Auf einmal war er da. Der Engel. Gewaltig wie eine Gewitterwand, fluoreszierend wie tausend Nordlichter und innerlich glühend wie ein Feuerball. Mit weit ausgebreiteten Schwingen schwebte er am Himmel und sang. Eine Melodie so stark und rein, so glockenhell und lieblich, wie sie noch nie ein Mensch zuvor gehört hatte.
Die Hirten unten auf dem Feld sanken auf die Knie, ihre Hunde begannen zu fiepen, die Schafe drängelten sich zu einem Knäul. Dann Worte. Laut, tief, wohltönend: „Fürchtet Euch nicht.“
Niemand interessiert sich mehr für seine Arbeit, wenn ein Engel auftritt.
Die Hirtenweihnacht des Lukas-Evangeliums ist an Magie kaum zu übertreffen. Weil das Erscheinen eines Engels mit einem Flügelschlag alles menschliche Streben marginal macht. Niemand interessiert sich mehr für seine Arbeit, sein Nachtlager oder das Abendessen, wenn ein Engel auftritt. Man stürzt einfach los. Ohne Zögern, ohne Worte, ohne Gepäck.
So wie die Hirten, die sogar ihre Schafe zurückließen, nur um dem Engel zu folgen. Es ging über Stock und Stein, die Hirten stolperten durch die schwarze Finsternis, sie keuchten, sie stürzten über Baumstämme, schlugen sich die Knie blutig, doch keiner jammerte. Niemand blieb zurück.
Bis sie endlich den Stall erreichten, ein schäbiges Bauwerk auf freiem Feld. Und dann sahen sie, was noch nie ein Mensch zuvor gesehen: Die Wolken am Himmel wichen zur Seite, das Firmament wurde taghell, obwohl es tiefe Mitternacht war. Dann erschienen Myriaden von leuchtenden Gestalten in strahlendem Weiß. Sie jubilierten und frohlockten, trillerten, schillerten und sangen: „Ehre sei Gott in der Höhe.“ Eine Geschichte über Engel. Als Präsent zur Weihnacht.
Die Nacht ist eine Zeit vermehrter Aufmerksamkeit. Wir sehen genauer und hören besser.
Engel kommen meist nachts. Weil die Nacht eine Zeit vermehrter Aufmerksamkeit ist. Wir hören besser in der Nacht, wir sehen genauer hin in der Nacht, wir schmecken und riechen deutlicher. Vor allem aber vertrauen wir nachts auch Stimmen, deren Relevanz wir bei Tageslicht leugnen: Unseren Träumen, unseren Ahnungen, den Worten der Engel.
Der Erzengel Gabriel kam in der Nacht zu Maria. Josef erhielt im Traum die Botschaft, er solle mit Frau und Kind nach Ägypten fliehen. Als Paulus mit seinem Schiff in einem Orkan kenterte, hatte ihm ein Engel in der Nacht zuvor verraten, wo die rettende Insel lag. Und nun wies die ganze himmlische Heerschar den Hirten den Weg zum göttlichen Kind.
„In der Nacht von Jesu Geburt finden alle Engel-Erscheinungen ihre letzte unüberbietbare Steigerung“, schreibt der Koblenzer Theologieprofessor Rainer Schwindt in seinem Standardwerk über den „Gesang der Engel“. An Weihnachten trete der gesamte „angelische“ Hofstaat auf den Plan, um „die Menschwerdung Gottes zu verkünden.“ Vielleicht ist das ja heute auch noch so. Nur sind wir am Heiligen Abend viel zu beschäftigt, um all die Engel zu bemerken.
Wo Engel sind, da ist immer auch Musik. Garantiert.
Ganz anders Henoch. Er hat sein ganzes Leben lang nur ein Ziel verfolgt: Das Reich der Engel kennenzulernen. Und er hat es geschafft. Im letzten Jahrhundert vor Christi Geburt, wahrscheinlich in Äthiopien. Mehr weiß man vom irdischen Leben des Henoch nicht. Wohl aber von seinem Rundgang durchs Reich der Engel. Der Bericht beginnt mit den schönen Worten: „Ein Sturmwind riss mich von der Erde und setzte mich am Ende des Himmels ab.“ Wo auch immer das sein mag.
Das erste was Henoch sah, waren „tausend mal tausend und zehntausend mal zehntausend“ Engel, die nie schliefen, weil sie keine Erholung brauchten, sondern Tag und Nacht immerfort Gott priesen. In den schönsten und in den höchsten Tönen. Wo Engel sind, soviel können wir schon als gesichert festhalten, da ist immer auch Musik.

Direkt neben dem Gottesthron, berichtet Henoch, standen die Erzengel. Michael, Gabriel, Raphael, Uriel … Riesengroß und umflort von „schneegleichem“ Glanz. Die Erscheinung der anderen Lebewesen, die zusammen mit den Engeln den Gottesthron flankierten, war deutlich anspruchsvoller: Die Seraphim, die Cherubim und die Ophanim sind „mächtigen monsterähnliche Tierwesen“ (Professor Schwindt), die auch der Prophet Ezechiel in seiner Vision des Himmels en détail beschreibt. Mehr als neunzig Mal werden diese Himmelskreaturen im Alten Testament erwähnt. Das ist oft.
Die Begegnung mit einem Seraphen ist für jedes lebende Wesen todbringend.
