Richtig realisiert hat er den Abschied noch nicht. Und die Eberbacher haben das wohl auch noch nicht. Das kommt erst, wenn sie wie gewohnt durch ihre Stadt gehen und nirgendwo mehr Ekkehard Leytz begegnen. 26 Jahre lang war der evangelische Dekan in Eberbach allgegenwärtig. Man traf ihn – gefühlt – an jeder Ecke. Freundlich und aufgeschlossen, immer gut gelaunt und zuversichtlich. Der ruhende Pol der Stadt. Das ist vorbei.
Dekan Leytz hat sich in den Ruhestand verabschiedet. Das Pfarrhaus steht leer, in dem seine Frau und er vier Kinder großgezogen, viel gelacht und zahllose Menschen getröstet haben. Das Ehepaar übersiedelt nach Karlsruhe. Ein Abschieds-Spaziergang mit dem Dekan durch „seine“ Stadt.
Am Neckarknie, wo der Fluss seinen nördlichsten Punkt erreicht, mochte bis ins 13. Jahrhundert hinein niemand siedeln.
Eberbach ist eine recht junge Gründung. Jedenfalls im Vergleich mit den Nachbarorten, die sich bis in die Steinzeit, zu den Römern oder auf frühchristliche Missionare zurückdatieren. Nur in den dichten Wäldern am Neckarknie, wo der Fluss seinen nördlichsten Punkt erreicht, mochte bis ins 13. Jahrhundert hinein niemand siedeln.
Dann kam Konrad von Eberbach, ein jüngerer Bruder des Grafen von Lauffen, und baute sich hier eine Burg. 330 Meter über dem Neckar, mittendrin im Urwald. Warum Konrad einen so schwer zugänglichen Wohnort gewählt hat, wird für immer sein Geheimnis bleiben.
Mit der Burg kamen die Siedler, vor allem Handwerker und Händler. Landwirtschaft hat in Eberbach nie eine große Rolle gespielt. Stattdessen baute man Mühlen in den Bachtälern und eine Schiffslände am Fluss. Wahrscheinlich gab es auch Straßen in den Odenwald hinein. Nach Erbach und Michelstadt. Vielleicht sogar nach Buchen und Walldürn.
Im katholischen Wallfahrtsort Walldürn ist der Protestant Leytz aufgewachsen.
In dem katholischen Wallfahrtsort ist der Protestant Ekkehard Leytz aufgewachsen. „Mein Vater war 1951 der erste evangelische Pfarrer in Walldürn“, erzählt der Dekan. „Da habe ich Diaspora gelernt.“ Nur sieben evangelische Mitschüler gab es in Leytz’ Jahrgang. 140 glaubten katholisch.
Besonders schwierig war der Fasching, erinnert sich der Dekan. Weil die Evangelischen da nicht mitgemacht haben. „Manchmal habe ich mich schon ausgegrenzt gefühlt.“ Kein Wunder, dass es Ekkehard Leytz in Eberbach von Anfang an gut gefallen hat. Hier sind die Protestanten in der Überzahl.
Im Mittelalter war Eberbach eine prachtvoll Stadt mit 12 Türmen
1330 kam Eberbach zur Kurpfalz, 1556 wurde es mit ihr reformiert. Die Stadt muss zu dieser Zeit einen prachtvollen Anblick geboten haben: Eine stattliche Mauer mit 12 Türmen schützte die Einwohner vor feindlichen Eindringlingen.
Kunterbuntes Fachwerk leuchtete an stattlichen Häusern. Das gotische Kirchlein am Markt, das sich vertrauensvoll an die Stadtmauer schmiegte, zählte sieben Emporen auf drei Seiten. Je zwei lagen übereinander. Die siebte sah die Kanzel nur von hinten. Sämtliche Sitzplätze waren für Männer reserviert. Die „Weiberstühle“ hatte man „grottenartig“ in die Mauer hineingebrochen.
Nachdem es vier Tage in Strömen geregnet hatte, schwoll der Neckarpegel auf die Rekordhöhe von 11,94 Meter an.
200 Jahre später hatten die Feuchtigkeit der Stadtmauer, der Dreißigjährige Krieg und der Pfälzer Erbfolgekrieg die gotische Kirche so mitgenommen, dass es „lebensgefährlich war, dort das Wort Gottes zu hören“, wie die Stadtchronik berichtet. Neu gebaut wurde trotzdem nicht, weil rund um den Marktplatz keine noch so winzige Baulücke mehr frei war und die Besitzer der umliegenden Häuser utopische Verkaufspreise forderten.
Der Neckar hat das Problem schließlich gelöst: Am 30. Oktober 1824, nachdem es vier Tage in Strömen geregnet hatte, schwoll sein Pegel auf 11,94 Meter an. Das ist bis heute das höchste dokumentierte Hochwasser. In den Gebäuden am Markt stand die braune Brühe bis zum Dach. Da war nichts mehr zu retten. Totalschaden. „Die Eberbacher zeigen ihren Besuchern gern die Hochwassermarken an der Stadtmauer“, lächelt Ekkehard Leytz. „Das ist so schön gruselig.“
Die neue Kirche strahlte die ruhige Eleganz des Klassizismus aus.
