Gott im Klassenzimmer

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85 Prozent aller Schüler in Baden-Württemberg besuchen den Religionsunterricht

Exakt drei Tage vor den großen christlichen Festen schicken die Rundfunkanstalten ihre Reporter auf die Straße. Sie sollen die Passanten befragen, was denn so gefeiert wird. Die Ergebnisse sind zuverlässig niederschmetternd. Ostern mutiert zur Sonnwendfeier, Weihnachten zum Valentinstag mit Tanne, und vor Pfingsten herrscht kollektive Ratlosigkeit. 

 

Es scheint nicht mehr weit her zu sein mit der christlichen Bildung im Land. Dabei ist der Religionsunterricht als einziges Schulfach im Grundgesetz verankert. Die Zahl der Abmeldungen liegt unter fünf Prozent, sagen sowohl das Erzbistum Freiburg wie auch die Badische Landeskirche. In Baden erhalten fast 85 Prozent aller Schüler Noten in den Fächern katholische oder evangelische Religion. Woher rührt dann die Ahnungslosigkeit? Ein Schulbesuch.

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Engagierte Religionslehrer: v.l. Veronika Böcherer, Jutta Stier, Gunnar Kuderer, Manfred Hilkert

Manfred Hilkert ist ein hochgewachsener Mann. Aus der Sicht einer Drittklässlerin wie Lea muss er wie ein Monolith wirken. Trotzdem baute sich das Mädchen eines Tages vor dem Schuldekan des evangelischen Kirchenbezirks Neckargemünd-Eberbach auf und erklärte, sie wolle sich taufen lassen. Auf die verblüffte Frage, wie sie zu diesem Entschluss gekommen sei, antwortete Lea: „Ich denke, ich bin jetzt soweit.“

Immer mehr Schüler im Religionsunterricht sind nicht getauft

Lea ist kein Einzelfall. Die Zahl der Kinder, die nicht getauft sind, wenn sie in die Schule kommen, steigt kontinuierlich. Auch im Südwesten. 2014 zählte das Statistische Bundesamt deutschlandweit 34 Prozent Bürger ohne Konfession, 29,9 Prozent Katholiken und 28,9 Prozent Protestanten. Die Muslime rangierten mit 2,6 Prozent weit abgeschlagen. Weil aber das Ersatzfach „Ethik“ in Baden-Württemberg erst ab Klasse 8 angeboten wird, schicken auch Eltern, die keiner Kirche angehören, ihre Kinder in den Religionsunterricht.

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Die Theodor-Heuss-Schule in Sinsheim ist neuerdings Gemeinschaftsschule. …

„In der Grundschule geschieht das fast flächendeckend“, weiß Gunnar Kuderer, evangelischer Schuldekan im Kirchenbezirk Kraichgau. An der Theodor-Heuss-Gemeinschaftsschule in Sinsheim sei die Nachfrage nach Religion quer durch alle Klassenstufen groß, berichtet Veronika Böcherer, die Rektorin. „Es nehmen viel mehr Schüler am Religionsunterricht teil, als wir vom Bekenntnis her tatsächlich haben.“ Die Theodor-Heuss-Schule ist seit sechs Jahren Modellstandort für den islamischen Religionsunterricht. Reli für alle – das motiviert offensichtlich.

Die Lehrer fangen heute bei Null an

Nachteile haben konfessionslose Kinder im Religionsunterricht nicht. Die Lehrer fangen heutzutage sowieso bei Null an. „Das Elternhaus ist in Sachen religiöse Grundbildung meist nicht mehr präsent“, bedauert Jutta Stier, die katholische Schuldekanin im Dekanat Kraichgau. „Deswegen beginnt unser neuer Bildungsplan mit der Einführung von Vaterunser und Glaubensbekenntnis. Früher hat man das als selbstverständlich
vorausgesetzt.“ Lediglich ein rudimentäres Wissen um die Feste im Jahreskreis bringen die Kinder noch mit. Es stammt oft aus den kirchlichen Kindergärten.

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… Islamischen Religionsunterricht gibt es hier schon seit einigen Jahren.

