Wo Hans Reidel ist, da sind auch Kerzen. Tausende, zehntausende, hunderttausende. Weiße, gelbe, violette. Kleine, große, schwimmende. Aus Paraffin, Bienenwachs oder Palmöl. Alle hergestellt in Reidels Kerzenfabrik in Nußloch. Seit Jahrzehnten beliefert er Drogeriemärkte, Einzelhändler und Privatleute. „Doch so riesig wie momentan war die Nachfrage nach Kerzen noch nie“, sagt Reidel. „Wir verkaufen zehn Mal so viele wie im Vorjahr.“
Wer früher für 50 Euro bestellt hat, ordert jetzt für 500. Viele Menschen laden sich den ganzen Kofferraum voll. Teelichter gibt es gar keine mehr. Woher rührt dieses Verlangen nach dem warmem Licht? Aus der Sehnsucht nach Gemütlichkeit? Oder aus der Angst vor einem Stromausfall? Eine Suche nach dem Geheimnis des Kerzenlichts. Als Einstimmung in den Advent.
Früher lag in jedem Küchenschrank ein stattlicher Kerzenvorrat. Weil dauernd das Licht ausfiel.
Es ist noch nicht lange her, da lag in jedem Küchenschrank ein stattlicher Vorrat an Kerzen. „Weil bei Gewittern immer der Strom ausfiel oder es im Keller kein elektrisches Licht gab“, erinnert sich Franziska Gnändinger, die evangelische Pfarrerin von Wiesenbach, an die Zeit ihrer Großeltern. Die Notfallkerzen von damals waren schlank, weiß und schmucklos. Reine Gebrauchsgegenstände. So etwas kauft heute niemand mehr. Weil Kerzen inzwischen zum Symbol geworden sind. Für Stimmung. Für Romantik. Für Gemütlichkeit. Aber auch für das Ewige. Das Transzendente. Gott.
Rund 1900 verschiedene Kerzensorten hat Hans Reidel im Sortiment. 136 davon duften. „Die Nachfrage nach Kerzen ist schon während der Corona-Pandemie stark angestiegen“, berichtet Reidel. „Die Menschen durften nicht ausgehen, da wollten sie es wenigstens zuhause gemütlich haben.“ Sind alle Kerzen niedergebrannt, bestellt man die nächste Charge einfach per Mausklick im Internet. Zwei Tage später ist die Ware da.
„Es gibt Privatkunden, die ordern gleich fünfzig Kilo auf einmal“, berichtet Reidel. In den verschiedensten Farben und Formen. „Wir rechnen fest damit, dass unsere Verkaufszahlen weiterhin auf hohem Niveau bleiben“, verrät der Nußlocher. „Die Restaurants sind teuer geworden. Die Menschen essen wieder mehr zuhause.“ Ein Candlelight-Dinner in der guten Stube.
Gemütliches Licht hat viele Rotanteil. Tageslicht leuchtet vorwiegend blau.
„Chronobiologie“ nennt sich die Wissenschaft von der Wirkung des Lichtes auf den Menschen. Sie hat herausgefunden, dass Kerzen eigentlich in erster Linie Wärmestrahler sind, die nebenbei auch noch Licht abgeben. Wohliges Licht. Gemütliches Licht. Licht mit vielen Rotanteilen. Damit ist Kerzenlicht das genaue Gegenteil vom Tageslicht. Das nämlich leuchtet blau. Unser Körper reagiert stark auf die unterschiedlichen Lichtfarben. Strahlend blaue LED-Lampen putschen ihn auf wie ein doppelter Espresso. Das rote Licht der Kerze hingegen fördert die Ausschüttung des Hormons Melatonin. Man wird ruhig und entspannt sich. Vielleicht brennen auch deshalb in den Kirchen so viele Kerzen.
„Ich bin sehr froh darüber, dass die Kerzen auch in die evangelischen Kirchen dauerhaft zurückgekehrt sind“, erklärt Pfarrerin Gnändinger. Martin Luther nämlich hatte im reformatorischen Eifer den sakralen Lichtern die Tür gewiesen. Reformierte Gläubige sollten sich ohne Chichi auf das Wort Gottes konzentrieren. Jahrhunderte hat es gedauert, bis die Protestanten wieder Lichter auf dem Altar hatten.
Heute bringen immer mehr evangelische Eltern auch zur Taufe ihres Kindes eine Kerze mit. Und die Konfirmanden ziehen wieder mit Kerzen in die Kirche ein. „Ich merke immer deutlicher, wie dringend wir Menschen solche Zeichen brauchen“, sagt Franziska Gnändinger. Es stimme sie deshalb sehr traurig, dass neuerdings in Altersheimen und Krankenhäusern offenes Licht verboten ist. „Die Seele verlangt doch nach Kerzen!“
1839 wurde der Adventskranz erfunden: 23 Kerzen leuchteten auf einem Wagenrad.
Zu diesem Schluss kam auch Johann Hinrich Wichern 1839. Der Pastor leitete damals in Hamburg ein Heim für obdachlose Kinder, die zu Tausenden durch die Straßen streunten. Für diese Kinder war Weihnachten der einzige Tag im Jahr, an dem sie eine Kleinigkeit geschenkt bekamen. Entsprechend groß war ihre Ungeduld.
Um das Warten aufs Christkind ein wenig zu erleichtern, nahm Pastor Wichern ein Wagenrad und befestigte darauf 23 Kerzen. 19 kleine rote für die Wochentage und vier große weiße für die Sonntage. Der Adventskranz war geboren. Seit 1860 schmückt man ihn mit Tannengrün.
