Intelligent schrumpfen

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Das Pfarrerteam aus Sandhausen:
Henriette Freidhof und Bernhard Weilandt

Die sakrale Architektur ist zurück. Es werden tatsächlich wieder Kirchen gebaut. Evangelische, katholische und – ökumenische. Zugegeben, es sind keine neuen Gotteshäuser sondern radikale Umbauten. Aber sie sprechen die Formensprache des 21. Jahrhunderts.

Da schwebt ein Saal aus Glas wie eine quadratische Seifenblase im Kirchenschiff. Da formen Gruppenräume ein Fundament, auf dem der Altar unter dreieckigem Dach dahinsegelt. Das wirkt spannend, modern und frei, obwohl es aus der Not geboren ist. Ein Baustellenbesuch.

Die evangelische Christuskirche in Sandhausen ist eine neugotische Kirche, wie man sie in Nordbaden zu Dutzenden findet. Hermann Behaghel hat sie 1866 entworfen mit spitzem Turm, umlaufender Empore und monumental-schwebendem Heiland im Mittelfenster.

Im Modernisierungsfieber fräste man Verzierungen ab und überstrich die Rankenmalerei

Der GAU für die Christuskirche ereignete sich in den 1960er Jahren. Im Modernisierungsfieber frästen die Sandhäuser die Holzverzierungen ab, überstrichen die Rankenmalerei und hängten die Decke so ungeschickt tiefer, so dass die schöne Sandsteinspitze des Chorbogens darunter verschwand. Prinzipalien aus Beton komplettieren den Mischmasch seit 1987.

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Die Christuskirche in Sandhausen wurde
1866 im neugotischen Stil erbaut

Längst ist die Christuskirche viel zu groß für die Gemeinde, die nur mehr 5400 Mitglieder zählt. Den Sonntagsgottesdienst besuchen etwa 90. Außerdem ist das Behaghel-Bauwerk unpraktisch. Altar und Ambo stehen isoliert vorne im Chor meterweit von den Kirchenbänken entfernt.

Umbau hätte Not getan. Schon lange. Doch woher das Geld nehmen? Sandhausens Protestanten besaßen ja auch noch zwei Gemeindehäuser mit zwei Kindergärten und ein Pfarrhaus. Mühsam hangelte man sich von Rechnung zu Rechnung, von Defizit zu Defizit. 2011 platzte die Blase. Die Badische Landeskirche forderte ein „Haushaltssicherungskonzept“. Die Christusgemeinde vor dem Offenbarungseid.

Jeder evangelische Kirchenbezirk muss seine Gebäudekosten um 30 Prozent senken

Sandhausen ist kein Einzelfall. 2800 Kirchen, Gemeinde- und Pfarrhäuser verzeichnet die Inventarliste der Badischen Landeskirche. Teilt man das durch 677 Gemeinden, so kommt man auf drei und mehr Häuser pro Ort. Das Erzbistum Freiburg besitzt 5427 Gebäude, also fast doppelt so viele. All diese Immobilien verursachen Fixkosten, die bald schwer auf den Gemeinden lasten werden.

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Wie eine fünfschiffigen Basilka
soll die Christuskirche aussehen

Noch gibt es in Baden etwas mehr als 1,2 Millionen Protestanten und fast 1,9 Millionen Katholiken, aber beide Kurven neigen sich nach unten. Die Prognose der Badischen Landeskirche für das Jahr 2040 rechnet mit 20 Prozent weniger Gläubigen und 30 Prozent weniger Kirchensteuern. Weil immer mehr Gläubige in Rente gehen.

Da hilft nur eines: Den Immobilienbestand schrumpfen. Jeder evangelische Kirchenbezirk in Baden muss seine Gebäudekosten um 30 Prozent verringern. Das ist viel. Beim Erzbistum Freiburg hält man sich mit Zahlen noch zurück. Aber auch die Katholiken müssen reduzieren. Nur wie?

