Erst steht man nur und staunt. Nein, das ist kein Möbelstück. Das ist ein Buch! Aber was für eines. 616 Seiten im Supergroßformat, 1500 Bilder und 3,8 Kilo schwer. Ein echter Wälzer. Vorsichtig fängt man an zu blättern. Und blättert. Und blättert.
Da: Hilsbach. Das ist in Wiesloch. Hier, schau: Rockenau. Wenn man sich schließlich hinsetzt, um zu lesen, ist man schon rettungslos verliebt in das monumentale Werk mit dem nüchternen Titel „Sakrale Kunst im Rhein-Neckar-Kreis“. Jörg Kreutz und Berno Müller vom Kreisarchiv haben es herausgegeben. In Ladenburg wurde das Jahrhundertwerk jetzt feierlich vorgestellt.
Anregungen für Ausflüge und kunsthistorische Appetithäppchen
Die Idee klingt eigentlich recht simpel und naheliegend. Es wäre doch schön, wenn es ein Buch gäbe, in dem alle Kirchen des Rhein-Neckar-Kreises beschrieben sind. Als Anregung für Wochenendausflüge, als Führer durch die Stilepochen, als kunsthistorisches Appetithäppchen. Kaum so weit gedacht, machten sich Jörg Kreutz, der Leiter des Kreisarchivs, und Berno Müller, der Referent für historische und politische Bildung, ans sammlerische Werk. Das war vor vielen, vielen Jahren.
Denn die Probleme dieser scheinbar so einfachen Idee offenbarten sich erst mit der Zeit. 54 Städte und Gemeinden bilden den Rhein-Neckar-Kreis. Er reicht von Laudenbach im Norden bis Angelbachtal im Süden, von Eberbach im Osten bis Altlußheim im Westen. Ein Riesengebiet. In fast jedem Ort stehen zwei Kirchen. Hinzu kommen die Kapellen in den Krankenhäuser und Pflegeheimen. Mehr als 210 Sakralräume umfasste schließlich die Liste der beiden Buchmacher. Das war schon mal eine stattliche Zahl.
Landrat Dallinger: „Der bisher umfassendste Kunstkatalog des Kreises“
Nun ist aber jede dieser vielen Kirchen voll von wunderbaren Schätzen, erschaffen zum Lobe Gottes. Und sie besitzen prächtige Prinzipalien, Kreuze, Bilder, Orgeln, Fenster und Glocken. All diese Kunstwerke durften in dem finalen Kirchenführer natürlich nicht fehlen. Womit sich die Zahl der Abbildungen und Texte plötzlich verzehnfacht hatte. Aus der einfachen Idee war ein Lebenswerk geworden. Aus dem schlichten Führer ein Mammutprojekt. „Dieses Buch ist der bisher umfassendste Kunstkatalog des Kreises“, sagte Landrat Stefan Dallinger bei der Buchvorstellung. „Es richtet sich nicht nur an Gläubige und Kunstkenner, sondern an alle Menschen, die spüren, dass sakrale Kunstwerke faszinierend sind.“
Zuallererst aber geben die Kirchen unseren Dörfern und Städten eine Struktur und ein Gesicht. „Man braucht kein Navigationsgerät, um zur historischen Mitte eines Ortes zu gelangen, wohl aber, um sich im gleichförmigen Chaos moderner Siedlungen zurecht zu finden“, formuliert der Kunsthistoriker Hans Gercke. Der langjähriger Leiter des Heidelberger Kunstvereins hat sich im Ruhestand auf sakrale Kunst spezialisiert. Inzwischen zählt Gercke zu den profiliertesten Kirchenkennern der Republik.
Beim Jahrhundertprojekt „Sakrale Kunst im Rhein-Neckar-Kreis“ übernahm er die kunsthistorische Federführung. Mit sicherer Hand und leicht lesbar führt Hans Gercke durch die Architekturgeschichte. Er skizziert die Unterschiede zwischen katholischem und protestantischem Kirchenbau und charakterisiert ebenso kompakt wie anregend jede der mehr als 210 Kirchen. „Eine Kirche ist kein normales Gebäude, sondern ein durchbeteter Raum“, betonte Ulrich Fischer, der evangelische Landesbischof im Ruhestand. „Er erzählt von den Gläubigen vor uns und von der Geschichte Gottes mit ihnen.“
Langsam, von Ort zu Ort, von Kirche zu Kirche erkundet man die heimatliche Umgebung
Kunstvoll durchkomponiert sind die verschiedenen Suchebenen, die in der „Sakralen Kunst“ angelegt sind. Da gibt es ganz hinten ein umfangreiche Stichwortverzeichnis sowie ein Register aller Kirchen, alphabetisch geordnet nach den Orten, in denen sie stehen. Praktisch zum schnellen Nachschlagen. Im Hauptteil des Buches sind die Kirchen jedoch nicht nach dem Alphabet geordnet.
