November. Der Monat der Wahrheit. Verflossen der lichtleichte Rausch des Sommers, vorbei der Goldglanz des Oktober. Jetzt rückt die Dämmerung näher. Zeit, sich auf die wesentlichen Dinge zu besinnen. Die katholische Kirche tut das am 1. November, Allerheiligen. Auch wenn an diesem Datum alle auf die Friedhöfe strömen, trägt das Hochfest keine Trauer. Allerheiligen glänzt in strahlendem Weiß. Wie Ostern. Ein Tag der Freude? Fragen an Thomas Rutte, den katholischen Hochschulpfarrer von Heidelberg.
Herr Rutte, worüber freut sich die katholische Kirche an Allerheiligen?
Über die Möglichkeit, in Gott vollendet zu werden. Heilig sind ja nicht nur die Menschen, die offiziell vom Papst heilig gesprochen wurden. Jeder Mensch, der in Gott vollendet ist, ist ein Heiliger. Damit ist die Heiligkeit die menschliche Zielperspektive schlechthin. Dass der Heilige der wahre Mensch ist, ist leider etwas in Vergessenheit geraten, weil uns das 19. Jahrhundert eine kitschig-verzerrte Darstellung der Heiligen hinterlassen hat. Die Heiligen wurden zu moralischen Superhelden gemacht. Das waren sie aber zum Großteil gar nicht. Sie waren normale Menschen, die allerdings in existentiellem Ernst mit Gott gerungen haben. Sie sind durch Schmerzen und Abgründe gegangen und dabei groß geworden. Abraham beispielsweise. Für Kierkegaard ist er die Glaubensgestalt schlechthin.
Da legen Sie die Latte aber hoch.
Wenn wir wegkommen von dieser Moralfixierung, ist der Blick auf das Leben der kanonisierten Heiligen ungemein interessant. Es gibt ja radikale Unterschiede in den Biographien und den Persönlichkeiten. Ich schaue auf einzelne Heilige, die mir menschlich nahe stehen, und sehe: Das kann aus einem Menschen werden, der es mit Gott zu tun bekommt. Wer sich selbst finden will, kann sich nur in Gott finden. Das sind nicht zwei verschiedene Sachen. Nur wer Gott findet, findet die Erfüllung im eigenen Menschseins. Dafür stehen die Heiligen.
Sich selbst zu finden und ein erfülltes Leben zu führen sind ja die zentralen Thema des modernen Menschen.
Das ist ein wenig mysteriös. Einerseits leben wir in einer Kultur, die einen überbordenden Individualismus produziert. Geradezu einen Ich-Kult. Andererseits belegen aber alle religions-soziologischen Umfragen, dass viele Menschen, selbst solche, die den christlichen Kirchen angehören, nicht mehr davon überzeugt sind, dass sie als konkrete Person ewig leben werden. Sie glauben, dass sie nach ihrem Tod eingehen in irgendetwas Apersonales, einen großen Ozean des Seins, in dem die individuellen Unterschiede nivelliert sind. Eine merkwürdige Spannung. Auf der einen Seite diese extreme Zentrierung auf das eigene Ich, auf der anderen Seite diese totale Selbstaufgabe.
Woran mag das liegen?
Es scheint in unserer Zeit so etwas wie eine gewisse Erschöpfung des Selbst zu geben. Möglicherweise schreckt die Perspektive der ewigen Verantwortlichkeit für die eigene Freiheit. Der spätmoderne Individualismus ist nämlich ungeheuer anstrengend. Wenn aus unserem Selbstverständnis die Annahme des Personseins und des ewigen Lebens verschwunden sind, sind wir ja nur noch das, was wir biologisch und sozial aus uns machen. Dadurch kann die Zeit des Lebens zu einer gewaltigen Last werden. Man bekommt panische Angst vor dem Altern, weil noch nicht alle Erlebnisse erlebt und alle Möglichkeiten ausgeschöpft sind.
Wenn ich jedoch daran glaube, dass ich als Person ewig leben werde, ja dass mein Leben in Gott überhaupt erst richtig beginnt, relativiert sich der Blick auf meine irdischen Daseinsbedingungen. Ich muss keine Angst mehr haben, dass ich scheitere, wenn ich nicht alle Möglichkeiten, die das irdische Leben bietet, mitnehme. Der Glaube an das ewige Leben als Person hat eine ungeheuer entlastende Wirkung für die Bewältigung der irdischen Existenz.
