Vielleicht liegt es an der Luft. Sie schmeckt anders hier. Aromatischer. Geheimnisvoller. Oder es ist das Licht. Dieses numinose Halbdunkel, das die Zeit in alle Richtungen dehnt. Wahrscheinlich sind es aber doch die Räume selbst, die sich deutlich von jenen unterscheiden, in denen wir leben. Die Mauern uralter Kirchen sprechen.
Sie erzählen von den Menschen, die hier gebetet haben. Gesungen, gehofft, gefleht. All diese Gefühle sind gespeichert in den glaslosen Fenstern, den verblichenen Fresken und leeren Sakramentshäuschen. Ein Ausflug zu den ältesten Gotteshäusern der Region. Unsere Sommerschätze.
Als der Krieg fast verloren war, betete der Frankenkönig verzweifelt zu diesem „neuen“ christlichen Gott. Und gewann.
Die Geschichte des Christentums in Süddeutschland begann mit einem Gemetzel. Chlodwig, der König der französischen Merowinger, fiel 496 im Land der Alamannen ein. Man lieferte sich eine gnadenlose Schlacht, die Chlodwig zu verlieren drohte. In seiner Verzweiflung erinnerte sich der Franke an den neuen christlichen Gott, den seine Frau verehrte.
Chlodwig versprach diesem Gott ewige Treue, so er ihm zum Sieg verhelfe. Sofort wendete sich das Blatt, und Chlodwig vernichtete das Heer der Alamannen. So jedenfalls erzählt es die Legende. An Weihnachten 508 ließ sich der König in Reims taufen. Von diesem Tag an war das Christentum Staatsreligion im fränkischen Riesenreich.
Als sichtbares Zeichen des neuen Glaubens ließ man unzählige Kirchlein errichten. Meist waren das nur kleine Holzhütten ohne Apsis und Altar. Gottesdienste kannte das 6. Jahrhundert noch nicht. Weshalb die Kapellen gern als Grablege für die Stammesältesten benutzt wurden, denen man goldene Kreuze mit in den Himmel gab. Nach den Standorten für die Kapellen suchten die christlichen Missionare nicht lange. Sie bauten einfach dort, wo zuvor die alamannische Kultstätten gewesen waren. Im Hain des Odin oder an der Quelle der Nymphen.
Vier alte Mauern, ein gotischer Chorbogen und die Aura von zweitausend Jahren.
Eines dieser „getauften“ Heiligtümer ist die Martinskirche von Meckesheim im Kraichgau. Das Kirchlein steht auf einer sonnigen Anhöhe über dem Lobbach, umhüllt von der Aura eines religiösen „Urortes“. Von dem allerdings nur vier Mauern aus Sandstein und ein gotischer Chorbogen übrig geblieben sind.
Die Ruine blickt hinab auf die sanften Wellen des Kraichgaus, im Apfelhain plätschert ein Quellchen und man sieht es förmlich vor sich, wie die römischen Soldaten hier das erste Heiligtum errichtet haben. Vor mehr als 2000 Jahren. Ihre verwitterten Reliefsteine birgt heute das Kurpfälzische Museum in Heidelberg.
Von den Franken stammt die erste Kapelle. Und im Mittalter pilgerten Ströme von Menschen zur gotischen Wallfahrtskirche auf den Hügel hinauf. Wenn man ein wenig sucht, entdeckt man an der Außenseite ihrer Ruine tiefe Kerben, wo die Gläubigen den Sandstein ausgehöhlt haben. Um sich den heiligen Staub ins Essen zu mischen. Als Schutz gegen Krankheiten und gegen den Teufel.
Das lebendige Wasser von flinken Bächen hat von jeher eine starke Anziehungskraft ausgeübt.
Solche Kratzspuren finden sich auch an den Wänden des St. Mauritius-Kirchleins in Hemsbach bei Osterburken. St. Mauritius steht nicht auf einem Hügel, sondern im Tal des Rinschbachs. Sein lebendiges Wasser hat von jeher eine starke Anziehungskraft auf die Menschen ausgeübt: Die Frühzeit opferte hier den Bachnymphen, die irischen Missionare errichteten eine Kapelle mit Taufplatz.