Hans Gercke lädt stattdessen ein zu einer langen Wanderung durch die Gotteshäuser der sechs Regionen des Rhein-Neckar-Kreises. Man spaziert von der Nördlichen Bergstraße bis hinunter in den Kraichgau. Langsam, von Ort zu Ort, von Kirche zu Kirche. Gerckes Schilderung macht große Lust, die heimatliche Umgebung zu erkunden. Allerdings sollte die Planung am Wohnzimmertisch erfolgen. Denn als Wanderführer zum Mittragen eignen sich die 3,8 Kilogramm Kirche wirklich nicht.
Wohl aber als schier unerschöpflicher Lieferant für neue Ideen. Im zweiten Teil des Buches unternehmen verschiedene Autoren Kirchenspaziergänge der ganz besonderen Art. Da ist zum Beispiel ein Vergleich der unterschiedlichen Lutherbilder in den evangelischen Kirchen des Kreises. An der Kanzel von St. Salvator in Neckarbischofsheim beispielsweise trägt die Figur des Evangelisten Lukas die Züge von Luther. Im Fenster der evangelischen Kirche von Laudenbach verhandelt Luther mit dem Kaiser. In Hoffenheim steht der Reformator im Glanz der aufgehenden Sonne mit Wartburg im Hintergrund.
Robert Zollitsch: „Kirchen prägen die Silhouetten unserer Städte und Dörfer“
Es gibt einen Kirchentüren-Spaziergang, einen Spaziergang zu den katholischen Kreuzwegen, den Heiligenbildern, den Tabernakeln, den Kruzifixen, ja sogar zu den Paradiesschlangen und natürlich den Kirchenfenstern. Die Tipps des riesigen Buches reichen locker für die Wochenenden der nächsten zehn Jahre.
Wer besonders ehrgeizig ist, kann in der „Sakralen Kunst“ auch Rekorde jagen. Der älteste Kirchenraum des Rhein-Neckar-Kreises ist die Krypta der St. Gallus-Kirche in Ladenburg. Den höchsten Kirchturm besitzt Mariä Himmelfahrt in Waibstadt. Das ältestes Eingangsportal findet man in St. Ilgen. „Kirchen prägen die Silhouette unserer Städte und Dörfer“, sagte Alt-Erzbischof Robert Zollitsch bei der Buchpräsentation. „Wenn man unsere Kirchen wegnähme, lebten wir in einer banalen Welt.“
Den höchsten Kirchturm besitzt Waibstadt, die älteste Kirchentüre St. Ilgen
Trotzdem sind die Kirchen nicht Gottes sondern der Menschen Werk. Und deshalb dem Zeitgeschmack unterworfen. „Kirchen sind immer auch Zeichen der Veränderung“, betonte Ronny Baier, zur Zeit der katholische Pfarrer von Ladenburg. „Jede Generation hat ihre Spur hinterlassen.“ Und wird das weiterhin tun.
Sowohl in der evangelischen Landeskirche wie auch im Erzbistum Freiburg steht die Reduktion von Gebäuden auf der Agenda. Wodurch völlig neue Kirchenräume erfunden werden. Flexibel nutzbar, energetisch ertüchtigt. Wie toll eine Kombination von uralt und supermodern wirken kann, zeigt die gläserne Winterkirche im Kloster Lobenfeld, dem ein ganzes Kapitel gewidmet ist.
Absolut en Vogue sind derzeit übrigens die historistischen Kirchen des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Fein säuberlich werden all die Arabesken und Girlanden wieder freigelegt, die man erst vor ein paar Jahren weiß überstrichen hat. In der evangelischen Kirche von Ladenburg ist die Renovierung gerade vollendet. Er fühle sich wie im „Blumengarten Gottes“, strahlte Pfarrer David Reichert.