzerhand an den Haaren dorthin. Doch das sind glücklicherweise die Ausnahmen.
Die Aura eines Engels schüchtert so ein, dass man nur noch sprachlos starrt
128 Auftritte von Engeln beschreibt das Alte Testament der Bibel. 175 Mal erscheinen die Boten Gottes im Neuen Testament. In fast allen Fällen verläuft der Austausch zwischen Himmel und Erde konfliktfrei, wenn auch nicht sehr gesprächig. Die Aura eines Engels scheint die Menschen so einzuschüchtern, dass sie sprachlos starren und dem Besucher das Reden überlassen. „Fürchte dich nicht“ sind denn auch durchgängig die ersten Worte der Engel. Sie tragen bei ihren Botengängen auf die Erde übrigens nie Flügel. Im Himmel schon.
„Zehntausendmal zehntausend und tausendmal tausend Engel“ sitzen um Gottes Thron, schildert der Prophet Johannes in seiner „Geheimen Offenbarung“. Eine poetische Formulierung für „unendlich viele“. Aber auch für „unendlich verschiedene“. Denn Engel ist keineswegs gleich Engel. „Die Himmel sind bewohnt von einer Unmenge komplizierter, differenzierter und sehr aktiver Kreaturen“, schreibt der rumänische Philosoph Andrei Pleșu, ein passionierter Engelforscher.
Vorsicht: Die Köpfe der Cherubim haben vier Gesichter!
Es gibt Engel mit Stierfüßen, Engel mit tausend Augen, Engel in Rüstung und Engel, die aussehen wie Flammenräder. Es gibt Engel mit zwei Flügeln, mit vier Flügeln und sogar mit sechs Flügeln. Das sind die Seraphim. „Mit zweien decken sie ihr Antlitz, mit zweien decken sie ihre Füße und mit zweien fliegen sie“, berichtet der Prophet Jesaja. Besonders in Acht nehmen sollte man sich vor den flammenden Blicken der Seraphim. Ihnen können selbst Engel kaum standhalten.
Verglichen damit wirken die Cherubim recht harmlos, wenn auch nicht wirklich vertrauenserweckend. Ihr Kopf hat vier Gesichter. „Vorn gleich einem Menschen, zur rechten Seite gleich einem Löwen, zur linken Seite gleich einem Stier und hinten gleich einem Adler“, berichtet der Prophet Ezechiel.
Wie verständigen sich Engel? Sicher nicht durch Sprache.
Um angesichts solch mächtiger Kreaturen die Fassung zu bewahren, haben die Menschen schon früh begonnen, Ordnung in die himmlischen Heerscharen zu bringen. Am erfolgreichsten agierte ein Mönch, der im fünften Jahrhundert nach Christus in Syrien lebte. Er lieh sich aus der Apostelgeschichte das klangvolle Pseudonym Dionysios und entwarf eine Lehre von den „Chören der Engel“. Der Name ist wohl gewählt. Besteht doch die erste und oberste Aufgabe aller Engel darin, Gott unablässig Lob zu singen.
Dionysios unterteilt den Himmel in Anlehnung an die göttliche Dreifaltigkeit in drei mal drei Abteilungen. Ganz oben, im direkten Kontakt zu Gott residieren die Seraphim, die Cherubim und die Throne. Sie sind die mächtigsten Engel und meistens in die Pläne Gottes eingeweiht. Seraphim, Cherubim und Throne kümmern sich kaum um die Menschen und übernehmen niemals Botengänge zur Erde. Direkt unterhalb des göttlichen Throns sitzen die Heerscharen, die Mächte und die Gewalten. Und zu Füßen Gottes ist der Platz der Fürsten, der Erzengel, der Schutzengel. Das sind die Boten, die zu den Menschen gesandt werden.
Vielleicht besprechen sich Engel durch Blicke. Wie Verliebte es tun.
Im Laufe der Jahrhunderte hat man viel darüber spekuliert, wie Engel wohl miteinander kommunizieren. Dass im Himmel gesprochen wird, ist unwahrscheinlich. Sprache ist ein recht primitives Kommunikationsmittel, das unablässig Missverständnisse produziert. Worte machen alles falsch. Vielleicht teilen Engel einander ihre Gedanken durch Licht mit. Oder durch Gesang. Oder durch Farben.
Die hübscheste Theorie stammt von dem Leipziger Physiker und Philosophen Gustav Theodor Fechner. Ende des 19. Jahrhunderts kam er in seiner „Vergleichenden Anatomie der Engel“ zu dem Schluss, dass Engel sich durch Blicke besprechen. Wie Verliebte es tun. „Die Augensprache der Liebe ist eine Vorbedeutung der Sprache der Engel.“
Einen Raphael hättern wir alle gern. Am liebsten rund um die Uhr.
Womit wir bei den freundlichen Engeln wären, die wir so viel lieber mögen, als diese gebieterischen Mächte und Gewalten. Raphael beispielsweise ist wunderbar. Ein Traum. Der Inbegriff eines Schutzengels. Das Buch Tobit erzählt, dass ein frommer Mann erblindet. Deshalb schickt er seinen einzigen Sohn Tobias in eine ferne Stadt, wo er Geld deponiert hat. Ein Fremder bietet an, Tobias zu begleiten. Die beiden überstehen allerlei Gefahren, bis sich schließlich herausstellt, dass es sich bei dem Begleiter um den Erzengel Raphael handelt, um einen „von den sieben heiligen Engeln.“
Solch einen Raphael hätten wir natürlich alle gern. Am liebsten rund um die Uhr. Einen eigenen Engel, der beschützt und liebt, der Trost und Selbstwertgefühlt gibt und sagt, wo es lang geht.
Wer weiß, vielleicht steht er ja plötzlich da. Der Engel. Und alles ist anders.
Nicht umsonst stammt der mit weitem Abstand beliebteste Taufspruch aus Psalm 91: „Denn er hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen, dass sie dich auf den Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest.“ Nicht umsonst quillt das Internet über von Schutzengelseiten, Schutzengelrufern, Schutzengelphones oder Schutzengelkarten.
Ob all diese Mittelchen irgendetwas helfen, ist fraglich. Auch Schutzengel sind und bleiben Boten. Sie agieren nie selbständig, sondern immer nur im Auftrag. Gott sei der Adressat der Gebete und nicht der Engel, wurde Martin Luther nie müde zu predigen.
Doch wer weiß, vielleicht steht er ja plötzlich da. Der Engel. Und alles ist anders.