Um den Gottesdienst kommt niemand herum. Er ist für alle Schüler Pflicht, selbst wenn sie nicht getauft sind, jüdisch oder muslimisch glauben. Dazu noch zwei Wochenstunden evangelischer oder katholischer Religionsunterricht, auch nicht verhandelbar. Abmelden geht nicht, Ethik gibt’s nicht.
So streng sind die Regeln an kirchlichen Privatschulen. Trotzdem sind diese Schulen gefragt wie nie zuvor. Für das Schuljahr 2017/18 erhielten alle konfessionellen Gymnasien doppelt so viele Anmeldungen auf den Tisch, wie sie Plätze vergeben konnten. Woher rührt der Run auf christliche Gymnasien? Ein Schulbesuch.
Als sei Gottesdienst für Jugendliche die selbstverständlichste Sache der Welt
Wieblingen ist trotz Autobahn und Gewerbegebiet ein ländlicher Stadtteil Heidelbergs geblieben. Die Gassen, in denen ehemals Fischer und Handwerker wohnten, sind schmal. Der Alt-Neckar plätschert unter Nussbäumen. Mitten im alten Dorfkern hinter einer Sandsteinmauer liegt das evangelische Elisabeth-von-Thadden-Gymnasium. In spektakulärem Ambiente.
Wir sehen ein modernes Schulgebäude eingebettet in einen uralten Park. Der Wind rauscht in den Bäumen, auf dem weitläufigen Rasen glitzern taufeucht Kastanien. Ein mittelalterliches Kirchlein macht das Idyll perfekt.
Drei Mal in der Woche feiert das „Thadden“ hier seine Morgenandacht. 40 Minuten Gebet, Gesang, Lesungen. Die Schulpfarrerin leitet die Liturgie, der Musiklehrer sitzt am Keyboard, die Schüler wirken gesammelt. Keiner zappelt, niemand kichert, als sei Gottesdienstfeiern für Jugendliche die selbstverständlichste Sache der Welt.
Kirchlichen Schulen trauen die Eltern zu, dass sie die Kinder behüten
Bettina Brunnenkant, eine schlanke, elegante Mutter in Jeans, lächelt. Eben deshalb habe sie ihre vier Kinder aufs „Thadden“ geschickt. „Sie sind zwar alle evangelisch getauft, aber eine enge Beziehung zur Kirche hatten wir nie“, gesteht Bettina Brunnenkant. „Diese Schule gibt ihnen das Wissen um den christlichen Glauben mit auf den Lebensweg, in einer Art wie wir das nicht gekonnt hätten.“ Ehrlicher kann man nicht antworten.
Je pluraler und unübersichtlicher unsere Gesellschaft wird, desto stärker wächst in den Eltern offensichtlich der Wunsch, ihren Kindern den christlichen Glauben als Lebensverankerung anzubieten. Selbst wenn die Eltern für sich dort keine Heimat gefunden haben.
„Eltern wollen ihre Kinder behütet wissen, beschützt und geführt“, sagt Heinz-Martin Döpp, der Schulleiter des Thadden-Gymnasiums. „Kirchlichen Schulen traut man das zu.“ Konfessionelle Kindergärten und Krankenhäuser haben aus ähnlichen Gründen großen Zulauf. „An sensiblen Punkten des Lebens braucht der Mensch Halt und Geborgenheit“, wird später Ulrich Amann, der Direktor der katholischen St. Raphael Schulen, formulieren.
Eine Mischung aus „mutigen, lebendigen und neugierigen“ Schülern
880 Schüler besuchen das evangelische Thadden-Gymnasium. 50 Prozent sind evangelisch, 25 Prozent katholisch, das letzte Viertel ist konfessionslos oder gehört einer anderen Religion an. Wie in allen Privatgymnasien wird die Schülerschaft handverlesen. Direktor Döpp und sein Kollegium nehmen sich viel Zeit für die Auswahlgespräche mit den Kindern.
Der Glauben spiele dabei keine Rolle, betont Döpp. Es gehe ausschließlich um die Persönlichkeit des Kindes. „Wir suchen eine Mischung aus mutigen, lebendingen, neugierigen Schülern.“ Pause. Nachsatz: „Mich rühren aber auch Kinder an, die eine Chance brauchen.“
Emily Passek ist 16, hübsch, höflich und kein bisschen schüchtern. Emily ist konfessionslos. Ihre Eltern sind aus Mecklenburg-Vorpommern nach Heidelberg übersiedelt, Religion hat in der Familie nie eine Rolle gespielt. Emilys einziger Zugang zum christlichen Glauben ist das Thadden-Gymnasium. „Ich bin sehr kirchenfern aufgewachsen“, nickt die Elftklässlerin. „Erst durch das, was ich hier erfahre, habe ich das Gefühl, mich wirklich frei entscheiden zu können.“
Geborgenheit und Zusammengehörigkeit haben oberste Priorität
Bettina Brunnenkant, die vierfache Mutter, schätzt „die Ernsthaftigkeit“, mit der das Fach Religion am Thadden gelehrt wird. Und Heinz-Martin Döpp, selbst Theologe, ist dankbar für den langen Atem in seiner Schule. „Die Schüler können dem Thema Religion hier nicht ausweichen, sondern müssen sich damit auseinandersetzen durch alle inneren Krisen und Abwehrzeiten hindurch.“
Das katholische St. Raphael Gymnasium liegt jenseits des Neckars in Neuenheim, dem nobelsten Stadtteil Heidelbergs. Einen Schlosspark gibt es hier nicht. Stattdessen formieren sich die Gebäude des katholischen Gymnasiums und der Mädchenrealschule zu einem geschützten Campus. Geborgenheit und Zusammengehörigkeit, das sieht man auf den ersten Blick, haben auch hier oberste Priorität.
