Zwei Zahlen genügen, um die Situation der katholischen Kirche in Deutschland zu beschreiben: 522 821 Austritte verzeichneten die Bistümer im Jahr 2022. Das ist ein neuer Rekord. Und fast gleichzeitig kam die Meldung, dass in diesem Jahr nur 33 neue Priester geweiht wurden. Bundesweit. Das ist der historische Tiefstand. Handeln tut folglich Not. Das wissen die Bischöfe und strukturieren derzeit kräftig um.
Das Erzbistum Freiburg, immerhin die drittgrößte Diözese Deutschlands, will seine 224 Seelsorgeeinheiten künftig in 36 „Pfarreien“ bündeln. Wie das konkret funktionieren soll, kann sich momentan noch niemand vorstellen. Ein Werkstattbesuch an der Bergstraße.
Rund 35000 Katholiken wird die neugebildete Pfarrei zählen. Geleitet wird sie von nur einem Pfarrer.
Majestätisch thront die Heilig-Kreuz-Kirche auf ihrem Bergsporn und blickt hinab ins Tal der Steinach. Wie still es hier ist. Und wie wild. Kein Handy-Empfang und kein künstliches Licht stören des Nachts in Heiligkreuzsteinach den Blick hinauf zum Firmament. Die Industrie und die Autobahnen sind äonenweit entfernt. Völlig anders dagegen Ladenburg. Die uralte Römerstadt mit ihre ehemaligen Bischofskirche liegt mittendrin im Ballungsraum. Es rauscht und braust und dampft. Immobilien sind unerschwinglich. Der ICE nach Berlin hält stündlich fast vor der Haustür.
20 Kilometer Luftlinie, 200 Höhenmeter und mehrere Welten liegen zwischen dem Dorf im Odenwald und dem Touristenmagnet am Neckar. Dennoch werden die Katholiken aus Heiligkreuzsteinach und aus Ladenburg spätestens ab 1. Januar 2026 eine gemeinsame Pfarrei bilden. Zusammen mit den Dörfern an der Bergstraße, den Städten Weinheim und Schriesheim und mit der Gemeinde Heddesheim. Rund 35000 Katholiken zählt die neugebildete Pfarrei. Und 19 Kirchen. Geleitet wird das riesige Gebilde von einem einzigen Pfarrer, dem künftig viele kaufmännische „Verwalter“ zuarbeiten.
Kirchen werden nicht verkauft. Das hat Erzbischof Burger erst kürzlich wieder ausdrücklich betont.
Um die Seelen der Gläubigen soll sich ein Pool von Theologen kümmern, die nichts mehr mit Verwaltung zu tun haben. Wie viele Priester, Pastoral- und Gemeindereferenten das sein werden, kann noch niemand sagen. Alle drei Berufsgruppen klagen über Nachwuchsmangel. Offen ist auch noch die Frage, wo künftig das Verwaltungszentrum der katholischen Bergstraße sitzen wird. Die Weinheimer Weststadt ist im Gespräch. Schriesheim auch.
Was mit all den Pfarr- und Gemeindehäusern geschieht, die in absehbarer Zeit leer stehen werden, entscheidet sich erst nach Errichtung der neuen Pfarrei. Kirchen werden definitiv nicht verkauft, hat Erzbischof Stephan Burger erst kürzlich wieder ausdrücklich betont. Sie bleiben alle im Dorf.
Wie aus dem amorphen Gebilde eine Einheit werden soll, weiß derzeit noch niemand.
Eine tragfähige Antwort auf die Frage, wie aus dem amorphen Gebilde „Pfarrei“ eine wirkliche Einheit entstehen soll, hat bislang allerdings noch niemand gefunden. „Wir gehen in kleinen, tastenden Schritten vorsichtig aufeinander zu“, formuliert Markus Bender. Der Religionslehrer und Schuldekan ist Mitglied des Steuerungsteams für die Errichtung der „Pfarrei Bergstraße-Neckar-Odenwald“. Das ist ein provisorischer Name. Wie der Verbund endgültig heißt, muss noch entschieden werden.
