An Weihnachten: Einfach nur träumen

Die Erfindung der Idylle: Weihnachten bei den Luthers in Wittenberg

Im Grunde verdanken wir unser Weihnachtsfest dem Umstand, dass Martin Luther seine Meinung geändert hat. Statt ledig zu bleiben, wie geplant, heiratete er seine Käthe.

Kaum war der erste Sohn auf der Welt, beschloss der Reformator, Weihnachten künftig nicht mehr öffentlich auf der Straße zu feiern, sondern sich mit seiner Familie in die gute Stube zurückzuziehen. Am Tannenbaum funkelten Kerzen, die Kinder sangen, Luther spielte Laute. Ein absolutes Novum.

Um das Idyll perfekt zu machen, ersann der ehemalige Mönch 1531 auch noch die Geschichte vom Christkind, das an Heiligabend Geschenke bringt. Das Ideal der Weihnacht im Familienkreis war geboren.

Woher rührt die Sehnsucht nach der heilen Welt am Heiligen Abend?

Warm und gemütlich: Die Krippe in der Heidelberger Jesuitenkirche

Es hat bis heute nichts von seiner Strahlkraft verloren. 85 Prozent aller Deutschen, so ermittelte das evangelische Magazin „Chrismon“, wollen Weihnachten mit der Familie verbringen. Bei den Unter-Dreißigjährigen liegt der Prozentsatz sogar noch höher. Ein erstaunliches Ergebnis. Selbst die Generation 2.0. begibt sich auf die Suche nach Besinnlichkeit, trautem Heim und Glocken, die süßer nie klingen. Woher rührt diese Sehnsucht nach der heilen Welt am Heiligen Abend?

Sicher nicht aus der Bibel. Die Szenerie im Stall zu Bethlehem war alles andere als ein Idyll. Es zog, es stank, das Baby lag auf kratzigem Stroh. „Und die Schergen des Herodes waren schon auf der Suche nach dem Neugeborenen“, ergänzt Christian Schwarz, der evangelische Pfarrer von Wiesloch. Weshalb Maria und Josef wenige Tage später nach Ägypten fliehen mussten. Die einzigen Besucher im nächtlichen Stall waren abgerissene Hirten und vagabundierende Weise aus fernen Ländern.

Ziegelhausen-KathKirche-Krippe
Idyll im Stall: Die Krippe der katholischen Kirchen von Heidelberg-Ziegelhausen

Nein, von Romantik und heiler Welt fehlt in der biblischen Weihnachtsgeschichte jede Spur. „Für mich ist es immer wieder ein tröstlicher Gedanke, dass es nicht erst dann Weihnachten wird, wenn alles perfekt ist“, interpretiert Christian Schwarz, der Theologe. „Die Krippe steht mitten im Chaos unseres Lebens und in den Krisenherden der Welt.“

Erst seit Ende des vierten Jahrhunderts gibt es das Weihnachtsfest

Den Urchristen war Weihnachten denn auch herzlich gleichgültig. Sie feierten an Ostern die Auferstehung Christi und an Pfingsten das Geschenk des Heiligen Geistes. Fertig. Erst gegen Ende des vierten Jahrhunderts fingen Wanderprediger an, für ein drittes Hochfest zu werben.

Man könne doch, so ihre Idee, am Geburtstag Jesu Christi ein richtig fröhliches und lautes Volksfest inszenieren. Da den Evangelien trotz vieler halsbrecherischer Versuche kein konkretes Datum für die Geburt Jesu abgerungen werden konnte, schlugen die Kirchenväter schließlich den 25. Dezember vor. An diesem Tag feierten die Römer den Sieg der Sonne über die Finsternis. Wintersonnwende.

