Eine Gräfin macht Schule

Maria von Graimberg gründete die erste Berufsschule für Frauen in Heidelberg.

In den Altstadtgassen, die zum Neckar hinunter führten, muss das Elend entsetzlich gewesen sein. Arbeiter lebten hier. Familien mit vier, fünf, sechs Kindern teilten sich ein oder zwei lichtlose Zimmer, in denen auch noch gekocht wurde. Mehr als zehn Stunden arbeitete eine Fabrikarbeiterin um 1900; danach bewältigten die Frauen noch Haushalt und Kinder.

Alle waren völlig überfordert, viele starben jung. Zurück blieben verwahrloste Kinder ohne Zukunft. Keine Hilfe nirgends. 

Mit barmherzigen Gaben allein wird man dieser Not nicht Herr, diagnostizierte die junge Gräfin Maria von Graimberg, die im großväterlichen Anwesen am Heidelberger Kornmarkt lebte. Am 26. April 1911 eröffnete sie hier im Palais Graimberg die erste katholische soziale Frauenschule Deutschlands. Junge Mädchen aus bürgerlichen Kreisen erlernten hier den Beruf der Sozialarbeiterin. Hundert Jahre später ist aus dieser Frauenschule die Katholische Fachschule für Sozialwesen geworden. Maria von Graimberg wurde für ihr Engagement zur Ehrenbürgerin von Heidelberg ernannt. Als eine von bislang nur drei Frauen.

Sticken, aquarellieren, Klavier spielen. Gräfin Maria langweilte dieser weibliche Zeitvertreib

Im Palais Graimberg am Kornmarkt hat die soziale Gräfin gelebt und gelehrt.

Zierliche Stickereien anfertigen, ein wenig aquarellieren und Klavier spielen – andere Tätigkeiten schickten sich zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts nicht für ein adliges Fräulein. Gräfin Maria von Graimberg langweilte dieser weibliche Zeitvertreib. Intelligent, gebildet, tüchtig und durchsetzungsfähig, wollte die Comtesse etwas Bleibendes schaffen. Ein Lebenswerk. Welch ein gewagtes Vorhaben in einer Zeit, die Frauen nicht einmal eine eigene Meinung, geschweige denn ein Selbstbestimmungsrecht zubilligte. 

Geboren am 8. Juli 1879 war Maria die ältere der beiden Töchter des Grafenpaares Anna Maria und Philibert von Graimberg. Philibert, der als Beruf „Privatier“ angab, lebte vom Erbe seines Vaters. Charles de Graimberg war berühmt geworden, weil er das Heidelberger Schloss gerettet und das Kurpfälzische Museum gegründet hatte. 1895 starb Philibert von Graimberg. Seine Witwe übersiedelte mit den beiden Töchtern ins Graimbergsche Familienanwesen am Kornmarkt 5. 

Charles de Graimberg, der „Schlossretter“, war ihr Großvater.

Anna Maria von Graimberg war eine resolute Frau, deren Augen recht streng hinter einem Zwicker hervorsahen. Wie später ihre beiden Töchter dachte sie nicht daran, ihr Leben im Salon zu verbringen. Die fromme Katholikin sah ihre Aufgabe in der Wohltätigkeit. 1906 gründete die „Gräfin Mutter“, wie Anna Maria in Heidelberg stets genannt wurde, den „katholischen Fürsorgeverein“ und das Paulusheim für ledige junge Mütter. Später kamen noch einige Kinderheime hinzu. Aus einem ist das heutige Vincentiuskrankenhaus hervorgegangen. 

Die Comtesse wollte eine Schule für professionelle Sozialarbeit gründen

Maria von Graimberg, die Tochter, half oft im Büro des mütterlichen Fürsorgevereins aus und erlebte das soziale Elend der Altstadt hautnah. Schon 1907 hatte sie vage Pläne einer eigenen Akademie für Frauen entwickelt. „Maria erkannte, dass barmherzige Arbeit ohne Wissen um soziale Zusammenhänge und Sozialgesetzgebung unzureichend bleiben muss“, schreibt Susanne Zeller, die Biographin der Gräfin. Die Comtesse wollte zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Eine Schule für professionelle Sozialarbeit würde einerseits die Not der Armen lindern. Andererseits gäbe sie höheren Töchtern endlich die Möglichkeit, einen Beruf zu erlernen. Ein erster Schritt zur Gleichberechtigung. 

Religion, VWL und Armenpflege standen auf dem Stundenplan.

Doch Maria war jung und unerfahren. Sie machte Fehler. Auf dem Lehrplan der neuen Schule standen neben Religion, Volkswirtschaftslehre und Armenpflege auch „Meisterwerke der deutschen Literatur“, Französisch und englische Korrespondenz. Dieser großbürgerliche Mischmasch zeuge von „sozialem Dilettantismus“, schrieb denn auch prompt die  Zeitung des „Bundes deutscher Frauenvereine“. 

Lehrerinnen und Schülerinnen lebten, aßen und arbeiteten miteinander.