Während seines Theologiestudiums ist der Dekan weit herumgekommen. Er hörte in Neuendettelsau, in Tübingen, in München und schließlich in Heidelberg. „Wo ich mein Herz verloren habe, wie sich das für einen badischen Theologen gehört.“ Beim Frühstück nach dem Morgengottesdienst in der Peterskirche lernte der Dekan seine Frau kennen. Ellen Leytz hat Sonderpädagogik studiert. Drei Töchter und einen Sohn hat das Ehepaar. Inzwischen gibt es auch eine Heerschar von Enkeln. Langweilig wird dieser Ruhestand sicher nicht.
Die neue evangelische Kirche war 1841 fertig. Ein elegantes Bauwerk im Stil des Klassizismus, das sich nur über Treppen erreichen lässt. Eine Vorsichtsmaßnahme. Man weiß ja nie, was dem Neckar noch einfällt. Die evangelische Gemeinde von Eberbach war in der Bauzeit stark angewachsen. Weil der Großherzog die Badische Kirchenunion durchgesetzt hatte. Die Lutheraner und die Reformierten beteten jetzt gemeinsam als unierte evangelische Kirche.
Das ehemalige lutherische Gotteshaus in der Badgasse gibt es noch. Es ist heute eine Kneipe und liegt direkt gegenüber vom Traditionslokal „Zum Krabbenstein“. Das ist eines der ältesten Gasthäuser der Stadt und besitzt eine spektakuläre Fassade.
„Die Michaelskirche werde ich im Ruhestand sehr vermissen.“
Die Eberbacher Marktplatzkirche ist eine ruhige, klare Halle. So elegant und diszipliniert wie ein antiker Tempel. Zartgelbe Wände und helle dorische Säulen tragen eine weitläufige Empore. Die Orgel schwebt über dem Eingang.
1974 wurden die Bänke durch flexible Stühle ersetzt. Dadurch avancierte die Michaelskirche zum zweiten kulturellen Zentrum der Stadt neben der Stadthalle. Ausstellungen, Konzerte, Lesungen, Krippenspiele, Kinderchöre, Kabarett, Vorträge – in dieser Kirche ist eigentlich das ganze Jahr über etwas los. „Die Michaelskirche werde ich im Ruhestand sicher sehr vermissen“, seufzt Ekkehard Leytz.
Fehlt noch die Geschichte von der Taufe der Kirche. Jahrhundertelang stand sie anonym. Erst nach der Renovierung von 1974 beschloss man, ihr einen Namen zu geben. Bloß welchen? Eberbach rätselte, Eberbach grübelte, bis schließlich jemand hinabstieg ins Stadtarchiv. Freudestrahlend kehrte er zurück mit einem Hinweis auf den Erzengel Michael. Ein starker Name. Ein guter Name. Alle waren zufrieden.
Selbst dann noch, als sich Jahre später herausstellte, dass die Eberbacher Kirche ursprünglich nicht dem Erzengel Michael anvertraut war, sondern der Gottesmutter Maria. Michael wachte nur über einen Seitenaltar.
Osternächte im Kindergarten, Taizé-Gottesdienste in stockdunkler Kirche, Fastenbrechen mit Schokoladenhasen
1996 kam die Familie Leytz nach Eberbach. Die Pfarrstelle war vakant und man wollte sich das Städtchen mit seinen knapp 15000 Einwohnern ansehen. Es war Liebe auf den ersten Blick. „Für mich war sehr wichtig, dass es hier ein Gruppenpfarramt gibt“, erinnert sich Ekkehart Leytz. „Ich war nie ein Einzelkämpfer.“
Die Atmosphäre der Stadt hat die Familie Leytz – sie kamen aus Menzingen im Kraichgau – sofort begeistert. Und natürlich das hohe Niveau des kulturellen Angebots. Die Liebe zur Musik wird im Hause Leytz sehr groß geschrieben. Der Dekan selbst spielt Querflöte. „In der Eberbacher Musikschule haben unsere Kinder sofort eine Heimat gefunden.“
Der Dekan erzählt von Osternächten im Kindergarten, vom Ausbau des Jugendraums, von Taizé-Gottesdiensten in stockdunkler Kirche, vom Fastenbrechen mit Schokoladenhasen … „Wir hatten hier eine Superzeit!“
„Es tut der Gesellschaft gut, dass es die Feier des Heiligen gibt.“
Und Corona? Der Ekkehard Leytz seufzt. In diesen Jahren ist viel vertrocknet, sagt er. „Aber ich sehe schon wieder zarte, neue Triebe.“ Im Gemeindehaus beispielsweise hat sich eine evangelische Männergruppe formiert, die gemeinsam kocht. Auf hohem kulinarischen Niveau. Neuerdings backen die Männer auch. Für den Gemeindeadvent. „Das ist ein sehr lebendiger Kreis. Da ist Zukunft.“
Riesigen Zulauf haben auch die „Tauftage“ im Kloster Lobenfeld, an denen man sein Kind ganz informell Gott anvertrauen kann. „Im letzten Sommer hatten wir hier 13 Taufen an einem Tag“, berichtet Leytz stolz. „Das zeigt doch, dass die Menschen das Bedürfnis haben, dem lieben Gott für ihre Kinder zu danken.“
Extrem hoch sei auch das Interesse an den evangelischen Kindergärten im Dekanat. Man verstärke derzeit die Anstrengungen, den Kitas ein dezidiert evangelisches Profil zu geben.