IF
Maria und das göttliche Kind: Die Evangelien nennen kein Geburtsdatum Christi

„Nach Meinung vieler Forscher scheinen sich in den Predigten Spuren zu finden, die darauf hinweisen, dass ein Zusammenhang zwischen diesem Fest und dem Weihnachtsfest besteht“, schreibt der Österreichische Weihnachtsforscher Hans Förster vorsichtig. „In diesem Sinne stünde das Weihnachtsfest zwischen heidnischer und christlicher Welt.“ Ein „getauftes“ Fest also. Zumal auch in den alten germanischen Religionen die zwölf Raunächte rund um die winterliche Sonnenwende als magische Zeit gefeiert wurden.

An Heiligabend sieht man das Licht heller als sonst

Tatsächlich spielt die lange Nacht, die schon die Hoffnung auf den Frühling in sich birgt, eine entscheidende Rolle für die Faszination, die die Weihnacht bis heute ausübt. „An Heiligabend sieht man das Licht heller als an den restlichen 364 Tagen des Jahres“, überlegt Thomas Grün, katholischer Klinikseelsorger im Heidelberger Krankenhaus St. Josef. „Deshalb darf man an Weihnachten auch einmal alle Rationalität vergessen und einfach nur träumen.“

Grün
Klinikseelsorger Thomas Grün: „Die Sehnsucht nach Harmonie ist tief in uns verwurzelt.“

Von einer idealen Welt inklusive heilem Familienleben? Grün: „Die Sehnsucht nach Harmonie und Frieden ist tief in uns verwurzelt.“ Weil dieses Bedürfnis in der Alltagshektik aber immer verdrängt wird, bricht es an Weihnachten umso stärker hervor. „Der 24. Dezember ist emotional extrem aufgeladen“, findet Thomas Grün. „An Weihnachten erhalten wir eine Ahnung, wie das Leben eigentlich sein sollte“, ergänzt Pfarrer Schwarz aus Wiesloch. „Aus dieser Ahnung erwächst die Sehnsucht.“

Die Sehnsucht nach Romantik bricht mit nie geahnter Macht hervor

Und die Einsamkeit. Richtig schlimm, sagt Kilinikseelsorger Thomas Grün, ist der Heilige Abend für Menschen im Krankenhaus. „Wir versuchen, möglichst viele Patienten nach Hause zu entlassen“, erklärt Grün. „Diejenigen, die bleiben müssen, sind wirklich sehr krank.“

Engel am Baum
Engel am Baum: Die alten Bräuche und Gewissheiten sind verschwunden

Um ihre Verlorenheit wenigsten ein bisschen zu mildern, tragen der katholische Seelsorger und seine ehrenamtlichen Helferinnen an Heiligabend das Friedenslicht aus Bethlehem von Zimmer zu Zimmer: „Wir sind unterwegs mit der Botschaft des Himmels: Niemand ist vergessen.“ Selbst gestandene Männer, berichtet Thomas Grün, bekommen in diesem Moment gläserne Augen. „Das ist das echte, authentische Weihnachtsgefühl.“ Genau das also, wovon an Heiligabend alle träumen. Oder?

„Computer und Internet haben das Grundtempo unseres Lebens so sehr beschleunigt, dass die alten Bräuche und Gewissheiten komplett aus unserer Gesellschaft verschwunden sind“, diagnostiziert Thomas Grün. Einige Jahre lang hat das niemand gestört, doch dann brach sich die Sehnsucht nach Romantik mit nie geahnter Macht hervor.

„Die komplexe, computerisierte Welt fordert unerbittlich in jeder Sekunde neue, schnelle Entschlüsse“

Lieben und loslassen: Jesus, Maria, Josef im Stall
Das Gegenkonzept zur komplexen Wirtschaftswelt: Jesus, Maria, Josef im Stall

Idylle-Magazine wie die „Landlust“ fanden Monat für Monat mehr Leser. Mittlerweile sind es Millionen. Großstädter möblieren ihre Lofts mit alten Bauerntischen, auf denen sie Zweige und Blätter naturbelassen arrangieren. Die Freilichtmuseen vermelden Rekordbesuch. In jedem Schrank hängt inzwischen ein Dirndl oder eine Lederhose. Kurse im Stricken und Plätzchenbacken waren in diesem Winter an den Universitäten der absolute Renner.