Entsprechend zaghaft die Anmeldungen. „Wenn ich zurückdenke an den 26. April 1911, so sehe ich vor mir ein Zimmer von normaler Größe, in dem sich vier Menschen befanden: Eine Lehrerin und ganze drei Schülerinnen. Das war unser Beginn!“, erinnerte sich Gräfin von Graimberg Jahre später.

Die Katholische Soziale Frauenschule startet 1911 mit einem einjährigen Kurs. Ab 1913 dauerte die Ausbildung zur Sozialarbeiterin zwei Jahre. „Die kleine Schule am Kornmarkt zeichnete sich durch eine ausgesprochen familiäre Atmosphäre aus“, hat Biographin Susanne Zeller herausgefunden. „Lehrerinnen und Schülerinnern lebten, arbeiteten und aßen miteinander.“ Sie gingen aber auch gemeinsam wandern und besuchten die Gottesdienste in der Jesuitenkirche. 

Als das Frauenwahlrecht eingeführt wurde, trat sie sofort in die Zentrumspartei ein und wurde gewählt.

Krieg und Inflation haben das Vermögen der Graimbergs verschlungen.

Der erste Weltkrieg. Das Elend breitete sich aus; das Interesse an der Graimbergschen Frauenschule wuchs. 1917 meldeten sich schon dreißig Schülerinnen pro Jahrgang im Palais Graimberg an. 1918 fanden die Prüfungen erstmals unter staatlicher Aufsicht statt. Jetzt konnte man an der Frauenschule sogar ein anerkanntes Diplom erwerben. Dass im gleichen Jahr in Deutschland das Frauenwahlrecht eingeführt wurde, war für Maria von Graimberg eine zusätzliche Genugtuung. Die Gräfin trat sofort in die Zentrumspartei ein und wurde zur Heidelberger Stadtverordneten gewählt. 

Freilich – so gut der Ruf der Heidelberger Frauenschule auch war, finanziell war sie ein Desaster. Das Graimbergsche Familienvermögen hatten Krieg und Inflation aufgezehrt. Mitte der zwanziger Jahre war die Gräfin so verschuldet, dass sie den Caritasverband um einen Kredit bitten musste. Und es sollte noch viel schlimmer kommen. 

Eine Anpassung an die nationalsozialistische Ideologie war für die Gräfin undenkbar.

Ein Aquarell von Charles de Graimberg.

Kaum hatten die Nationalsozialisten die Macht in Deutschland übernommen, geriet die katholische Frauenschule unter Druck. Staatliche Zuschüsse sowie die staatliche Anerkennung wurden gestrichen. Die Zahl der Anmeldungen stürzte ab. Niemand wollte seine Töchter mehr auf eine katholische Schule schicken. Maria von Graimberg war sehr fromm. Als junges Mädchen hatte sie mit dem Gedanken gespielt, ins Kloster zu gehen. Ihr Leben lang lebte sie nach der Regel des heiligen Benedikt von Nursia. Eine Anpassung an die  nationalsozialistische Ideologie war für sie undenkbar. Vielmehr soll sie in einer Dachkammer Juden versteckt haben, die nach Gurs deportiert werden sollten. 

Anfang 1944 das Aus. Von Geldsorgen erdrückt, überschrieb Gräfin von Graimberg das herrschaftliche Anwesen am Kornmarkt 5 dem Deutschen Caritasverband. Den beiden Graimberg-Schwestern blieben nur drei Zimmer und eine kleine Leibrente von 361 Mark. Am 14. Juni 1965 ist Maria von Graimberg gestorben. 

„Sie war sehr streng, aber auch sehr liebevoll. Man hat gemerkt, sie meint es gut mit mir.“

Mehr als tausend Mädchen hat die Gräfin zur Sozialarbeiterin ausgebildet. „Sie war sehr streng, aber auch sehr liebevoll“, erinnert sich Irene Sturm aus der Heidelberger Südstadt. Von 1946 bis 1948 war sie Schülerin an der katholischen Frauenschule. „Man hat gemerkt, die Gräfin meint es gut mit einem.“ Auf Etikette habe die Schulleiterin geachtet, sagt Irene Sturm. Und darauf, was sich für eine junge Dame schickt. „Die Gräfin hatte Niveau, und das wollte sie an ihre Schülerinnen weitergeben.“

Das Grab der Gräfin auf dem Heidelberger Bergfriedhof.

Der deutsche Caritasverband führte die Frauenschule weiter. Heute heißt sie „Katholische  Fachschule für Sozialwesen“ und hat sich auf Jugend- und Heimerziehung spezialisiert. Längst lernen die angehenden Erzieher – natürlich sind inzwischen auch Männer dabei – nicht mehr in der Altstadt, sondern in der Rohrbacher Straße 128. In Siebziger Jahren verkaufte die Caritas das Palais Graimberg an die Stadt Heidelberg. Heute residiert hier der Erste Bürgermeister. 

In ihrem Testament verfügte Maria von Graimberg: „Die Sorge um unser Familiengrab auf dem Bergfriedhof bitte ich die Stadt Heidelberg für alle Zeiten zu übernehmen.“ Irene Sturm, die Schülerin, hat das Grab der Lehrerin kürzlich besucht und fand die Schrift recht verwittert. „Den Namen der Gräfin kann man kaum noch lesen.“

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