Abenteuer Fastenzeit

Spirituelle Mikroabenteuer sind aufregend und kosten praktisch nichts.

Pater Benedikt Pahl, der Prior der Heidelberger Abtei Neuburg, reist jedes Jahr nach Rom. Nicht weil der Papst ruft, sondern weil Benedikt in der ewigen Stadt gern Urlaub macht. Eines Tages jedoch fiel ihm auf, dass er in Rom eigentlich immer dieselben Wege geht. Kurz entschlossen bestieg der Mönch den nächstbesten Bus und fuhr bis zu dessen Endstation.

Benedikt landete in einem völlig unbekannten modernen Stadtviertel und fühlte sich, als habe er einen neuen Kontinent entdeckt. „Selten war ich so angefüllt mit Eindrücken wie an diesem Abend“, erinnert sich der Heidelberger Prior. Mikroabenteuer nennt man solche kleinen, spontanen Abweichungen vom Gewohnten. Sie machen wach und schärfen die Sinne. Genau das Richtige für die Fastenzeit. 

Rekorde und Resultate interessieren beim Mikroabenteuer nicht. Es geht einzig darum, die vertraute Routine zu durchbrechen.

Pater Benedikt Pahl ist der Prior der Abtei Neuburg in Heidelberg.

„Mikro“ meint klein. Sehr klein, winzig klein. Kein Mount Everest, keine Zugspitze, nicht einmal ein Katzenbuckel. Beim Mikroabenteuer interessieren weder Rekorde noch Resultate, sondern es geht einzig darum, die vertraute Routine zu durchbrechen und ein Stückweit über den eigenen Schatten zu springen.

Der Engländer Alastair Humphreys hat den Begriff erfunden. Seine Vorschläge für Mikroabenteuer: Eine Nacht mit dem Schlafsack im Freien verbringen. Mit dem Fahrrad ohne Landkarte und Handy drei Stunden lang immer geradeaus fahren. Den nächstbesten Nahverkehrszug besteigen, ohne zu wissen, wo er endet. „Der Reiz eines Abenteuers liegt in der Ungewissheit des Ausgangs“, schreibt der Autor. „Wie weit ich dabei von zuhause weg bin, spielt keine Rolle.“ 

Man lernt, die Fixierung auf ein Ziel aufzugeben und sich einfach treiben zu lassen. Wer nirgends ankommen muss, hat Zeit für die Kleinigkeiten.

Warum nicht einfach in irgendeinen Bus steigen oder barfuß durch die Stadt gehen?

Weshalb unser erstes spirituelles Mikroabenteuer in der Fastenzeit direkt an der eigenen Haustür beginnt. „Gehen wir doch einfach mal los und biegen an jeder dritten Kreuzung ab“, schlägt Fabian Kliesch, der evangelische Pfarrer von Heidelberg-Kirchheim, vor. „Erst nach rechts, dann nach links, dann wieder nach rechts und immer so weiter.“ Das ist der perfekte Einstieg ins „Abenteuer Fastenzeit“, findet Kliesch.

Weil man lernt, die Fixierung auf ein Ziel aufzugeben und sich einfach treiben zu lassen. Wer nirgends ankommen muss, hat Zeit für die Kleinigkeiten am Wegrand, die er sonst nie beachtet. Und womöglich begegnen ihm sogar Straßen, von deren Existenz er bislang keine Ahnung hatte. Einen Zeitrahmen für den Fastenspaziergang sollte man allerdings schon festlegen, findet Pfarrer Kliesch. Eine Stunde, zwei Stunden, drei Stunden – wie es gerade passt. „Es ist spannend zu sehen, wo man nach Ablauf dieser Frist landet.“ 

Die Entdeckungstour durch die nähere Umgebung kann man – drei Tage später oder in der folgenden Fastenwoche – auch fortsetzen. Indem man sich vom Bus zum Zielort des letzten Fastenspaziergangs bringen lässt. Und dort das Rechts-Links-Experiment wieder aufnimmt. Eine aufregendere Art, die Welt zu kennenzulernen, gibt es nicht.

Sieben Wochen so langsam gehen, dass die Leute komisch gucken. Das muss man sich erst einmal trauen.

Christiane Bindseil und Fabian Kliesch sind das Pfarrerteam von Heidelberg-Kirchheim.

Christiane Bindseil, die zusammen mit Fabian Kliesch das evangelische Pfarrerteam in Kirchheim bildet, will sich in der Fastenzeit langsam fortbewegen. Sehr langsam. Zumindest zeitweise. Die Pfarrerin hat sich vorgenommen, sieben Wochen lang  „so langsam zu gehen, dass mich die Leute komisch angucken.“ Kein einfacher Vorsatz für eine berufstätige Muttervon fünf Kindern.