Welcher Docht zu welcher Kerze passt, ist eine Wissenschaft für sich.
Um eine wirklich gute Kerze herzustellen, braucht es Fingerspitzengefühl und eine Menge Geduld. Berichtet Hans Reidel aus Nußloch. „Ich stehe noch heute viele Abende in meiner Küche und probiere neue Rezepturen aus.“ Weil all seine Kerzen aus Naturprodukten hergestellt sind, deren Qualität sich beständig verändert. „Manchmal genügt es, dass die Dochte aus einer anderen Baumwollernte stammen und schon brennen sie nicht mehr so gut.“
400 verschiedene Sorten Dochte verarbeitet Reidel in seiner Fabrik. Welcher Docht zu welcher Kerze passt, ist eine Wissenschaft für sich. Nur das Ziel ist klar definiert: Die Kerze muss vollständig niederbrennen, rauchfrei und rußfrei.
Die Zukunft gehört dem Rapswachs: Keine Transportkosten und die Kerzen brennen wunderbar.
Der Nußlocher produziert Kerzen aus Paraffin, Sterin, Palmöl oder Olivenwachs. Natürlich gibt es auch Kerzen aus Bienenwachs, aber die werden immer seltener gekauft. Weil sie so teuer geworden sind. „Momentan bezahlt man 1013 Euro pro Kilo“, berichtet Hans Reidel. „Ohne Mehrwertsteuer.“ Und wegen des Krieges in der Ukraine steigen die Preise immer weiter. Wie auch die Transportkosten. Die Zukunft sollte daher dem Rapswachs gehören, findet Reidel. „Raps wächst üppig auf den Feldern hier im Kraichgau. Man hat keine Anfahrtswege und Rapskerzen brennen wunderbar.“
Für Pfarrerin Franziska Gnändinger sind die Farbe und die Form einer Kerze weniger wichtig. Ihr geht es um die wohltuende Wirkung auf die Menschen. „Eine Kerze ist lebendiges Licht“, sagt die Pfarrerin. Sie reagiert auf jeden Luftzug und jede Bewegung. Wie ein kleines Lagerfeuer.
„Wir können stundenlang in die Flamme blicken ohne geblendet zu werden.“ Dazu noch der Geruch von Wachs und die Wärme – das alles vermittle ein Gefühl von Geborgenheit und Ruhe. „Gerade in Zeiten großer Veränderungen oder Bedrohungen sind Rituale wie die stille Kerze am Abend oder der Adventskranz wichtig. Sie helfen uns, die Übergänge zu meistern.“
Das gilt im ganz Kleinen wie auch im ganz Großen. Man denke nur an das Kerzenmeer, das tagelang auf dem Heidelberg Universitätsplatz brannte, nachdem ein Amokläufer die junge Studentin erschossen hatte. „Ich will keine Kerze anzünden müssen. Aber ich tue es“, stand damals auf einem Zettel geschrieben. „Weil Kerzen anzünden eines der besten Dinge ist, die man machen kann, wenn es eigentlich nichts Sinnvolles mehr zu tun gibt.“
Gerhard Richter malte ein Jahr lang nur Kerzen. Meist vor einer schwarz-grauen Wand.
Franz Kafka hat die Begeisterung der Menschen für Kerzenlicht nie verstanden. Er fand, dass eine Kerze „die Dunkelheit eher vermehrt, als dass sie sie beseitigt“. Weil sich das Licht der Kerze auf einen engen, kleinen Kegel beschränkt. Während die Umgebung in mysteriösen Dunkel verbleibt. Folgerichtig erklärte Kafka die Kerze zum Symbol für die Beschränktheit der menschlichen Wahrnehmung.
Den Düsseldorfer Maler Gerhard Richter, dessen Bilder heute mit Gold aufgewogen werden, hat diese Doppelnatur der Kerze so fasziniert, dass er ein Jahr lang nichts anderes gemalte hat als eine schlichte weiße Kerze im Halbdunkel. Die Notfallkerzen im Küchenschrank der Großmutter von Franziska Gnändinger könnten so ausgesehen haben. 29 Mal hat Gerhard Richter „Die Kerze“ gemalt. Aus den verschiedensten Perspektiven. Meist vor einer schwarz-grauen Wand. Am Ende legte er einen Totenkopf daneben.
Die Kerze ist das treffendste Symbol des Verrinnens – und die treueste Begleiterin durchs Leben.
Das Experiment des Künstlers erklärt vielleicht, warum Kerzen die Menschen durch alle Jahrhunderte hinweg so fasziniert haben: Es liegt an der Flamme. Ohne Flamme zeigte Richters Bild eine sinnlose Röhre. Erst das Feuer erweckt das Gemälde zum Leben. Sein jähes Auflodern, sein rauchendes Verlöschen. Die Kerze ist das wohl treffendste Symbol für das Verrinnen des Lebens. Sie verbrennt. Unaufhaltsam. Irreversibel.
Franziska Gnändinger lächelt. „Aber sie ist auch die treueste Begleiterin durch das Leben“, sagt die Pfarrerin. „Immer, wenn etwas Wichtiges geschieht, ist eine Kerze dabei.“ Bei der Geburt, bei der Hochzeit, an jedem Geburtstag, beim Warten aufs Christkind. Die Kerze leuchtet. Treulich.