Die Seraphim, so berichtet der Prophet Jesaja, sehen aus wie riesige, hochgiftige Cobra-Schlangen, die fliegen können. Die Seraphim beißen und sind so giftig wie Skorpione. Sie gehen aufrecht, zischen gefährlich und besitzen sechs Flügel. Mit den oberen beiden schützen sie stets ihre Augen vor dem Glanz Gottes. Die Begegnung mit einem Seraphen ist für jedes lebende Wesen todbringend. Also, Vorsicht!
Es gibt sogar die Vermutung, dass ursprünglich alle Schlangen so ausgesehen haben wie die Seraphim. Vielleicht in etwas kleinerer Form. Doch dann kam die Geschichte mit Eva und dem Apfel. Zur Strafe verdammte Gott alle Schlangen dazu auf dem Boden zu kriechen. Nur die Seraphen durften weiter aufrecht gehen.
Die Cherubim haben die Gestalt eines Löwen und den Kopf eines Menschen.
„Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen?“, dichtete einst Rainer Maria Rilke. „Und gesetzt selbst, es nähme einer mich plötzlich ans Herz: Ich verginge von seinem stärkeren Dasein.“
Die Cherubim sind die Sänftenträger Gottes. Gewaltige Lebewesen mit Adlerschwingen, die sie unter dem Gottesthron zusammenlegen, um ihn zu halten. Die Cherubim haben die Gestalt eines Löwen und den Kopf eines Menschen. Sie waren es wohl auch, die einst den Garten Eden bewachten. Und dann gibt es noch die Ophanim, auch „Throne“ genannt. Sie sehen aus wie riesige, mehrdimensionale Räder mit Speichen. Gott benutzt sie als Streitwagen. Jeder Ophanim besitzt mehr als tausend Augen auf der Außenseite seiner Räder. Im ganzen Kosmos gibt es nichts, was diesen Augen verborgen bleibt. Aber natürlich können auch diese lebendigen Räder traumschön singen.
Wie martialisch die Engel auch aussehen mögen. Sie sind immer nur die Boten Gottes.
Pfarrer Gunnar Garleff stammt aus Kiel an der Ostsee. Wie alle Menschen des Nordens tut er sich schwer mit Visionen, Gesichten und Ausflügen in den Himmel. An der See hat man es lieber handfest. Doch weil Pfarrer Garleff nun schon seit vielen Jahren an der evangelischen Friedenskirche in Heidelberg-Handschuhsheim wirkt, macht er sich inzwischen auch Gedanken über Engel. Vor allem über das Verhältnis, das die Menschen zu ihnen haben. Da nämlich, findet Garleff, sei in den letzten Jahren „etwas sehr verrutscht“.
Engel, erklärt Gunnar Garleff, mögen zwar machtvolle, gewaltige Wesen sein, sie agierten jedoch ausschließlich auf das Geheiß Gottes. Wie martialisch auch immer sie aussehen mögen, „die Engel sind nur die Boten.“ Wenn ein Mensch beschließt, nicht an die Existenz Gottes zu glauben, dürften für ihn also eigentlich auch die Engel keine Rolle mehr spielen.
Doch erstaunlicherweise geschieht momentan genau das Gegenteil, beobachtet Pfarrer Garleff: Immer mehr Menschen leugnen zwar die Existenz Gottes, glauben aber, dass die Engel ihre himmlischen Beschützer sind. Offenbar sei das für sie angenehmer und leichter zu glauben, vermutet der Handschuhsheimer Pfarrer. „Der christliche Gott ist ja ein leidenschaftlich liebender, ein strenger und manchmal auch ein zorniger Gott. Und auch Jesus hat durchaus verstörende Dinge gesagt, getan und gefordert.“
Eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens können Engel niemals geben.
Die esoterischen Engel hingegen seien immer nur lieb, nett und brav. „Die strenge, machtvolle Seite Gottes fehlt ihnen völlig“, stellt Gunnar Garleff fest. Sein Eindruck sei, dass man mit Engeln schon etwas Positives ausdrücken wolle, das über das rein Irdische hinausweist. Schutz beispielsweise. Stärke. Fürsorge. Oder Rückendeckung. Aber eine endgültige Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens, könne seiner Meinung nach ein Engel niemals geben. „Für mich“, gesteht der Handschuhsheimer Pfarrer, „ist es eher ein Trost, mir vorzustellen, wie die Verstorbenen im Himmel mit den Engeln singen. „
An Weihnachten ertönt wunderhell das Gloria aus dem geöffneten Himmel.
Unsere Hirten auf dem Feld sind mittlerweile bei der Krippe angekommen. Wunderhell ertönt jetzt aus dem geöffneten Himmel das Gloria von abertausend Engelstimmen. Ein überirdisches Leuchten liegt über der Landschaft. Langsam treten die Hirten näher. Sie sehen eine Frau und einen Mann mit einem gerade geborenen Säugling im Arm. Eine ärmliche, aber wundervoll friedliche Szenerie.
Niemand ahnt, dass schon wenige Stunden später der Tetrarch Herodes den Befehl geben wird, alle neugeborenen Kinder zu ermorden. Dass Maria und Joseph in letzter Sekunde nach Ägypten entkommen. Wieder gewarnt und geleitet von einem Engel ….
Doch so weit sind wir noch nicht. Jetzt ist erst einmal Weihnachten. Und wer weiß, vielleicht springt ja plötzlich die Tür auf, Helligkeit und wundervoller Gesang flutet in den Raum. Und dann steht er da, der Engel. Und alles ist anders.