Kommt denn jeder in den Himmel?
Von allem, was nach dem Tode geschieht, haben wir keinerlei sinnliche Anschauung. Wir können uns das nicht einmal ausmalen. Wir können nur vom Glauben her ein paar spröde Begriffe bilden. Ein Mensch, der vor Gott hintritt, wird in der Lage sein, sich selbst so zu sehen, wie Gott ihn sieht. Dann wird er zum ersten Mal erkennen, wie er wahrhaft ist. In all seiner ungeheueren Vielschichtigkeit und Abgründigkeit. Das ist möglicherweise sehr schmerzhaft. Aber dann gibt es sicher noch einmal die Möglichkeit, dass der Mensch Gott um Verzeihung bittet – oder ihm dankt. Das ist eine sehr trostvolle Perspektive. Es wäre ja fürchterlich, wenn heilsentscheidend allein die Spanne von unserer Geburt bis zu unserem Tod wäre.
Und was geschieht mit Menschen, die nicht an Gott glauben wollen?
Das weiß ich nicht. Diese Frage muss man offen lassen. Wenn man annimmt, dass Gott den Menschen als freies Subjekt geschaffen hat, ist es auch notwendig anzunehmen, dass ein Mensch sich seiner Vollendung endgültig verschließen kann. Aber ob das real so sein wird, wissen wir nicht. Die Kirche hat ja auch nie von irgend jemandem gesagt, er habe sein Heil definitiv verloren. Sondern die Kirche hat immer nur gesagt: Die kanonisierten Heiligen haben ihre Vollendung sicher gefunden.
Der heilige Antonius und die verlorenen Schlüssel
Für die Reformatoren war die katholische Heiligenverehrung eine Wurzel allen Übels. Trotzdem bekennen evangelische Christen bis heute im die Apostolisches Glaubensbekenntnis die „Gemeinschaft der Heiligen“.
Prinzipiell hat die evangelische Theologie mit den Heiligen als in Gott vollendeten Menschen keine Schwierigkeiten. Luther hat einen wundervollen Magnifikat-Kommentar geschrieben. Sie wehrt sich allerdings gegen die Gefahr einer Verzerrung: Dass ein Heiliger jemand ist, der sich durch heroisches Tugendleben das Heil erkauft hat. Da sind wir wieder bei der Verehrung von angeblichen Superhelden. Es gab und gibt in der katholischen Frömmigkeit aber auch Strömungen, die die Heiligen – allen voran die Gottesmutter – an die Mittlerstelle zwischen Mensch und Gott rücken. Christus, der doch auch als Mensch wahrer Gott bleibt, scheint weit weg. Die Heiligen sind leichter erreichbar. Damit ist der Verzerrung des christlichen Glaubens Tür und Tor geöffnet. Mittler zwischen Mensch und Gott ist allein Jesus Christus. Wenn dann noch so ein magischer Zug in die Heiligenverehrung hineinkommt, wird alles verkehrt.
Ich darf den heiligen Antonius also nicht bitten, mir bei der Suche nach dem Autoschlüssel zu helfen?
Bitten Sie nur. Doch die Aufteilung der Dienstleistungsfunktionen zwischen den Heiligen, die die Volksfrömmigkeit hervorgebracht hat, ist in Wahrheit leicht albern. Der Mensch kann sich in all seinen Belangen getrost und unmittelbar an Jesus Christus wenden. Die Heiligen sind ja gerade die durch und in Christus vollendeten Menschen, die in Gott nicht nur ihre Schlüssel, sondern sich selbst ganz und gar gefunden haben. Wie meine Oma.
Ihre Oma?
Meine Oma war eine schlichte Frau, die zwei Weltkriege erlebt hat und ein untrügliches Gespür für unsere Absurditäten besaß. Manchmal sagte jemand zu ihr: „Du musst doch Urlaube in Übersee machen, Du verpasst sonst was im Leben.“ Dann hat meine Oma immer geantwortet: „So ein Unfug. Die Fülle meines Lebens kommt doch sowieso erst noch.“ Was für ein entlastender, bekömmlicher Blick auf die irdischen Verhältnisse.