Christiane Bindseil startet ihr spirituelles Mikroabenteuer daher auch mit ganz kurzen Strecken. „In der ersten Woche schaffe ich es wahrscheinlich nur von der Haustür bis zur Straßenecke“, schätzt die Pfarrerin. „Aber dafür sehe ich vielleicht, dass Moos zwischen den Platten wächst, über die ich bisher immer achtlos hinweggegangen ist. Oder dass Kieselsteine auf dem Asphalt liegen.“ Und sie will darauf achten, was sie hört. Wie die Luft riecht. Und wie sich der Untergrund anfühlt, auf dem sie geht. „Ich stelle es mir sehr aufregend vor.“

Früher verzichteten die Christen von Aschermittwoch bis Ostersonntag auf Fleisch, Milch, Eier, Alkohol und Süßes.

Quadragesima, die „Zeit der vierzig Tage“, hat die Urkirche die Fastenzeit genannt. Vierzig ist eine heilige Zahl. Vierzig Jahre wanderte das Volk Israel durch die Wüste. Vierzig Tage sprach Moses auf dem Berg Horeb mit Gott. Vierzig Tage dauerte die Sintflut. Vierzig Tage nach seiner Auferstehung wurde Jesus Christus in den Himmel aufgenommen.

Die Entdeckung einer fremden Kirchen kann sehr spannend sein.

Früher verzichteten die Christen von Aschermittwoch bis Ostersonntag auf Fleisch, Milch, Eier, Alkohol und Süßes. Heute finden viele Menschen, dass es ebenso wichtig ist, der Seele in der Fastenzeit neue Impulse zu geben. Sie wieder auszurichten auf das, was trägt.

„Im Mittelalter sind die Gläubigen oft hunderte von Kilometern gepilgert, nur um von einem Einsiedler ein einziges Wort zu erbitten“, berichtet Pater Benedikt Pahl von der Abtei Neuburg. „Dieses Wort hat die Menschen dann durch ihr ganzes Leben getragen.“ So karg mag das heute niemand mehr. Noch nicht einmal im Kloster.

Nach einer Stunde allein in einer Kirche fühlt man sich erfrischt wie nach einer Dusche.

Aber nach Gott Ausschau halten sollte man in der Fastenzeit schon, findet Pater Benedikt. Am besten dort, wo er wohnt: In einer Kirche. „Wäre es nicht ein spannendes Abenteuer, in den nächsten sieben Wochen die Gotteshäuser der eigenen Stadt oder der näheren Umgebung kennenzulernen? Es ist faszinierend, wie unterschiedlich sie sind.“ 

Eine Stunde Zeit sollte man sich mindestens nehmen, um sich mit einer fremden Kirche vertraut zu machen, findet der Neuburger Prior. Wohl wissend, dass sechzig Minuten allein in einer Kirche sehr lang werden können. Aber wenn man diese Zeit durchhält, weiß Pater Benedikt aus seinen Erfahrungen in Rom, fühlt sich erfrischt wie nach einer Dusche an einem heißen Sommertag. „Es ist erstaunlich, was einem alles auffällt, wenn man sich auf eine Kirche voll und ganz einlässt.“ 

„In leeren Kirchen meldet sich Gott von selbst“, sagt Pater Benedikt.

Da sind die Fenster und die Bilder, in die man sich vertiefen kann. „Besonders spannend wird es immer, wenn moderne Kunst im Spiel ist“, lächelt Benedikt Pahl. „In abstrakten Gemälden erkennen die Menschen die unterschiedlichsten und seltsamsten Dinge.“ Aber auch der Altar oder die Kirchenbänke lassen sich erkunden. Nicht nur mit den Augen sondern auch mit den Händen. Man kann eine Kerze anzünden, ein Gebetbuch aufschlagen, ganz Mutige singen sogar. Laut. „Allein in einer Kirche zu stehen und ein Lied anzustimmen, das ist Abenteuer pur“, findet Pater Benedikt. 

Um ein einziges Wort zu erhalten, waren Pilger früher tagelang unterwegs.

Wenn einem gar nichts mehr einfällt, kann man die Kirchen auch noch ein paar Mal umrunden, ergänzt Christiane Bindseil. Ganz langsam, natürlich. Und zum Abschied auf dem Altar eine Fürbitte hinterlassen. Einfach auf einem Zettel.  „Wenn ich solch eine Spur eines Besuchers fände, würde ich die Bitte auf jeden Fall mit in mein Gebet nehmen.“ 

Und was ist nun mit diesem einzigen Wort Gottes, für das die Pilger früher tagelang unterwegs waren? „Das meldet sich in der leeren Kirche von selbst“, versichert Pater Benedikt Pahl. Und dann kann man mit der „Ruminatio“ beginnen, mit der „Verkostung“. So nennen es die  Ordenschwestern und die Mönche, wenn sie „ihr“ Wort wieder und wieder „zerkauen“. Laut und leise, in den unterschiedlichsten Situationen und Stimmungslagen. Dabei kommen Gedanken ans Licht, die tief im Inneren der Seele verborgen lagen. Sagt man. 

Mikroabenteuer sind voll von neuen Erfahrungen. Nur durch sie wächst der Mensch.