Mit „Intelligten Transformationen“ ins 21. Jahrhundert

„Der Abriss von Kirchen ist immer die Ultima Ratio“, postuliert Werner Wolf-Holzäpfel, der Leiter des Erzbischöflichen Bauamts in Heidelberg. „Jede andere Nutzung hat Vorrang.“ Schließlich sind Kirchen nicht nur durchbetete Mauern, sie sind auch Zeichen für die Existenz des Christentums in unserer Gesellschaft. Solche Signale werden momentan dringender gebraucht denn je.

Die EKD empfiehlt daher, die Gemeindehäuser zu verkaufen und diese Räume in die Kirchen zu integrieren. „Intelligente Transformationen“, nennt Thomas Erne, der Leiter des evangelischen Instituts für Kirchenbau, solche Two-in-One-Gotteshäuser. Sie sind de facto völlig neue Kirchen. Die ersten, die seit den 1980er Jahren gebaut werden.

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In der Martinskirche in Mannheim
segelt der Altar auf den Gemeinderäumen

Für die Sandhäuser Christusgemeinde war die Analyse ihrer Gebäude ein Schock. „Alle müssen saniert werden. Die vorschriftsmäßige Barrierefreiheit ist nirgends vorhanden. Der Investitionsstau beträgt rund 425.000 Euro. In den nächsten zwanzig Jahren müssen rund drei Millionen Euro investiert werden“, stand in dem Bericht der „Gesellschaft für Projektentwicklung für kirchliches Bauen in Baden“ (prokiba). Totalschaden. So etwas trifft eine Gemeinde ins Herz. Zumal sich viele Menschen noch erinnern können, wie all die Räume gebaut wurden.

Die radikale Reduktion auf die Kirche war eine Befreiung

Tapfer verkauften die Sandhäuser das Pfarrhaus und ein Gemeindehaus zu „sehr guten Preisen“, wie Pfarrer Bernhard Wielandt formuliert. Sandhausen liegt vor den Toren Heidelbergs. Die beiden Kindergärten fusionierten. Jetzt stand die finale Entscheidung an: Sollte man auch das zweite Gemeindehaus veräußern und sich auf die Kirche beschränken? Ein wirklich radikaler Schritt. In Sandhausen hat man ihn gewagt.

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St. Bartholomäus in Heidelberg-
Wieblingen vorher …

„Es war schon ein merkwürdiges Gefühl, plötzlich nur noch die Kirche zu haben“, erinnert sich Pfarrerin Henriette Freidhof. Zugleich war es aber auch eine  Befreiung. Jetzt konnte man sich neue Räume maßschneidern lassen.

Alle Aktivitäten der Gemeinde in die Kirche verlegen – diese Idee hat durchaus Charme. Gerade auf dem Dorf, wo die Mittelpunkte zunehmend verschwinden, könnten die Kirchen zu Zentren der Begegnung werden. Kirchenkaffee, Mittagstisch, Krabbelgruppen, Seniorengymnastik, Jugenddisco, Sprachkurse für Flüchtlinge. Eigentlich eine schöne Vision.

„Ein heiliger Raum muss anders sein als der Raum, in dem ich wohne, arbeite, esse“

…. und nachher

„Doch könnte man in so einer Kirche auch weinen?“, fragt Fulbert Steffensky, protestantischer Theologe mit benediktinischer Vergangenheit. „Ein heiliger Raum muss anders sein als der Raum, in dem ich wohne, arbeite, esse.“ Es brauche Kargheim und Stille, damit die Menschen ihre Seele schweifen lassen können. „Der heilige Raum ist dunkel von der Patina der Seufzer, der Gebete und der Zweifel. Er erzählt die Geschichten der Menschen, die vor mir waren.“

Über eine Million Kerzen werden jährlich in Autobahnkirchen angezünden, ergänzt Thomas Erne, der Leiter des Kirchenbau-Instituts. „Diese Menschen wollen keinen Pfarrer sehen und sich in keine Gemeinde integrieren. Sie suchen den Kirchenraum.“

Man kann diese Einwände nicht wichtig genug nehmen. Sonst fallen wir zurück in die finsteren Zeiten der Mehrzweckräume, als zwischen Basketballkörben gebetet wurde.

