„Der Sinkflug der katholischen Kirche ist nicht aufzuhalten“

Josef Mohr, der katholische Pfarrer von Heidelberg-Neuenheim zieht Bilanz.

Stiller ist Josef Mohr auch mit 72 nicht geworden. Nur ein wenig nachdenklicher. Vielleicht. Wenn dem katholischen Pfarrer von Heidelberg-Neuenheim und Handschuhsheim etwas falsch zu sein scheint, unchristlich oder ungerecht, dann sagt er es. Mit großer Eloquenz seit mehr als dreißig Jahren. Jetzt geht der wohl streitbarste Theologe der Region in den Ruhestand. Zeit für ein Resümee. 

Herr Pfarrer Mohr, wie geht es der katholischen Kirche ?

Nicht gut. Überhaupt nicht gut. Sie befindet sich in einem unaufhaltsamen Sinkflug von der Bedeutungslosigkeit in die Belanglosigkeit. Und das aus eigener Schuld. Der Tsunami des sexuellen Missbrauchs und die finanziellen Skandale haben nicht nur die Glaubwürdigkeit, sondern auch die Wahrheitsfähigkeit der Kirche in ihren Grundfesten erschüttert. Das ist eine Tragödie.

Fasziniert von der Liturgie: Mohr als Student in Freiburg.

Gott scheint mehr und mehr aus dem öffentlichen Bewusstsein zu verschwinden. Weil sich die weltlich gewordene Welt von dieser Kirche nichts mehr sagen lassen will. Ja, mehr noch: Weil sie das Zeugnis dieser Kirche ablehnt oder gar bekämpft. Das hat es in der Kirchengeschichte so noch nicht gegeben.

Spüren Sie als Pfarrer diese Ablehnung konkret vor Ort? 

Und wie! Wenn man wie ich 30 Jahre lang Pfarrer an einem Standort ist, dann erlebt und erleidet man diesen Schwund sozusagen am eigenen Leib. Wenn ich alle zehn Jahren eine andere Pfarrei übernommen hätte, hätte ich das vielleicht nicht so gemerkt. Aber hier in Neuenheim und in Handschuhsheim kenne ich die Leute. Ich habe mit ihnen Hochzeit, Taufe, Erstkommunion und Firmung gefeiert.

Und jetzt muss ich mitansehen, wie die Familien, die Kinder, die Jugendlichen, die Männer und Frauen, die ich jahrelang begleitet habe, nach und nach wegbleiben. Nicht weil sie weggezogen sind, sondern weil sie sich nicht daran gewöhnt haben, nicht mehr zum Gottesdienst zu kommen und keinen Kontakt mehr zur Gemeinde zu brauchen. Das gilt sogar für solche, die sich früher gern und gut in der Gemeinde engagiert haben: In der Jugendarbeit, in der Liturgie, im Pfarrgemeinderat. Sogar solche bleiben weg.

Die Priesterweihe von Josef Mohr 1977.

Aber in St. Raphael und St. Vitus sitzen doch noch immer viele Menschen in den Gottesdiensten ?

Ja, das mag sein. Wir haben hier im Heidelberger Norden noch einen erstaunlich guten Kirchenbesuch. Aber das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in der katholischen Kirche eine „Kernschmelze“ gibt. Sie ist durch Corona nur noch beschleunigt worden. Ich habe mich all die Jahre bemüht, die sogenannte Kerngemeinde zu stärken, zu festigen und zu erweitern. Doch in den letzten Jahren habe ich mir auch an diesem harten Kern die Zähne ausgebissen. Bestenfalls wechselten die Leute ins Lager der „treuen Kirchenfernen“. Im schlimmsten Fall entfernten sie sich endgültig vom Glauben und von der Kirche. 

Mein bevorstehender Ruhestand und Weggang wird diese Entwicklung im Heidelberger Norden vermutlich noch beschleunigen. Weil es dann keinen Pfarrer mehr gibt, der ein offenes „Pfarrgasthaus“ führt, wie ich das 30 Jahre lang mit tatkräftiger Hilfe meiner langjährigen Haushälterin Elisabeth Hain getan habe. Jeder war willkommen, ob angemeldet oder nicht.

Sie sind 1977 zum Priester geweiht worden. Haben Sie sich damals vorstellen können, dass die katholische Kirche in solch eine Überlebenskrise geraten könnte?

Nein! 1977 war noch nachkonziliare Aufbruchstimmung. Da hat die Kirche noch Beachtung gefunden. Die Medien haben berichtet von all den Reformen, die das II. Vatikanische Konzil mit sich gebracht hatte. Und in diesem Aufschwung wollten wir einen neuen katholischen Aufbruch wagen. Ich wollte den Christenmenschen helfen, näher an das Evangelium zu kommen. Die Relevanz des Glaubens für ihr Leben zu erkennen. Es waren aber bereits die Anzeichen einer Entfremdung zu spüren. Der Rückgang der Neupriester beispielsweise.

Mohr in der frischrenovierten Kirche St. Raphael in Heidelberg-Neuenheim.

Der größte Teil der Missbrauchsfälle, die heute bekannt werden, haben ja in diesen „Blütejahren“ der Kirche stattgefunden. Wurde unter den Studenten in Freiburg darüber gemunkelt?

Man hat schon geahnt oder sogar gewusst, dass es Priester gibt, die ein Doppelleben führen. Aber ich war felsenfest überzeugt, dass das wenige Einzelfälle sind. Und auf den Gedanken, dass Priester Kinder und Jugendliche sexuell missbrauchen könnten, bin ich niemals gekommen.