Der Kern des evangelischen Lebens, betont Leytz, bleibt aber immer der Gottesdienst. Auch wenn die Reihen in der Kirche nicht mehr so voll sitzen wie früher. „Ich glaube, es tut unserer Gesellschaft gut, dass es diese Feier des Heiligen gibt. Deshalb bin ich ein ausgesprochener Freund von feierlichen, schönen Gottesdiensten mit guter Predigt. Wir als Kirche haben den Menschen doch wirklich etwas zu sagen.“
Das nüchterne Gebäude des evangelischen Dekanats birgt in seinem Inneren einen Schatz.
Der Weg führt jetzt am Neckar entlang. Das ist die „Schokoladenseite Eberbachs“, lächelt Ekkehard Leytz. Weil die mittelalterliche Stadtfront fast komplett im Original erhalten ist. Das ist ein kleines Wunder, denn der schwere Angriff amerikanischer Jagdbomber am Palmsonntag 1945 hat große Lücken in Fachwerkstruktur der Eberbacher Altstadt gerissen. Der riesige Pulverturm, den man im Sommer sogar besteigen kann, weist den Weg zum Leopoldsplatz. Hier stehen Schulter an Schulter das moderne Rathaus und das Dekanat des Kirchenbezirks Neckargemünd- Eberbach.
Das nüchterne Betongebäude in zartrosa birgt in seinem Foyer einen Schatz: Den Gesetzesstein der ehemaligen Synagoge, die am 9. November 1938 von den Nationalsozialisten niedergebrannt wurde. Niemand hat geglaubt, dass auch nur ein einziger Nagel dieses Inferno überlebt hat. Bis man 1978 im Neckar einen bearbeiteten Sandstein fand, der exakt dem „Gesetzesstein“ glich, der früher den Giebel des jüdischen Gotteshauses geziert hatte. Die zehn Gebote hat das Wasser verwischt, aber der Stein steht heute wohlbehütet im Foyer des Dekanats Neckargemünd-Eberbach. Als Mahnung an die Nachwelt.
Der Neckar fließt mitten durch den Kirchenbezirk hindurch und reißt ihn optisch auseinander.
2011 ist Ekkehard Leytz zum Dekan des Kirchenbezirks gewählt worden. Gerissen hat er sich um den Posten nicht. Er hat sich vielmehr in die Pflicht nehmen lassen. 30 000 Gläubige leben in den 29 Gemeinden des Kirchenbezirks. Es gibt 19 Pfarrstelle. Wie der sperrige Name schon andeutet, ist „Neckargemünd-Eberbach“ ein Kunstprodukt ohne großen inneren Zusammenhang. Der Neckar fließt mitten durch den Kirchenbezirk hindurch und reißt ihn auch optisch auseinander.
Zu „Neckargemünd-Eberbach“ gehören die abgelegenen Dörfer im Odenwald und im Kleinen Odenwald. Aber auch die reichen Pendlergemeinden an der B45 im Kraichgau sowie die Städ- te Neckargemünd und Eberbach. Diesen unorganischen Zusammenschluss zu führen, war schon in den letzten Jahren schwierig. Jetzt, da der radikale Sparkurs der Landeskirche greift, wird es noch schwerer. 30 Prozent seines Budgets muss der Kirchenbezirk einsparen. Das ist viel Geld. Wo soll man anfangen?
Bis 2032 geht die Hälfte der Badischen Pfarrer in den Ruhestand. Für viele gibt es keinen Nachfolger mehr.
Ekkehard Leytz bedrückt eine andere Zahl noch viel mehr: „Bis 2032 wird die Hälfte aller Badischen Pfarrer in den Ruhestand gehen. Für viele wird es keinen Nachfolger mehr geben, weil die Zahl der Theologiestudenten erschreckend zurückgegangen ist.“ Zwangsläufig muss die Landeskirche daher das Einzugsgebiet jedes Pfarrers vergrößern. „Für meinen Geschmack wird das alles viel zu groß“, sagt Leytz.
Auch von etlichen Gotteshäusern im Kirchenbezirk wird man sich künftig wohl verabschieden müssen. „Das reißt Lücken in die Identität der Dörfer und in die Präsenz des Glaubens“, sagt Leytz. Zumal es auch den Kirchenbezirk Neckargemünd-Eberbach wohl nur noch bis 2032 geben wird. Was danach kommt, weiß im Augenblick noch kein Mensch. „Ich sage meinen Pfarrerinnen und Pfarrern immer: Tut, was ihr könnt. Tut es mit vollem Herzen. Aber glaubt nicht, Ihr müsstet die Welt retten. Das könnt Ihr nicht. Das kann nur Gott allein.“