Der Schritt aus der Tür ist bei jedem Abenteuer der schwerste.

Der erste Schritt aus der Tür ist bei jedem Mikroabenteuer der schwerste, schreibt der Hamburger Outdoor-Guru Christo Foerster. „Weil wir unsere Gewohnheiten verlassen und ins Ungewisse hinaustreten. Das macht Angst.“ Doch ohne solche Veränderungen bestehe keine Chance auf Wachstum. „Wir Menschen wachsen nur durch neue Erfahrungen“, beobachtet Foerster.

Eine andere Umgebung, andere Geräusche, ein anderer Geschmack in der Luft. Und wenn etwas schief geht, ist es auch nicht schlimm, findet Christo Foerster. „Situationen, deren Sinn sich nicht sofort erschließt, sind rückblickend oft die besten.“ Wenn es mitten im Nirgendwo plötzlich anfängt zu regnen. Wenn man sich total verläuft. Oder wenn das Geld für die Rückfahrt nicht reicht. Irgendeine Lösung findet sich immer. „Es gibt da draußen jeden Tag einen Sonnenaufgang und einen Sonnen­untergang. Sie sind absolut kostenlos. Wir sollten nicht zu viele von ihnen verpassen.“

Ein Stapel schönes, dickes Papier, ein alter Füller und ein Bibelvers – auch das kann zum Abenteuer werden.

Das Kirchheimer Pfarrerteam will in der Fastenzeit spontan auf Menschen zugehen.

Pfarrer Fabian Kliesch will in der Fastenzeit 2023 unbedingt die Haptik wieder entdecken. Das sinnliche Vergnügen am Schreiben mit der Hand. Abenteuer Füllfederhalter. „Mir ist  aufgefallen, dass ich nur nochtippe“, sagt der evangelische Pfarrer von Kirchheim. „Sogar die Bibel lese ich meistens online.“

Für die Fastenzeit hat sich Kliesch einen Stapel schönes, dickes Papier besorgt und seinen alten Füller heraus gekramt. „Ich stelle es mir sehr erfüllend vor,  jeden Morgen mit Tinte einen Bibelvers abzuschreiben und das Blatt im Laufe des Tages jemandem zu schenken“, skizziert Kliesch seinen Plan. Einfach so, ganz spontan. Im Supermarkt, auf der Straße oder in der Schule

Vielleicht sollte man sogar noch viel weiter gehen in Sachen Spontaneität, überlegt Christiane Bindseil. „Wäre es nicht abenteuerlich, wenn man beim Bäcker einfach mal für den Menschen bezahlt, der vor einem in der Reihe steht?“ Und dann sagt: „Ich wollte Ihnen einfach etwas Gutes tun.“ Solche Aktionen können kleine Sonnenstrahlen sein. „Wir haben einen großzügigen Gott. Warum sollten wir dann nicht auch großzügig sein.“

Die Abtei Neuburg in Heidelberg-Ziegelhausen.

„Man kann Gott auch zwischen den Kochtöpfen finden“, sagte die heilige Teresa von Avila.

Der Konvent im Stift Neuburg will in dieser Fastenzeit ebenfalls neue Wege gehen. „Der heilige Benedikt empfiehlt in seiner Regel, die Mönche sollten in den sieben Wochen gemeinsam ein Buch lesen“, erläutert der Heidelberger Prior. „Aber wir haben haben festgestellt, dass ein ganzes Buch viel zu viel ist.“ Deshalb wollen sich die Brüder diesmal nur auf eine einzige Perikope aus der Heiligen Schrift konzentrieren. „Da steckt so viel drin. Das genügt vollkommen“, sagt Pater Benedikt. 

Als Alternative sei im Gespräch gewesen, das „Vater Unser“ in sieben Teile zu zerlegen und sich in jeder Fastenwoche mit einem Vers zu beschäftigen. Ihn den ganzen Tag mit sich durch Leben tragen. „Die heilige Teresa sagt: Man kann Gott auch zwischen den Kochtöpfen finden. Ich finde, diesen Satz sollten wir sehr ernst nehmen.“

Den Untergrund fühlen, auf dem man geht. Sogar in der Stadt.

Von schmerzhaftem Verzicht in der Fastenzeit hält der Prior übrigens nicht besonders viel. „Aber wenn jemand in diesen sieben Wochen unbedingt auf etwas verzichten will, dann sollte er wenigstens etwas Positives an die Stelle setzen von dem, was er loslässt.“ Statt einem schönen Glas Rotwein gibt es dann am Abend ein spannendes neues Buch. 

Pfarrer Fabian Kliesch, der mit der Hand schreibt, hat sich für die kommenden sieben Wochen übrigens auch ein besonderes Morgenritual ausgedacht: Er will sich im Spiegel eine ganze Minute lang selbst in die Augen sehen. Das ist gar nicht so leicht auszuhalten. „Aber vielleicht fühlt es sich ein ganz kleines Bisschen so an, wie wenn Gott uns anschaut.“

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