Ein Kirchenraum für zwei Konfessionen. Das gab es noch nie.

Werner Wolf-Holzäpfel, der Erzbischöfliche Bauamtsleiter, tastet sich deshalb sehr vorsichtig an den neuen Trend heran. In die Betonkirchen von Mosbach-Waldstadt und Meckesheim hat er bereits Gemeinderäume integriert. Die Pläne für den Umbau von St. Bartholomäus in Heidelberg-Wieblingen liegen auf dem Tisch. In allen drei Fällen verkleinert sich der Kichenraum um fast die Hälfte, „behält aber seine Autonomie“ (Wolf-Holzäpfel). Der Saal wird in die Rückfront integriert mit separatem Eingang und Glasfront.

St. Martin in Meckesheim hat sich beim Umbau gleich noch in ein sakrales Kraftwerk verwandelt. Der Sichtbetonbau mit Künstlerfenstern wurde in transluzentes Polycarbonat gewickelt und mit Sonnenkollektoren bestückt. Die Kirche produziert jetzt mehr Energie als sie verbraucht.

St. Martinskirche, Meckesheim
Eine Polycarbonathülle macht aus
St. Martin ein sakrales Kraftwerk

Das spektakulärste Projekt entsteht derzeit in Mannheim-Neuostheim. Aus St. Pius, einer filigranen Sechzigerjahre-Kirche , soll die erste ökumenische Kirche werden. Ein Kirchenraum für zwei Konfessionen. Das gab es noch nie. Wie man hört, soll der Tabernakel optisch vom Gottesdienstraum abgetrennt werden „als Raum für die stille Andacht“ (Wolf-Holzäpfel). Der Altarblock, das Zentrum der neuen Kirche,  wird von drei Seiten mit Bänken umgeben. Sollte sich die ökumenische Kirche bewähren, hätte die Diskussion über den Verkauf oder Abriss von Kirchen ein neues Argument.

Der Kapellenkranz verleiht der Christuskirche eine neue Würde

In Sandhausen herrscht inzwischen Vorfreude. Der Architektenwettbewerb zum Umbau der Kirche ist entschieden, ein würdiger Sieger gekürt. „Wulf Architekten“ aus Stuttgart haben die zauberhafte Idee entwickelt, den Fuß der neugotische Kirche mit einem schmalen Arkadenkranz einzurahmen. Der verglaste Anbau bieten Raum für das Pfarramt, den Saal, diverse Gruppenräume, Küche und Sanitäranlagen.

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In den „Kapellchen“ befinden
sich die Gemeinderäume

Man betritt die Räume von der Kirche aus. Eine Glaswand teilt den Eingangsbereich unter der Rückempore ab, so dass ein wuseliges Foyer entstehen. Alles ebenerdig und barrierefrei. Der Kapellenkranz verleiht dem neugotischen Gotteshaus eine neue Würde. Wie eine fünfschiffige Basilika stolz ihren Turm gen Himmel.

3,4 Millionen Euro wird der Umbau kosten. Glücklicherweise zählt die Christuskirche zu den 85 Gotteshäusern, die von der Evangelischen Stiftung Pflege Schönau unterhalten werden. Die ESPS, die seit mehr als 450 Jahren das Vermögen des ehemaligen Klosters Schönau mehrt, trägt die Kosten für die Renovierung der Kirche in Sandhausen. Die modernen Anbauten zahlt die Gemeinde aus eigener Tasche. Sie ist ja inzwischen gut gefüllt.

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