Der Plan war eigentlich recht simpel: Die Zahl der evangelischen Gemeindeglieder schrumpft, die Kirchensteuer geht zurück, also muss jeder Kirchenbezirk 30 Prozent seiner Gebäude loswerden. Das beschloss die Badische Landessynode 2014.
Weil die Kirchen tabu sind und die Pfarrhäuser bewohnt, richtete sich das Augenmerk rasch auf die Gemeindehäuser. Doch einfach ersatzlos aufgeben wollte mansie nicht. So reifte eine Idee. Was, wenn es gelänge, die Gemeinderäume in die Kirchen zu integrieren? Wäre doch eine Win-Win-Situation. Die Kirchen stünden unter der Woche nicht leer, und die Gemeindehäuser könnten verkauft werden.
Da schwebt ein Gemeindesaal über dem Kirchenraum. Oder der Altar segelt wie ein Schiff hinaus ins Weite.
Die ersten Modellprojekte waren Hingucker. Da schwebte der Gemeindesaal wie eine gläserne Seifenblase über dem Kirchenraum (Mannheim-Käfertal). Oder die Gruppenräume formten den Sockel, auf dem Altar und Gemeinde wie in einem Schiff dahinsegelten (Mannheim-Rheinau). Das war neu, das war toll, das wollten alle haben. Auch die Katholiken, die inzwischen ebenfalls ihre Immobilien reduzieren müssen. Weshalb wir paradoxerweise mitten in der Krise des Glaubens einen sakralen Bauboom erleben. Zu Besuch auf den heiligen Baustellen.
St. Bartholomäus in Heidelberg-Wieblingen ist eine filigrane Stahlbetonkirche aus den frühen Sechzigerjahren. Der Campanile steht frei, die grazilen Pfeiler tragen ein hauchzartes Flachdach, die Wände lösen sich dank der Künstlerfenster von Emil Wachter in farbiges Licht auf. Eine Kirche des Südens. Doch viel zu groß, zu zugig und zu unpraktisch für die 2100 Katholiken in Wieblingen. Sie störten sich vor allem an dem riesigen erhöhten Altarraum, der stets wie eine Schranke zwischen Priester und Gemeinde wirkte.
In Heidelberg-Wieblingen steht ein Einfamilienhäuschen mitten in der Kirche.
Damit ist es jetzt vorbei. Wo einst der schwarze Marmoraltar stand, wächst heute das neue Gemeindehaus empor. Es hat die Größe eines Einfamilienhäuschens und steht frei in der Kirche ohne Kontakt zum ätherischen Dach. Im Erdgeschoss befinden sich die Gruppenräume, die Sanitäranlagen und der Aufzug. Das obere Stockwerk dient als Saal mit integrierter Küche. Durch große Glasscheiben in der Rückwand der Kirche blickt man auf das Außengelände des Kindergartens.
Der verkleinerte Kirchenraum von St. Bartholomäus kuschelt sich an den Rücken des Gemeindehauses. 220 Sitzplätze gruppieren sich als intimes Hufeisen um das Altarpodest. Auf ihm steht noch immer der schwarze Marmoraltar, allerdings um zwei Drittel geschrumpft. Vielleicht ist das ein Zeichen. „Die Ausstattungsgegenstände sind alle noch vorhanden“, sagt Pfarrer Johannes Brandt, der stellvertretende Leiter der Heidelberger Stadtkirche. „Sie wurden nur den kleineren Dimensionen angepasst.“ 2,5 Millionen Euro, schätzt Brandt, wird das Wieblinger Two-in-One-Projekt kosten. „An Weihnachten wollen wir den ersten Gottesdienst in unserer neuen Kirche feiern.“
Aus den 224 Seelsorgeeinheiten im Erzbistum Freiburg werden 40 Großpfarreien.
Noch klingt dieser Satz für uns selbstverständlich. Schließlich gibt es in Wieblingen ja jedes Wochenende eine Eucharistiefeier. Schon in wenigen Jahren wird das aber nicht mehr so sein.
Die Erzdiözese Freiburg hat jetzt ihr Zukunftsmodell „Pastoral 2030“ vorgestellt: Die bisher 224 Seelsorgeeinheiten werden zusammengefasst zu 40 Großpfarreien mit jeweils etwa 45000 Gläubigen. Weil die Priester fehlen. Jede dieser neuen Pfarreien erhält ein „Pastorales Zentrum“ an einem „Zentralort“, in dem die Seelsorge gebündelt und zu „verlässlichen Zeiten“ Eucharistie gefeiert wird.
