Kein Kinderspiel

Das Heidelberger Paulusheim kümmert sich um Kinder aus schwierigen Verhältnissen.

Das Schlimmste, was man einem Kind antun kann, ist, es von seinen Eltern zu trennen. Sagt Thomas Burger, der Geschäftsführer des Heidelberger Paulusheims. Dabei weiß niemand so gut wie er, welch schreckliche Zustände manchmal in Familien herrschen. Wenn sie feststecken in einem Teufelskreis aus Arbeitslosigkeit, Alkohol, Drogen und Wohnungsnot.

Das Paulusheim bietet den Kindern in solchen Fällen ein Zuhause auf Zeit, bis die Eltern ihr Leben wieder im Griff haben. Getragen wird das Heim vom „Sozialdienst katholischer Frauen“ (SkF). Geleitet wird es seit 34 Jahren vom Sozialpädagogen Thomas Burger. Am 16. Juni verabschiedet er sich in den Ruhestand. Zeit für einen Besuch in einer Welt, mit der die Wenigsten je in Berührung kommen.

„Die Familien sitzen eng aufeinander, niemand hat seinen eigenen Bereich. Das muss explodieren.“

32 „vollstationäre“ Plätze besitzt das Kinderheim, das 2009 aus einer Ziegelhäuser Villa nach Rohrbach umzog. Die Plätze sind immer alle vergeben. Die meisten Kinder, die derzeit in der Felix-Wankel-Straße leben, besuchen noch die Grundschule.

„Es gibt stets ein ganzes Bündel von Gründen, warum sich Eltern nicht mehr adäquat um ihre Kinder kümmern können“, berichtet Heimleiter Thomas Burger. Arbeitslosigkeit, Drogen und Alkohol stehen ganz oben auf der Liste. „Aber auch Misshandlung und Missbrauch kommen vor.“ Und die Wohnsituation sei immer eine Katastrophe. „Die Familien sitzen eng aufeinander, niemand hat seinen eigenen Bereich. Das muss zwangsläufig explodieren.“

Thomas Burger hat das Heim 34 Jahre lang geleitet. Jetzt geht er in den Ruhestand.

Die Kinder besuchen regelmäßig ihre Eltern. Auch wenn dadurch alte Wunden wieder aufgerissen werden.

Zwei bis fünf Jahre bleiben die Kinder im Paulusheim, oft zusammen mit ihren Geschwistern. „Sie werden intensiv psychologisch und sozialpädagogisch betreut“, berichtet Burger. Seine Erzieher bildet das Paulusheim inzwischen weitgehend selbst aus. „Sonst hätten wir schon lange riesige Personalprobleme.“ Der Markt der Erzieher seit praktisch leergeräumt. „Dabei kann man von diesem Beruf heute gut eine Familie ernähren.“

Die Kinder im Paulusheim gehen in die normale Regelschule vor Ort. Sie treiben Sport, haben Hobbys und besuchen regelmäßig ihre Eltern. Obwohl dadurch oft alte Wunden wieder aufgerissen werden. „Manchmal haben die Erzieher nach solch dem Besuchswochenende das Gefühl, wieder ganz von vorn anfangen zu müssen“, berichtet Thomas Burger. Aber für die Kinder seien die Elterntage unverzichtbar. „Es ist unglaublich, wie sehr die Kinder an ihren Familien hängen. Ganz egal, was ihnen im Elternhaus angetan wurde, ihr größter Wunsch bleibt immer, so schnell wie möglich wieder nach Hause zu dürfen.“

2009 baute sich das Paulusheim in zwei neue Häuser in Heidelberg-Rohrbach

Die katholische Kirche ist seit den Jugendjahren Burgers zweites Zuhause.

In Freiburg, dem Zentrum des Badischen Katholizismus, ist Thomas Burger aufgewachsen. In den wilden Siebzigern. Morgens besuchte er das Technische Gymnasium, abends traf man ihn in der Katholischen Jungen Gemeinde. „Wir waren ein sehr aufmüpfiger Jugendverband“, erinnert sich der Heimleiter strahlend. „Ich gehörte zur Leiterrunde, war im Pfarrgemeinderat und auf Dekanatsebene aktiv.“ Die katholische Kirche als zweites Zuhause.

Kein Wunder, dass Thomas Burger hier auch seine spätere Frau kennengelernt hat. „Ich war 19, sie war 17.“ Petra Burger ist heute Grundschulrektorin in Waibstadt. Ende November feiert das Paar seinen 40. Hochzeitstag.

Als Studenten waren wir alle Idealisten. Mit Geld wollten wir nie etwas zu tun haben.“

Im „neuen“ Paulusheim gibt es auch Appartements für minderjährige Mütter.

Nach dem Abitur schwankte Thomas Burger kurz zwischen Elektrotechnik und Pädagogik. Der Traum von der besseren Welt gewann. „Es waren sehr schöne Jahre an der Fachhochschule für Soziale Arbeit in Freiburg“, erinnert er sich. „Wir waren alle Idealisten und haben stolz verkündet: Mit Geld wollen wir nie etwas zu tun haben.“ Kaum fünf Jahre später war schon der erste Kommilitone Geschäftsführer eines Sozialverbandes. Und hatte nur noch mit Geld zu tun. Thomas Burger brauchte ein wenig länger bis zur Geschäftsführung. Aber mittlerweile weiß auch er, wie man Bilanzen schreibt und wie sich solch ein Riesenbetrieb rechnet. 