Natürlich sind das alles nur Träume. Kleine romantische Fluchten in einer unübersichtlichen, auf Effizienz und Nüchternheit getrimmten Welt. „Noch nie sind dem Menschen so viele Entscheidungen abverlangt worden wie heute“, schreibt der Spiegel. Die Lebensentwürfe sind völlig frei. Jeder ist für seine Wahl selbst verantwortlich. In welchem Beruf will ich arbeiten? Welcher Religion gehöre ich an? Bleibe ich Single? Bekomme ich Kinder? Wo lebe ich? Gönne ich mir eine neue Nase? „Der technische Fortschritt, die komplexe, computerisierte Wirtschaftswelt fordern unerbittlich, an jedem Tag und in jeder Sekunde von neuem schnelle Entschlüsse.“ (Spiegel) Kein Wunder, dass die Menschen an Weihnachten einfach nur träumen wollen.

Besser als in der Kirche kann man Weihnachtsgefühl nirgendwo holen

„Hallo ihr Lieben“, postete kürzlich eine junge Mutter auf gutefrage.net. „Ich suche eine Alternative zur Kirche am Heiligabend. Hat jemand eine Idee, was man noch Besinnliches machen kann vor der Bescherung?“ Zwölf Antworten kamen. Sie sagten alle dasselbe: Geh ruhig in die Kirche. Dort gibt es Weihnachtslieder und Weihnachtsgeschichten, Krippenspiel und Kerzen. Besser kann man sich das richtige Weihnachtsgefühl nirgendwo holen.

Engel Mosbach
„Vom Himmel hoch da komm ich her“: Barockengel in St. Juliana in Mosbach:

Pfarrer Christian Schwarz, der evangelische Pfarrer von Wiesloch, stört sich an dieser Einstellung nicht. Im Gegenteil. Er sieht in dem Besucherzustrom an Weihnachten eine Chance, zum Kern des Festes vorzustoßen. „Das Kind in der Krippe ist ungeheuer stark“, sagt Schwarz. „Das wirkt von selbst.“ Die Herausforderung an Weihnachten für sich als Pfarrer sieht er so: „Ich versuche die Gottesdienste so zu gestalten, dass ich an die Sehnsucht der Menschen anknüpfe. Dann können wir gemeinsam an die Krippe gehen.“

Myriaden von Lichtern blitzen in fünf Meter hohen Tannen

An Weihnachten 1534, Sohn Hans war inzwischen acht Jahre alt und das sechste Kind gerade geboren, beschloss Martin Luther, nun auch das Krippenspiel in die eigene Wohnstube zu überführen. Der Reformator komponierter für diesen Anlass sogar ein neues Lied. Es erzählt die Weihnachtsgeschichte aus der Sicht eines Engels und ist bis heute ein Hit: „Vom Himmel hoch, da komm ich her.“ Getoppt wurde das Luther-Lied erst zweihundert Jahre später von der Komposition eines armen österreichischen Dorfpfarrers. Er nannte sein Gitarrenstück „Stille Nacht“.

Putten in der Heidelberger Jesuitenkirche: „Geht an Heiligabend ruhig in die Kirche“

Die katholische Jesuitenkirche in Heidelberg am Heiligen Abend. Eigentlich gibt es hier nur achthundert Plätze, doch zur Christmette kommen alljährlich fast tausend Menschen. Die hohe weiße Halle liegt in dämmrigem Halbdunkel, Myriaden von Lichtern blitzen in fünf Meter hohen dunkelgrünen Tannen. Warm leuchten die Kerzen auf den Seitenaltären; im weißen Marmor des Hauptaltars spiegeln sich zahllose kleine Teelichter. Die Luft ist erfüllt von Akazienweihrauch. Ein Moment der Stille. Dann intoniert die Orgel das Lied, auf das alle gewartet haben. Tausend Stimmen singen es hinaus in die Nacht: „Christ, der Retter ist da.“

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