Die Kirchen in den Dörfern und Stadtteilen bekommen den Pfarrer dann nur noch selten zu Gesicht. Sie sollen sich in „pastorale Nahorte“ verwandeln, „wo Frauen und Männer für das kirchliche Leben Verantwortung übernehmen.“ Frei, kreativ, vielgestaltig, kunterbunt. Mit starren Bänken und einer straffen Ausrichtung auf den Altar lässt sich diese Vision nicht verwirklichen. Wohl aber mit einer flexiblen Integration à la Wieblingen. „St. Bartholomäus ist ein Pilotprojekt für das Gemeindeleben der Zukunft“, nickt Werner Wolf-Holzäpfel, der Leiter des Erzbischöflichen Bauamts in Heidelberg. „Wir stehen am Anfang einer sehr dynamischen Entwicklung.“
Die Kirche der Zukunft: Ein kunterbunter Treffpunkt im Dorfes
Gemeindehaus, Krabbelstube, Raum der Stille, Probebühne, Konzertsaal, Vesperkirche, Seniorencafé, Yogatreff, Pfadfinderlager – all das und noch mehr soll die Kirche im Dorf künftig sein. Ein Lebensmittelpunkt für die Gläubigen. „Je weiter der Pfarrer weg ist, desto wichtiger wird die vielfälltige Nutzungsmöglichkeit“, überlegt Architekt Wolf-Holzäpfel, sichtlich erfreut über die neue Herausforderung. „Die Möglichkeit zu einer architektonischen Transformation birgt jede Kirche.“
Die Kirche der Zukunft, visioniert das evangelische Kirchenbauinstitut in Marburg, könnte wieder zu einem Kristallisationspunkt in den zersiedelten Dörfern und Stadtteilen werden. Eine „neue, überdachte Piazza“, in der sich das Leben abspielt, wie es im Mittelalter der Fall war.
Ob wir langfristig jedoch zwei „integrierte“ Kirchen in jedem Dorf brauchen, ist fraglich. Werner Wolf-Holzäpfel jedenfalls sieht in der Entwicklung eine große Chancen für das ökumenische Miteinander. Zumal sich die Konfessionen „in ihren Vorstellungen von Kirchenräumen immer mehr annähern“. In Mannheim-Neuostheim plant Wolf-Holzäpfel sogar schon eine komplett ökumenische Kirche. Die erste in Baden. In St. Pius, einem ehemals katholischen Gotteshaus aus den Sechzigerjahren, wird der Tabernakel unmittelbar hinter dem Altar mit der Lutherbibel stehen. Und weil in Neuostheim auch katholische Gottesdienste im byzantinischen Ritus gefeiert werden, erhält St. Pius zusätzlich eine kleine gläserne Kapelle gleich links neben dem Eingang. Geht offensichtlich alles. So man nur will.
Sandhausen verlegt das gesamte evangelische Leben in die Kirche
Die evangelische Christuskirche in Sandhausen ist ein neugotisches Gotteshaus mit hohem spitzen Turm, breiter Empore und einem monumentalen Heiland im Mittelfenster. Hermann Behaghel, der bienenfleißige Evangelische Oberbaurat, hat die Christuskirche 1866 entworfen. Als Zwilling. Die Schwester steht in Ladenburg.
Längst ist die Sandhäuser Kirche zu groß für ihre Gemeinde. Altar und Ambo stehen unpraktisch-isoliert im Chor meilenweit von den Bänken entfernt. Im Winter ist es eiskalt. Ein Umbau täte schon lange Not, doch die Gemeinde ist leider seit 2011 pleite.
Sandhausen mussten alle Immobilien bis auf einen kleinen Kindergarten verkaufen.
Der Finanzcheck der Landeskirche ermittelte einen Investitionsbedarf von rund drei Millionen Euro, nur um die beiden Pfarrhäuser, die beiden Gemeindehäuser und die beiden Kindergärten zu erhalten. Weil die 5100 Sandhäuser Protestanten soviel Geld nicht hatten, wurden sie unter die Vormundschaft der Landeskirche gestellt. „Haushaltssicherungsprogramm“ nennt sich das Instrument.
Es ist ein sehr saurer Apfel. Die Sandhäuser mussten alle Immobilien bis auf einen kleinen Kindergarten verkaufen. Was tatsächlich gut Geld brachte, denn Sandhausen liegt vor den Toren Heidelbergs. Doch die Gemeinde sah sich nun gänzlich zurückgeworfen auf ihre Kirche. Für sie trägt glücklicherweise die Evangelischen Stiftung Pflege Schönau die Baupflicht.
Ein Architektenwettbewerb wurde ausgeschrieben mit der Aufgabenstellung, das gesamte evangelische Leben von Sandhausen in die Kirche zu verlegen. Gewonnen haben die Wulf-Architekten aus Stuttgart. Sie schlagen vor, den schmalen Grünstreifen rund um das neugotische Gotteshaus mit einer Art Kapellenkranz zu bebauen.