Dass sich solch ein Abgrund auftun würde, dass in der Kirche so etwas und in diesem Ausmaß möglich ist –  das hätte ich nie für möglich gehalten. Und dann noch ausgerechnet im Bereich der Sexualität, in dem die katholische Kirche die Christen allzu lange bevormundet, geknebelt und schikaniert hat. Kardinal Marx hat den Moment, an dem all diese Verbrechen zu Tage kamen, den „toten Punkt“ der katholischen Kirche genannt. Ich nenne es den wunden Punkt einer Kirche, die sich – mit Verlaub – vergeblich den Unterleib untertan machen wollte. 

Der Pfarrer mit seiner Mutter in Heidelberg-Ziegelhausen.

Sie haben sich schon immer laut und öffentlich für die Abschaffung des Zölibats ausgesprochen. Hätte das die Krise verhindert?

Der Pflichtzölibat scheint der Kirche tatsächlich mehr geschadet als genützt zu haben. Aber ob seine Abschaffung den Niedergang der Kirche wirklich hätte verhindern könnte, bezweifle ich. Wenn man sich die evangelische Kirche anschaut, in der die Pfarrer heiraten dürfen und Frauen ordiniert werden, dann müsste es ja dort einen enormen Zulauf geben. Doch das Gegenteil ist der Fall. Auch die Kirchen der Reformation schrumpfen bedrohlich. Allein daran erkennt man, dass die Problematik viel tiefer reicht. Der zunehmende Priestermangel hängt ja nicht zuletzt mit dem anhaltenden Gläubigenmangel zusammen, von dem oben schon die Rede war.

Eines ihrer Lieblingsbonmots war immer, dass sie außer Neuenheim und Handschuhsheim noch eine dritte Gemeinde hätten. In der Unteren Straße der Heidelberger Altstadt. 

Die katholische Kirche St. Raphael wurde 1905 von Ludwig Maier erbaut.

Stimmt, ich war über zwanzig Jahre lang Stammgast im „Weinloch“. Da war ich aber nicht in erster Linie als Pfarrer. Sondern als einer, der gerne in die Kneipe geht. Mit dem man reden kann. Das war für mich sehr interessant, weil ich da mit einer religiös keimfreien Welt in Berührung gekommen bin. Es hat mir immer gefallen und gutgetan, mit Leute zu sprechen – und auch zu streiten -, die „religiös unmusikalisch“ sind.

Und wenn mich mal jemand von der Seite dumm als Pfarrer angemacht hat, habe ich mich augenzwinkernd zur Wehr gesetzt: „Von Beruf bin ich ja Menschenfreund, aber privat …“ Da haben die Leute gemerkt, der ist nicht hier, um zu missionieren, sondern weil er gern unter Leuten ist, mit denen er sonst nicht in Kontakt käme. 

Und wenn Sie nicht im Weinloch waren, saßen Sie im Zimmertheater.

Im Zimmertheater bei der Verabschiedung von Intendantin Ute Richter 2017.

Da sehen Sie, wie gut es war, dass ich nicht heiraten durfte! Eine Ehefrau hätte sicher darauf bestanden, dass ich jeden Abend bei ihr auf dem Sofa sitze. Im Ernst: Das Zimmertheater und der freundschaftliche Kontakt zur Intendantin Ute Richter haben mir viel gegeben. Persönlich wie professionell. Aber auch das liebe Taeter-Theater soll nicht unerwähnt bleiben. Dort habe ich mit vielen Gästen sogar meinen 65. Geburtstag gefeiert: Das Ein-Mann-Stück „Der Kontrabass“ von Patrick Süskind wird allen unvergesslich bleiben.

Und was machen Sie, wenn sie pensioniert und womöglich nicht mehr in Heidelberg sind?

Zunächst muss ich eine neue Wohnung in der Region finden. Als Priester-Pensionär habe ich kein Anrecht mehr auf eine Dienstwohnung. Ich müsste irgendwo ein leerstehendes Pfarrhaus mieten und das zu den „ortsüblichen“ Mietpreisen. In Heidelberg-Neuenheim könnte ich das bei der Größe des Hauses mit meinem Ruhegehalt überhaupt nicht stemmen. Abgesehen davon, dass ein Ortswechsel gewünscht wird und auch plausibel und sehr sinnvoll ist. 

„Ich habe mich mein Leben lang durchgezweifelt.“

Die letzte Frage: Wenn Sie die Chance hätten, noch einmal von vorn anzufangen, würden Sie sich wieder zum Priester weihen lassen?

In einem Geburtstagsartikel über mich hieß es vor Jahren, dass ich mich, was meinen Glauben und meine Kirche betrifft, „durchgezweifelt“ hätte. Das habe ich tatsächlich mehr als einmal so empfunden. Bis mir bewusst wurde, dass es nicht darum geht, endgültige und fertige Antworten zu vertreten. Der christliche Glaube bleibt ein lebenslanges Ringen um Gottvertrauen.

Glauben heißt für mich auch, die Frage nach Gott offen zu halten. Die Wahrheit und Wirklichkeit Gottes sind der Wesenskern und – wenn Sie so wollen – das „Kerngeschäft“ der Kirche. Ihm fühle ich mich auch nach meiner Entpflichtung verpflichtet. Und unsere strahlende Liturgie und Kirchenmusik faszinieren mich auch nach 45 Jahren mehr denn je. Ja, ich denke, ich würde mich wieder für die Berufung zum Priester entscheiden.

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