Dafür ist dank der Säkularisierung unserer Gesellschaft die Frömmigkeit in den Religionsunterricht zurückgekehrt. Religiöse Rituale einüben heißt die Zauberformel für das 21. Jahrhundert. Jede Schulstunde beginnt mit einem Gebet oder einen Lied und endet mit dem Segen. Bei beiden Konfessionen. „Schon bei den Prüfungen wird darauf geachtet, dass die Lehramts-Kandidaten dem Unterricht liturgisch einrahmen“, nickt Gunnar Kuderer aus dem evangelischen Kirchenbezirk Kraichgau.

Die Grundschüler lernen systematisch das Einmaleins des Glaubens

Da das Gros der Grundschüler keine religiöse Vorerfahrung mitbringt, müssen die Lehrer vor allem eins tun: Wissen vermitteln. Ebenso systematisch wie die Mathematik lernen die Grundschüler das Einmaleins des Glaubens. Biblische Geschichten, die Gebete, die Symbole, die Liturgie, der Kirchenraum. Künftig wird den Erst- und Zweitklässlern sogar noch mehr Differenzierungsvermögen abverlangt, denn der „konfessionell-kooperative Religionsunterricht“ kommt.

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Das Wilhelmi-Gymnasium in Sinsheim liegt auf dem Hügel mit Blick  ….

Beide Konfessionen im selben Klassenraum, jedes halbe Jahr wechseln sich die katholische und die evangelische Religionslehrerin ab. Wozu das gut sein soll? „Die Kinder erleben authentisch die Besonderheit der anderen Konfession“, antwortet Manfred Hilkert vom evangelischen Kirchenbezirk Neckargemünd-Eberbach. Das fängt schon bei der Begrüßung an. Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. „Zu Anfang haben sich viele katholische Religionslehrerinnen schwer damit getan, im konfessionell-kooperativen Unterricht ein Kreuzzeichen zu machen“, erinnert sich Jutta Stier. Dabei ist das ja gerade der Witz bei der Sache: Man bekennt sich zur eigenen Konfession und achtet die andere in ihrem Anderssein. Später kann man diese Übung auf anderen Religionen ausdehnen.

Durchweg positive Erfahrungen mit dem islamischen Religionsunterricht

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… auf Stift Sunnisheim.

Der islamische Religionsunterricht, der jetzt in Baden-Württemberg an immer mehr Schulen eingeführt werden soll, geht ähnlich vor. Schüler der verschiedensten Nationalitäten und Glaubensrichtungen werden gemeinsam auf Deutsch unterrichtet. Der sunnitische Glauben bildet die Basis des Islamunterrichts. Später lernen die Schüler die Spezifika der anderen Glaubensrichtungen kennen. Alle Lehrer, die islamischen Religionsunterricht geben, haben an einer deutschen Pädagogischen Hochschule studiert. „Wir haben durchweg positive Erfahrungen mit dem islamischen Religionsunterricht gemacht“, bilanziert Rektorin Veronika Böcherer von der Sinsheimer Theodor-Heuss-Schule. „Die Gruppen wachsen, der Unterricht etabliert sich.“

Womit wir bei der weiterführenden Schule wären. Und bei der Pubertät. Früher hatten Religionspädagogen bei Schülern ab 13 Jahren keinen leichten Stand. Symbolisierten sie doch all jene Werte, gegen die sich die Jugendlichen mit Macht abgrenzen wollten. Das ist vorbei, seit Religion in den meisten Elternhäusern keine Rolle mehr spielt. Behaupten zumindest die Lehrer aus dem Kraichgau und dem Odenwald. „Unser Unterricht scheint trotz aller Spottrufe nahe an den Jugendlichen dran zu sein, sonst hätten wir viel höhere Austrittszahlen“, sagt Manfred Hilkert.

In der Pubertät ist Religionsunterricht vor allem Lebenshilfe

Nach Katastrophen muss der Religionsunterricht Lebenshilfe leisten.