Der sperrige Interimstitel liefert allerdings schon jetzt ein schönes Beispiel für das künftige Hauptproblem der „Pfarreien neu“: Wie sehr man sich auch bemüht, irgend jemand fühlt sich immer übergangen. Über den Namen „Bergstraße-Neckar-Odenwald“ beispielsweise schmollen die Katholiken in Heddesheim. Weil ihr Dorf weder an der Bergstraße, noch am Neckar und schon gar nicht im Odenwald liegt.
Ungefähr hundert engagierte Ehrenamtliche haben sich gemeldet, die mithelfen wollen, dem neuen Gebilde Leben einzuhauchen.
Gegen solche Eifersüchteleien gibt es nur ein einziges Heilmittel, findet „Projektkoordinator“ Bender: Die Menschen aus den verschiedenen Gemeinden müssen sich so schnell wie möglich kennenlernen. Das „Steuerungsteam“ hat daher etliche Arbeitsgemeinschaften ins Leben gerufen, in denen „Engagierte aus allen Ecken der neuen Pfarrei miteinander an einem Tisch sitzen“ (Bender). Das Themenspektrum der AGs reicht von „Verkündigung“ und „Gemeinschaft“, über „Musik“ und „Gottesdienst“ bis hin zur „Jugend“.
Die Resonanz ist riesig, berichtet der Pastoralreferent Wolf-Dieter Wöffler aus Weinheim, ebenfalls ein Koordinator. „Ungefähr hundert Leute wollen sich ab sofort regelmäßig treffen.“ Der größte Teil dieser Interessierten habe sich auch schon zuvor ehrenamtlich in der Kirche engagiert, weiß Wöffler. „Aber einige neue Gesichter sind hinzugekommen.“
Die Vorbereitungs-AGs arbeiten völlig frei und ergebnisoffen. Zumindest theoretisch.
Die AGs dürfen völlig frei und ergebnisoffen arbeiten, betont Schuldekan Markus Bender. Selbst auf die Gefahr hin, dass die AG „Taufen“ beschließt, künftig in der Pfarrei Bergstraße-Neckar-Odenwald nur noch ein einziges großes Tauffest im Jahr zu veranstalten. „Dann ist das eben ein Auftrag, an dem die Hauptamtlichen etwas zu knabbern haben.“
Wolf-Dieter Wöfflers Hauptanliegen ist seit vielen Jahren die Frage, wie man Kinder und Jugendliche für Gott begeistern kann. Hier sieht er auch seinen Schwerpunkt in der künftigen Pfarrei. „Wir haben in Weinheim ein Menge Ministranten. Wir haben Jugendgruppen und Pfadfinder“, erzählt er stolz. Absoluter Höhepunkt in jedem Jahr sei das große Sommerlager mit bis zu hundert Kindern und Jugendlichen. „Das haben wir sogar in der Corona-Zeit angeboten, unter den Bedingungen, die damals möglich waren.“
Was wird aus dem Engagement der Jugend, wenn die Wege zu weit sind fürs Fahrrad?
Doch was, so fragt sich Wöffler etwas bang, wird aus dieser boomenden Jugendarbeit in der neuen Pfarrei? Jugendliche nämlich, weiß der Pastoralreferent, engagieren sich grundsätzlich nur projektorientiert und im Nahbereich. „Sie haben weder die Zeit noch die Kapazität, um langfristig in Arbeitsgruppen mitzuarbeiten oder weite Wege zurückzulegen.“
Mögen die Kirchen auch im Dorf bleiben, die Seelsorger findet man hier künftig nicht mehr.
Denn weiter als bisher werden die Wege in der Pfarrei auf jeden Fall. Mögen die Kirchen auch im Dorf bleiben, die Seelsorger findet man hier künftig nicht mehr. Sie sollen ihre Arbeitsplätze in absehbarer Zeit in einem zentralen Seelsorgezentrum haben. Wo das sein wird, steht noch nicht fest. Aber man kann schon ein paar Analogieschlüsse ziehen, wenn man einen Blick nach Heidelberg wirft. Hier existiert die große Stadtkirche mit 34000 Gläubigen schon seit einigen Jahren.