Jeder Raum öffnet sich in die Kirche hinein, wo eine Art Piazza entsteht
In den „Kapellchen“ werden das Pfarrbüro, der Konfirmandensaal, die Gruppenräume, die Küche und vieles mehr untergebracht. Jeder Raum öffnet sich mit einer Tür in die Kirche hinein, wo tatsächlich eine Art Piazza entstehen soll. Ein Treffpunkt für die Gemeinde, in dem alles fließt. Das Mobiliar ist leicht und flexibel, selbst der Altar fährt auf Rollen. Einzig der alte Taufstein aus der Gründerzeit ist Fixpunkt. Er steht im neugotischen Chor direkt unter dem schwebenden Christus.
Der Entwurf ist eine schöne Idee. Absolut auf der Höhe der Zeit, allerdings nicht ganz billig. Rund sechs Millionen Euro wird der Umbau verschlingen.
Ein ganzes Jahr habe es gedauert, bis die Finanzierung stand, erzählt Pfarrer Bernhard Wielandt. Schwierig war vor allem die von der Landeskirche geforderte Rücklagenbildung. Jetzt könnte man in Sandhausen eigentlich mit dem Bau beginnen. Wenn da nicht der Denkmalschutz wäre. Er hat sein Veto gegen den Umbau eingelegt.
Der Denkmalschutz hat Veto eingelegt. Sandhausen steht fassungslos.
Die Denkmalschützer finden, dass die geplanten Kapellchen „die Sichtbarkeit des Kirchengebäudes deutlich einschränken“, berichtet Pfarrer Wielandt. Die vielen Türen halten sie ebenso für einen Stilbruch wie den Betonsockel am Eingang, der die Barrierefreiheit garantieret. Bernhard Wielandt steht ziemlich fassungslos vor diesen Vorwürfen. Der Pfarrer liebt seine Christuskirche und würde nicht tun, was ihre Aura zerstört. „Die Kirche ist ein Kulturdenkmal, das Wahrzeichen Sandhausens“, sagt Wielandt. Aber bislang war sie meist zugeschlossen gewesen. „Wenn die Gemeinde in die Kirche einzieht, intensiviert sich doch die Aufmerksamkeit auf dieses Denkmal. Es ist künftig immer offen und immer belebt.“
Tatsächlich ist die Nervosität der Denkmalschützer, von denen leider niemand Stellung nehmen wollte, verständlich. Sie sorgen sich um die Heiligkeit der Gotteshäuser angesichts all der profanen Einbauten. „Es gibt ein Absprache mit dem Denkmalschutz, wonach die Kirchen völlig autonom über alles entscheiden können, was der Verkündigung dient“, überlegt der katholische Bauamtsleiter Werner Wolf-Holzäpfel.
Aber dienen Krabbelgruppen, Sekretariat und Rollstuhlrampe der Verkündigung? Konzerte und Gemeindefeste? Wenn es keine anderen Räume mehr gibt, als die Kirche? Viel Gesprächsbedarf.
Einbaulösungen sind immer die teuersten Lösungen
„Ein Kirchenraum ist etwas Lebendiges. Er darf nicht nur als Denkmal erhalten werden“, findet Andreas Maier, der Leiter der Abteilung Baufinanzen beim Evangelischen Oberkirchenrat in Karlsruhe. Maier ist von Haus aus Pfarrer, weshalb momentan zwei Seelen in seiner Brust schlagen. „Als Pfarrer finde ich die Umbauten toll. Als Finanzmann machen sie mir Bauchschmerzen.“
Die Einbaulösungen seien nämlich immer teure Lösungen. „Wir sparen ein Gebäude ein, investieren dafür aber sehr viel in ein anderes.“ So bekommt die Landeskirche ihr Finanzproblem nicht vom Tisch. „Die große Kunst wird es sein, nur dort zu investieren, wo wirklich etwas Neues entsteht“, überlegt Andreas Maier. „Und den Mut zu haben, dort Abschied zu nehmen, wo die Zeit vorbei ist.“
„Auf dem Land beobachten wir einen echten Traditionsabbruch“
Zumal die Einbauflut auch eher ein urbanes Phänomen ist. Auf dem Land sind die Kirchen einfach zu klein dafür. Und oft fehle dort mittlerweile auch schon die Nachfrage nach Gemeinderäumen, weiß Maier. „Auf dem Land beobachten wir einen echten Traditionsabbruch.“
Abreißen wird man die vielen schönen Landkirchlein aber trotzdem nicht. Sie werden auch ohne Gemeinde „in Dach und Fach“ erhalten. Als Pilgerkirchen. Als Kraftorte. Als spirituelle Quellen. „Kirchen sind durchbetete Räume“, sagt Finanzabteilungsleiter Andreas Maier. „In ihnen wird Gott spürbar und erlebbar. Das haben die Menschen immer gesucht. Das bleibt.“