Auch für den Konfirmantenunterricht, so der evangelische Pfarrer weiter, habe man stabil hohe Anmeldungen. „Die jungen Leute suchen in dieser besonders schwierigen Lebenphase nach Orientierung“, beobachtet Hilkert. „Sie hören sich geduldig an, was der Pfarrer oder der Religionslehrer zu bieten haben. Das ist großartig. Sie könnten ja auch sagen: Glaube ist gar keine Alternative für mich.“

Religionsunterricht als Lebenshilfe. Gunnar Kuderer, der evangelische Schuldekan aus dem Kraichgau, unterrichtet an gewerblichen Schulen und Berufsschulen. Für seine Schüler ist er oft die einzige Verbindung zur Kirche, die sie je haben werden. „Ich erhalten häufig Mails von ehemaligen Schülern, die ein existentielles Problem haben“, erzählt Kuderer. „Sie wissen nicht, an wen sie sich sonst wenden sollen.“

„Sonntägliche Kirchgänger erziehen wir nicht“

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Ausnahme Taize: Regelmäßige Kirchgänger erzieht der Religionsunterricht nicht

In Grenzsituationen, wenn es womöglich um Leben und Tod geht, verändert
sich der Status des Faches Religion erdrutschartig. „Normalerweise sind wir Religionslehrer ja die Exoten im Kollegium“, formuliert Jutta Stier. Sobald jedoch ein Airbus-Pilot eine Schulklasse mit sich in den Tod reißt, blickt die ganze Schule hilfesuchend hinüber zur Fachschaft Religion. „Zu meiner Schulzeit wäre niemand auf die Idee gekommen, nach einem Flugzeugabsturz einen ökumenischen Gottesdienst in der Schule zu feiern“, überlegt Gunnar Kuderer. „Heute gehört das selbstverständlich dazu.“ Die Schüler, sagt der evangelische Schuldekan, erhalten dadurch ein Bewusstsein dafür, dass es eine andere Dimension gibt, in der man Halt findet. „Doch sonntägliche Kirchgänger erziehen wir im Religionsunterricht nicht.“

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Bleibt Religion nur eine schöne Erinnerung an die Schulzeit?

Der Satz, en passant gesprochen, hat Sprengkraft. „Sonntägliche Kirchgänger erziehen wir nicht.“ Plötzlich steckt der Finger tief drin im eigentlichen Problem: Der Religionsunterricht an den Schulen in Baden-Württemberg ist ausgezeichnet. Die Lehrer sind motiviert, die Schüler interessiert. Das war’s. Anschluss an eine Kirchengemeinde findet über die Schule niemand. Nach dem Schulabschluss geraten die Bibel und die Gebete ebenso in Vergessenheit wie die mathematischen Formeln. Was an Pfingsten gefeiert wird, weiß schon nach zwei Jahren kaum noch jemand. Jutta Stier: „Religion bleibt eine schöne Erinnerung an die Schulzeit.“

Selbst den Religionslehrern fehlt die Anbindung an eine Gemeinde

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Suche Amos biete Jonas: Das Propheten-Quartett-Spiel für die Grundschule

Die beiden großen Kirchen haben das Problem erkannt. Doch ein zündendes Konzept, wie man Schule und Gemeinde miteinander verzahnen kann, fehlt. Zu vielschichtig sind die Defizite. „Religionsunterricht ist stärker als jeder andere Unterricht Beziehungsunterricht“, überlegt Jutta Stier. Wenn ein Religionslehrer nicht authentisch ist, glauben ihm die Schüler kein Wort. „Kinder decken alles auf, sie haben keine Hemmschwellen.“

Seit einigen Jahren jedoch beobachtet die katholische Schuldekanin aus dem Kraichgau mit wachsender Besorgnis, dass viele junge Religionslehrerinnen keine Anbindung mehr an eine Kirchengemeinde haben. „Sie waren aktiv in der Jugendarbeit und in der Hochschulgemeinde. Aber wenn sie mit Mitte Zwanzig an ihren Schulort kommen, gelingt es ihnen nicht, wieder an eine Gemeinde anzudocken.“ Das verändert den Religionsunterricht. Er wird akademischer. Weniger gelebter Glaube. Weniger Wirkung auf die Schüler. „Die Verbindung zur Gemeinde funktioniert nur, wenn man den Religionslehrer auch in der Kirche trifft“, bilanziert Jutta Stier.in_bewegung
Oder wenn die Kirche in die Schule kommt. „Schulnahe Jugendarbeit“ nennt sich ein  neues Projekt der Badischen Landeskirche, bei dem Mitglieder der örtlichen Kirchengemeinde ihre Angebote in den Nachmittagsunterricht einbringen. Jungschar, Pfadfinder, Gospelchor, Weltgebetstag für Kinder …. Der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt. Hauptsache, sagt Gunnar Kuderer, „die Verzahnung zwischen Schule und Gemeinde gelingt wieder“.

 

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