In Heidelberg hat man darauf verzichtet, ein großes neues „Haus der katholischen Stadtkirche“ zu bauen. Stattdessen wurde das Personal auf die Pfarr- und Gemeindehäuser aufgeteilt. Die Verwaltungszentrale, die keinen Publikumsverkehr hat, sitzt jetzt im Pfarrhaus von Wieblingen. Und das zentrale Pfarrbüro befindet sich im umgebauten Pfarrhaus in der Heidelberger Weststadt. Alle anderen Pfarrbüros sind nur noch stundenweise besetzt. Dieses Modell wird die Bergstraße vermutlich übernehmen. „An opulente Neubauten denkt niemand“, sagt Markus Bender.
Schon zum Ende diesen Jahres will Erzbischof Stephan Burger die Namen aller leitenden Pfarrer bekannt geben.
Das Volk Gottes im Erzbistum Freiburg wird in den kommenden Monate ein paar neue Wörter lernen müssen. Neben dem „Leitenden Pfarrer“, der der gesamten Pfarrei vorsteht, gibt es einen „Leitenden Referenten“ und einen „Leitenden Pfarrei-Ökonomen“. Der Pfarrgemeinderat heißt nur mehr „Pfarreirat“. Und der Stiftungsrat wird zum „Verwaltungsrat“.
Schon zum Ende diesen Jahres will der Erzbischof die Namen aller leitenden Pfarrer bekannt geben. Das wird spannend, denn übermäßig begehrt ist dieser Job in Priesterkreisen nicht. Die älteren Semester winken ab, weil sie schon mehr als genug geleitet haben. Und die meisten jungen Priester haben kein gesteigertes Interesse an Verwaltung. Sie wollen das Wort Gottes zu den Menschen bringen.
Das Erzbistum hat zudem noch einige Kriterien vorgegeben, die die Ernennung eines leitenden Pfarrers nicht einfacher machen. Er darf noch nicht länger als acht Jahre im Gebiet seiner neuen Pfarrei tätig gewesen sein. Er sollte möglichst nicht älter sein als 60 Jahre sein und mindestens schon seit sechs Jahre als Priester wirken.
Ende 2025 wird der erste „Pfarreirat“ für Bergstraße-Neckar-Odenwald“ gewählt.
Im Sommer 2024, wenn der neue Pfarrer installiert ist, wird die Pfarrei ihre Gründungsvereinbarung formulieren. Das ist so eine Art Verfassung, in der die Schwerpunkte schriftlich fixiert werden. „Wir haben hier an der Bergstraße sehr selbständige Seelsorgeeinheiten“, sagt Wolf-Dieter Wöffler. Das sei einerseits eine Stärke, andererseits aber auch eine Herausforderung. „Wie schaffen wir es, all diese Player in ein Boot zu setzen und einen Rudertakt zu finden, in dem wir gemeinsam vorankommen.“
Ende 2025 wird dann der erste gemeinsame „Pfarreirat“ für Bergstraße-Neckar-Odenwald gewählt. Damit die neue Pfarrei 2026 mit frischen Kräften starten kann.
Gut im Rennen liegt der Name „St. Marien“. Schon weil die Gottesmutter eine Frau ist.
Am meisten Spaß macht den Katholiken an der Bergstraße, am Neckar und im Odenwald derzeit die Suche nach einem Namen für ihr neues „Baby“. Jede Pfarrei, so will es der Erzbischof, soll sich einen Schutzpatron erwählen. Gern greift man da auf das Patronat einer Kirche zurück. Die Stadtkirche Mannheim beispielsweise hat sich unter den Schutz des heiligen Sebastian gestellt, dem seit Menschengedenken die Marktplatzkirche anvertraut ist. Die Heidelberger wählten gleich die ganz große Variante und vertrauten sich dem Heiligen Geist an, der auch der Patron der Jesuitenkirche ist.
An der Bergstraße gibt es derzeit nur Ideen. St. Marien wird gern genannt. Schon weil die Gottesmutter eine Frau ist. Gut im Rennen liegt aber auch „Heilig Kreuz“, das Patronat von Heiligkreuzsteinach. Markus Bender, staunend: „Die Kirche dort besitzt sogar eine Kreuzreliquie.“