Ihre frühgotische Nachfolgerin, die heute noch hier steht, gleicht einer Gebetshöhle. Verwunschen, dunkel vom Russ der Kerzen, mit wunderbaren Fresken und beständig bedroht vom Hochwasser. Das Mittelalter hielt die Wallfahrtskapelle für den heiligste Ort der ganzen Region. „Drei Ave Maria in Hemsbach“, sagte der Volksmund, “sind mehr wert als dreißig Vaterunser in Walldürn.“
Früher sind Frauen, die sich ein Kind wünschten hinabgestiegen ins eisige Nass.
Das eindrucksvollste Quellheiligtum jedoch steht im bayerischen Amorbach. Draußen in den Wiesen vor der Stadt. Amorsbrunn ist Kapelle wie aus dem Bilderbuch, in deren Innerem es gewaltig rauscht. Die kräftige Quelle entspringt direkt unter den Füßen der Betenden, um sich sodann in ein flaches Bassin zu ergießen.
Im Mittelalter sind Frauen, die sich ein Kind wünschten, ins eisige Nass hinabgestiegen. Die Stufen sind noch da. Voilà. Es gibt inzwischen aber auch eine gemütlichere Alternative: Im Kapellenboden findet sich ein Loch mit einem Eimer an einem langen Seil. Zum Schöpfen des heilbringende Nasses.
„Jeder heilige Raum spricht zu mir“, schreibt der evangelische Theologe Fulbert Steffensky. „Er erzählt von den Menschen, die hier gebetet haben, und von ihren Hoffnungen.“ Je älter die Kirche, desto mehr weiß sie zu berichten.
Berühmt ist die Geschichte, wie Bonifatius kurzerhand die heilige Donar-Eiche gefällt hat.
Die frühen Missionare im Odenwald stammten fast alle von der Britischen Insel. Bonifatius, Kilian, Kolonat, Columban. Die Pilgermönche glaubten glühend und predigten eloquent. Wenn auch mitunter etwas ungestüm und ungeduldig. Berühmt ist die Geschichte, wie Winfried Bonifatius, der Zwei-Meter-Hüne, beim hessischen Fritzlar kurzerhand eine heilige Donar-Eiche gefällt hat. Um vor den Augen der entsetzten Einheimischen aus ihrem Holz ein christliche Kapelle zu bauen.
So spektakulär diese Aktion gewesen sein mag, nachhaltig war sie nicht. Kaum war Bonifatius weitergezogen, kehrten die Alamannen zu ihren Naturgöttern zurück. Nur manchmal huldigten sie bei Vollmond neben Odin auch noch Jesus Christus. Man weiß ja nie.
Der Heiligenberg ist der rätselhafteste mystische Kultort der Region.
Der Heidelberger Heiligenberg ist 440 Meter hoch. Nirgendwo kann man schöner beobachten, wie der Neckar sein enges Felsenbett verlässt und befreit hinausströmt in die Ebene. Schon in der Bronzezeit galt der Heiligenberg als mystischer Kultort. Was seltsam ist.
Normalerweise hat man Heiligtümer immer dort gebaut, wo Wasser ist. Auf dem Heiligenberg jedoch gibt es bis heute keinen verlässlichen Nachweis für eine Quelle. Trotzdem errichteten die Kelten hier oben eine sensationelle Ringmauer und die Römer einen Merkurtempel. Auf seinen Grundmauern wuchs im frühen Mittelalter ein Benediktinerkloster empor.
Die hochfrequentierte Wallfahrtskirche hatte man, wie bei fast alle Bergkirchen, dem Erzengel Michael anvertraut. Weil er es war, der einst den rebellischen Erzengel Luzifer aus dem Himmel gestoßen hat. In der Michaelsbasilika gab es auffallend viele sehr alte Weihwasserbecken. Weil die Mönche alle römischen Göttersteine, die sie gefunden haben nicht zerstören wollten, haben sie kurzerhand „getauft“.
