Die Kraft der roten Taube

Pfingsten ist das geheimnisvollste Fest. Und das spannendste.

Sechs Uhr morgens. Der Wecker klingelt zwar, aber heute darf man ausschlafen. Gerade will man sich wieder umdrehen, da meint man ein Rascheln zu hören, begleitet von einem lieblichen Duft. Als ob Hunderte von Rosenblättern aufs Bett herab rieselten. Und jedesmal, wenn eines die Haut berührt, erhält man einen kleinen Energiestoß.

Kein Gedanke mehr an Schlaf. Jetzt will man nur noch raus auf die Straße. Menschen umarmen, Bäume ausreißen, Wunder vollbringen, die Welt retten. So wirkt Pfingsten. Das Fest des Heiligen Geistes schenkt Mut, Kraft, Hoffnung, Zuversicht, Trost und Weisheit. Eigentlich alles, was der Mensch zum Leben braucht. Eine Annäherung an das vielleicht spannendste der drei großen christlichen Feste. 

Pfingsten besitzt nichts, was man anfassen kann. Keine Geschenke, keine Bäume, keine Eier.

Das Pfingstfenster der Heilig-Geist-Kirche von Mannheim.

Pfingsten besitzt keinerlei Haptik. Es gibt nichts, was man anfassen könnte. Niemand kauft Geschenke, schmückt Bäume oder bemalt Eier. Keiner kommt auf die Idee, an Pfingsten etwas Besonderes zu kochen, die Wohnung umzudekorieren oder die Großfamilie einzuladen. Nur in Bayern bekränzt man die Ochsen. Aber das ist eben Bayern. „Mit den Händen ist Pfingsten tatsächlich nicht zu greifen“, nickt Karl Jung, der katholische Dekan von Mannheim. Das sei ja gerade das Wunderbare an diesem Fest. „Der Heilige Geist sprengt unsere enge, kleine Welt und weitet sie.“

Er habe schon immer eine besondere Leidenschaft für dieses geheimnisvoll schillernde Fest gehabt, bekennt Jung. Weshalb er sich bei seiner Priesterweihe in Freiburg vor 38 Jahren das Pfingstfenster in der Kapelle von Taizé als Weihesymbol erwählt hat. Man sieht eine schlanke Taube, die unerschrocken durch einen Orkan aus blutroten und violetten Wolkenwänden fliegt. Ein Bild, übervoll von Kraft, Mut und Energie „Es hat mich mein ganzes Priesterleben hindurch begleitet und gestärkt“, sagt Dekan Jung, inzwischen 63 Jahre alt. 

Statt Regentropfen fielen Flammenzungen vom Himmel.

In der Bibel beginnt der Pfingsttag eher verzweifelt. Die Jünger und die Mutter Jesu, so erzählt der Evangelist Lukas in seiner Apostelgeschichte, haben sich im obersten Stockwerk eines schmalen Hauses in Jerusalem verbarrikadiert. Um zu begreifen, was geschehen ist. Und um zu überlegen, wie es weitergehen soll. Genau zehn Tage zuvor ist Jesus spurlos verschwunden. Von jetzt auf gleich. Ohne jede Erklärung.

Dekan Karl Jung kümmert sich um die etwa 100.000 Katholiken in Mannheim.

„Er ist aufgefahren in den Himmel“, sagen die Jünger. Was auch immer das bedeuten mag. Dabei hatte man sich doch gerade daran gewöhnt, dass Jesus auf wundersame Weise von den Toten auferstanden war. Und jetzt war er schon wieder fort. 

Während die Jünger im Obergemach noch Trauer trugen, wurde es draußen auf den Straßen von Jerusalem plötzlich stockdunkel. Ein ungeheueres Gewitter entlud sich, Blitze zuckten, doch statt Regentropfen fielen seltsam fluoreszierende Flammenzungen aus den Wolken. Sanft, fast zärtlich ließen sie sich auf den Köpfe der Jünger nieder. Und alles war anders.

Ohne Pfingsten hätte es keine Kirche gegeben. Und keine Zukunft für den Glauben.

„Weihnachten und Ostern, Geburt und Auferstehung Jesu, sind die beiden Kernstücke des christlichen Glaubens“, überlegt Dekan Karl Jung. Aber ohne Pfingsten hätte es nie eine christliche Kirche gegeben. Und damit auch keine Zukunft für den Glauben. „Das ging nur mit dem Heiligen Geist.“ Er stellt das Verbindungsglied dar zwischen Himmel und Erde.

Das Täubchen mit Hostie im Chor der Heidelberger Heiliggeistkirche.

Der Geist motiviert die Menschen, neue Wege zu beschreiten. Er ermutigt sie, nicht aufzugeben, wenn sie in einer Sackgasse stecken. Er nimmt sie bei der Hand, wenn es gilt, ein Risiko einzugehen oder ein Abenteuer zu wagen. „Ich bin überzeugt davon, dass der menschliche Geist die Fähigkeit besitzt, mit Gottes Geist in Verbindung zu treten“, sagt der katholische Dekan von Mannheim. „Das geschieht immer dann, wenn jemand über sich hinauswächst und seine engen Grenzen hinter sich lässt.“

Die Apostel damals beim allerersten Pfingstfest in Jerusalem stürzten erst einmal hinaus auf die Straße. Sie fingen an zu singen, zu tanzen, zu lachen. Sie umarmten wildfremde Menschen und verstanden sich mit jedem. So viel Euphorie kommt schlecht an. Damals wie heute. Die Menschen auf den Straßen von Jerusalem hatten rasch eine Erklärung für das seltsame Verhalten der Jünger bei der Hand: „Sie sind trunken vom süßen Wein“. 