Erst Studium, dann Zivildienst. Burger arbeitete in einem Lehrlingswohnheim des Caritasverbandes in Freiburg. Wo es ihm so gut gefiel, dass er noch vier weitere Jahre blieb. Dann, 1989, der entscheidende Anruf von der Erzdiözese Freiburg: „In Heidelberg gibt es ein Kinderheim, das von Benediktinerinnen geführt wird. Die Schwestern suchen einen Erziehungsleiter.“ Ein paar Wochen später übersiedelte das Ehepaar Burger an den Neckar.

Die Struktur unserer Gesellschaft hat sich in den letzten dreißig Jahren komplett verändert. Die Menschen werden immer einsamer.

Die Struktur unserer Gesellschaft hat sich in den letzten drei Jahrzehnten komplett verändert, beobachtet Thomas Burger. „Die Menschen werden immer einsamer.“

Als er in Ziegelhausen angefangen habe, seien die Kinder am Besuchswochende von ganzen Famlienclans abgeholt worden. Oma, Opa, Tante, Cousine. Heute stehen meist nur noch die Mutter oder der Vater allein vor dem Tor. Es gebe sogar Kinder, die noch nicht einmal mehr Kontakt mit ihren Großeltern haben. „Viele der psychischen Erkrankungen, unter denen die Eltern leiden, wurzeln in dieser gesellschaftlichen Vereinsamung.“

Womit wir bei Corona wären. „Die Zeit der Pandemie war das Furchtbarste, was ich in all den Jahren im Paulusheim erlebt habe“, stöhnt Geschäftsführer Burger. Wenn es nach der Politik gegangen wäre, hätte er das Heim sofort schließen und die Kinder in die Isolation zu ihren Eltern zurückschicken sollen. Also genau dorthin, wo man sie gerade mit viel Mühe herausgeholt hatte. „Das war für uns nie eine Option“, sagt Thomas Burger deutlich. „Also haben wir den stationären Bereich weiterbetreut. Rund um die Uhr. Egal, was passierte.“ Die Erzieher haben sogar noch zusätzlich die Rolle der Lehrer übernommen. Was den Kindern gut getan hat. „Fast alle haben sich durch diesen Privatunterricht deutlich verbessert.“

Während der Corona-Krise konnte das Paulusheim die Kinder ja nicht einfach zu ihren Eltern zurückschicken.

Das Paulusheim kümmert sich jedoch nicht nur um die 32 Kinder, die Tag und Nacht hier leben. Es gibt darüber hinaus auch noch etliche „Tagesgruppen“. Das sind Kinder, die nach der Schule ins Heim kommen und abends zu ihren Eltern zurückkehren. Diese Gruppen während der Pandemie einfach zu schließen, hat in Rohrbach niemand übers Herz gebracht.

Die Kinder der „Tagesgruppen“ wohnen bei den Eltern, verbringen den Tag aber im Heim.

„Wir wissen, wie es bei diesen Kindern zuhause zugeht. Da leben in einer Dreizimmerwohnung sieben Leute und mehr“, berichtet Burger. „Und wenn es überhaupt irgendwo einen Computer gibt, nutzt ihn gerade jemand als Homeoffice.“ 

Einen Modus zu finden, wie die Tageskinder des Paulusheims, von der Erziehern weiterhin gefördert werden können, war die schwierigste Aufgabe, die Thomas Burger in Corona zu lösen hatte. Man hat sie schließlich in winzige Grüppchen aufgeteilt. Die eine Hälfte kam am Vormittag, die andere am Nachmittag. So dass es zu keiner Zeit eine Berührung zwischen den Gruppen gab. Überall waren Bewegungskorridore gekennzeichnet, selbst der große Spielplatz des Heims war mit rotweißen Bändern in Zonen aufgeteilt.

Die Angst, die er als Geschäftsführer während Corona hatte, steckt Thomas Burger bis heute in den Knochen.

„Unsere Mitarbeiter haben in dieser Zeit Überstunden ohne jedes Ende gemacht“, erinnert sich Burger. „Aber wir haben es geschafft, dass jedes Kind mindestens einmal am Tag bei uns war.“ Viele Kinder hätten ihren Notendurchschnitt dank der Einzelbetreuung sogar deutlich verbessert.

Thomas Burger und seine Frau Petra sind seit 46 Jahren ein glückliches Paar.

So nett das rückblickend klingt, die Angst, die ihn in Corona Tag und Nacht begleitet hat, wird Thomas Burger nie wieder vergessen. „Die steckt mir für immer in den Knochen.“ Dabei hatte der Heimleiter die Verwaltung hermetisch abgeriegelt vom Rest des Hauses. „Ich habe nur noch per Videokonferenz mit den Mitarbeiter kommuniziert und die Kinder gar nicht mehr gesehen.“

Was für Burger sehr schlimm war. Aber die Jugendämter mussten ihre Rechnungen bekommen, die Bestellungen gemacht und der Betrieb irgendwie aufrecht erhalten werden. Die Last der Verantwortung habe in diesen langen Monaten sehr schwer auf ihm gelastet, gesteht Burger. „Wenn das Paulusheim ein Hotspot geworden wären, wäre das alles auf mich zurückgefallen. Wir haben Glück gehabt. Aber es war gefährlich.“

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