Eiskalt und ungestüm bricht der Schöllenbach unter der alten Apsis aus dem Boden hervor.
„Eine Kirche ist nicht sofort ein Kraftort, wenn sie fertig ist“, überlegt Fulbert Seffensky. Das Gotteshaus wachse erst langsam in diese Rolle hinein. Mit jedem Kind, das darin getauft ist. Mit jedem Gebet, das darin gesprochen wird. Und mit jedem Toten, der darin beweint wird. „Die Menschen heiligen die Kirche mit ihren Tränen und mit ihrem Jubel.“
Was den Bergen der Erzengel Michael, das war dem Wasser die Gottesmutter Maria. Fast alle Quellheiligtümer sind ihr anempfohlen. So auch das im hessischen Schöllenbach, nur einen Katzensprung von Eberbach entfernt. Das bildhübsche Kirchlein profitiert von der Kraft gleich zweier Bäche: Direkt unter der alten Apsis bricht eiskalt und ungestüm der Schöllenbach aus dem Boden hervor. Er überflutet einen gewaltigen Steintrog und stürzt sich dann hinab zum Itterbach. Mehr Urgewalt geht nicht.
Im Mittelalter war die Wallfahrt so populär, dass Schenk Philipp IV. von Erbach das Quellkirchlein zur Basilika erweitern ließ. Mit einem phantastischen spätgotischen Flügelaltar, der heute im Erbacher Schloss steht. Nur durch diesen Umzug konnte er dem Furor der Reformation entgehen, die das Kirchlein fast komplett niedergerissen hat. Heute existieren nur noch die Quellen und der Chor. Er ist eine gefragte Tauf- und Hochzeitskirche.
„Heilige Räume berichten von den Hoffnungen und Träumen der Toten und der Lebenden.“
In alten Kirchen schweigen die Menschen gern, beobachtet Fulbert Steffensky. Weil die Mauern so viel zu erzählen haben. „Die heiligen Räume berichten von den Hoffnungen und Träumen der Toten und der Lebenden. Wir werden ruhiger durch die Ruhe dieser Räume.“
Die älteste karolingische Basilika nördlich der Alpen steht in Steinbach bei Michelstadt. Ein kleiner Mann namens Einhard hat sie erbauen lassen. Im Jahr 824. Mittendrin im unwegsamen Odenwald. Die Einhards-Basilika wirkt wie eine Zeitmaschine. Man tritt über die Pforte und steht im Reich Karls des Großen. Wie still es damals war. Kein Laut durchdringt diese uralten Mauern. Nur die Sonne malt ihre Muster auf den Sandstein.
Das achte Jahrhundert war die Götterdämmerung der Zivilisation. Endgültig vorbei die Zeit der Alamannen. Mit Kaiser Karl kehrte die Kultur zurück. In Form einer neuen Schrift. Erstmals stand jeder Buchstabe für sich. Was das Lesen enorm erleichterte. Den Klöstern oblag es nun, das gesamte Wissen der Welt niederzuschreiben. Eine Mammutaufgabe.
Der junge Einhard avancierte rasch zum Lieblingsdichter von Karl dem Großen.
Auch der junge Einhard begann als Schreiber im Kloster Fulda, avancierte dann aber rasch zum Lieblingsdichter des Kaisers am Hof in Aachen. Zum Dank für seine Lyrik erhielt Einhard das Dorf Michelstadt im Odenwald, wo er die „Vita Karoli Magni“ niederschrieb. Weltliteratur.
Kaum war das Werk vollbracht, nahm Einhard die Ewigkeit in Angriff. Die Basilika, die seine Grablege werden sollte, ist ein hoher, weiter, kubischer Raum. Beleuchtet allein durch Fensternischen in den Obergaden. Mystisch, still, sakral. Voll von aromatischer Luft und geheimnisvollem Licht. Das Urbild der sakralen Architektur. Bis heute.