Aber woran erkennt man denn, dass der Heilige Geist am Werk war?

So ganz abwegig war diese Idee eigentlich nicht. Denn wenn jemand von einem Projekt so begeistert ist, dass er alle Konventionen und Ängste über Bord wirft, um es zu verwirklichen, dann befindet er sich tatsächlich in einer Art Rauschzustand. Nur: Woher weiß man denn, ob dieser Plan dem eigenen kleinen Hirn entsprungen ist, oder ob Gottes Geist am Werk war? 

Das Pfingstwunder in der evangelischen Kirche von Wiesenbach.

„In unsere Alltagsgedanken“, sagt Dekan Karl Jung, „mischt sich der Heilige Geist selten ein.“ Aber er ist sofort zur Stelle, wenn es um grundsätzliche Weichenstellungen im Leben geht. „Alles, was Trost, Kraft und Mut schenkt, kommt garantiert vom Heilgen Geist“, definiert Jung. Ebenso wie alles, was Gemeinschaft und Frieden stifte unter den Menschen.  Niemals und unter keinen Umständen rate Gottes Geist zu Zwietracht, Rache, Krieg, Rivalität oder Feindschaft. Der heilige Ignatius von Loyola hat die Regeln für diese “Unterscheidung der Geister“ im 16. Jahrhundert aufgeschrieben. Karl Jung empfiehlt, sich geduldig darin zu üben. „In die ehrliche Prüfung der eigenen Motive muss man erst langsam hineinwachsen. Das ist oft ein lebenslanger Prozess.“

Gottes Geist lässt sich niemals verbiegen. Er weht, wo er will.

Doch Vorsicht: Der Heilige Geist ist nicht nur brav und lieb, tröstend und mütterlich. Er kann auch sehr ungehalten werden. Wenn er merkt, dass ein Mensch stagniert, dass er auf der Stelle tritt, sich in seiner biederen Gemütlichkeit eingerichtet hat. Dann wirbelt Gottes Geist dieses behagliche, kleine Leben unter Umständen gehörig durcheinander. „Die Souveränität des Heiligen Geistes“, nennt Karl Jung diese ungemütliche Seite Gottes. Im Johannes-Evangelium steht: „Der Geist weht, wo er will.“ Für Dekan Jung ist das einer der tiefsten Sätze der gesamten Bibel. „Gottes Geist lässt sich niemals so hinbiegen, wie wir ihn gerne hätten. Er ist nicht zu fassen.“

In Taizé im Burgund scheint der Heilige Geist zum Greifen nahe zu sein.

Damals auf den Straßen von Jerusalem war es Petrus, der sofort verstand, was die fliegenden Flammen zu bedeuten hatten. „Hier geschieht, was durch den Propheten Joel gesagt worden ist: Ich werde von meinem Geist ausgießen über alles Fleisch. Eure Söhne und eure Töchter werden Propheten sein, eure jungen Männer werden Visionen und eure Alten werden Träume haben.“ Über 3000 Menschen, erzählt Lukas in seiner Apostelgeschichte, haben sich am Pfingsttag in Jerusalem taufen lassen. 

„Am eindrucksvollsten ist die gemeinsame Stille. Zu spüren, dass man mit Hunderten von Menschen zusammen ist und alle schweigen.“

Der Pfingstmoment im Leben des katholischen Dekans Karl Jung ereignete sich, als er 17 Jahre alt war. Da kam er zum ersten Mal nach Taizé. Jung besuchte damals die Oberstufe des Gymnasiums in Rastatt. Sein Religionslehrer hatten ihn mitgenommen zu einem Ferienlager ins Burgund. „Die tiefe spirituelle Atmosphäre in Taizé hat mich so begeistert, dass ich fortan in allen Ferien dorthin gefahren bin.“ Der Abiturient hat alle Gebetszeiten mitgemacht und stundenlang im Neuen Testament gelesen, zu dem er einen völlig neuen Zugang bekommen hatte. „Was mich aber am stärksten beeindruckt hat, war die gemeinsame Stille. Zu spüren, dass man mit Hunderten von Menschen zusammen ist und schweigt.“ 

Die Versöhnungskirche von Taizé im Licht des Pfingstfestes.

Nach dem Abitur beschloss Karl Jung für sechs Wochen nach Taizé zu fahren. Und jetzt fiel der junge Deutsche auch Frère Roger auf, dem legendären Abt von Taizé. Er lud Karl zu einem einfachen Abendessen mit den Brüdern ein. Man sang gemeinsam, aß gemeinsam, schwieg gemeinsam. „Das war ein so tiefes Erleben von Gemeinschaft, wie ich es mir nie hätte vorstellen können.“ Karl Jung hatte seinen Traumberuf gefunden. Er wollte unbedingt in Taizé eintreten und Mönch werden.

Doch dann nahm Frère Roger ihn eines Abends zur Seite und sagte auf Englisch: „I feel it in my heart, it’s better for you, you will be a priest. The church needs shepherds.“ Ich fühle es in meinem Herzen, es ist besser für Dich, wenn Du Priester wirst. Die Kirche braucht Hirten. Diese Worte hat Karl Jung nie wieder vergessen. An Pfingsten 1987 wurde er in Freiburg zum Priester geweiht.

Ein Gedanke zu „Die Kraft der roten Taube

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.