„Wenn man durch unser Tor geht, ist sofort ein Gemeinschaftsgefühl da“, freut sich Abiturient Tobias Gund. Schulleiter Ulrich Amann verweist gern auf den Erzengel Raphael. Raphael hat, so erzählt das Alte Testament, den jungen Tobit an die Hand genommen und auf seiner Lebensreise beschützt. „Das Leitmotiv unserer Schulen“, sagt Amann.
Alle Schüler unterschreiben einen Schulvertrag
840 Gymnasiasten und 230 Realschülerinnen besuchen die St. Raphael Schulen, die 1930 von Franziskanerinnen gegründet wurden. Heute beherbergt das ehemalige Schwesternhaus jetzt Lehrerzimmer, Direktorat und Sekretariat.
Auch das Raphael-Gymnasium kann sich seine Schüler aus einer Flut von Bewerbungen aussuchen. „Lernwillig und lernfähig“ sollen sie sein, erklärt Ulrich Amann. Und vernünftig genug, um sich in eine „christliche Wertegemeinschaft“ einzufügen. Die Einzelheiten regelt ein Schulvertrag, den alle Schüler unterschreiben. „Disziplinprobleme gibt es bei uns wenige“, erklärt der Direktor zufrieden. „Vandalismus gar keinen.“
Ana Lena Svegar macht demnächst am Raphael-Gymnasium ihr Abitur. „In unserer Schule herrscht ein starkes Gemeinschaftsgefühl“, findet Ana Lena. „Die Lehrer verstehen sich als Begleiter der Schüler. Sie geben Orientierung, nehmen die Zweifel ernst und bestärken uns im Glauben.“
Badische Landeskirche: „Weitere Schulgründungen sind geplant“
80 Prozent der Kosten, die in staatlich anerkannten Privatschulen anfallen, trägt das Land Baden-Württemberg. Für die katholischen Schulen begleicht die Schulstiftung der Erzdiözese Freiburg den Großteil der fehlenden 20 Prozent. „Darüber hinaus zahlt uns die Schulstiftung noch viele Lehrerstunden nur für Arbeitsgemeinschaften“, freut sich Ulrich Amann. Der Elternbeitrag beläuft sich am Raphael-Gymnasium auf 40 Euro im Monat für das erste Kind einer Familie. Bei jedem weiteren Kind wird es günstiger.
Alle kirchlichen Schulen verfügen über Stipendienfonds für Familien, die sich das Schulgeld nicht leisten können. In Baden gibt es 27 katholische Privatschulen, an denen rund 12 500 Schüler unterrichtet werden.
Die Schulstiftung der Badischen Landeskirche kann nicht ganz so spendabel Geld zuschießen. Sie wurde erst 2002 gegründet. 109 Euro pro Monat kostet das Schulgeld im Thadden-Gymnasium. Momentan gibt es in Baden nur drei evangelische Privatgymnasien: In Heidelberg, in Mannheim und am Bodensee. Dafür jüngst in Heidelberg und Karlsruhe zwei evangelische Grundschulen neu gegründet. „Weitere Schulgründungen sind geplant“, betont die Landeskirche. Offensichtlich sehen wir erst die Spitze eines Trends, der die deutsche Schullandschaft in den kommenden Jahren gewaltig durcheinander wirbeln wird.
„Gegen Elite haben wir nichts. Nur gegen Dünkel.“
Petra Scheltwort ist eine engagierte Pädagogin und Elternbeiratsvorsitzende am Heidelberger Raphael-Gymnasium. Sie hat diese Schule für ihre beiden Söhne gewählt, weil „mich die Atmosphäre der Schule sehr angesprochen“ hat. „Das christliche Wertesystem ist Grundkonsens, und man spürt hier keinerlei Schulmüdigkeit“, findet Petra Scheltwort. „Es ist nie uncool zu lernen.“
Glauben generiert Leistung? Warum nicht, fragt Tobias Gund, der Abiturient. „Ich finde es gut, dass auf unserer Schule etwas gelernt und geleistet wird.“ Sein Direktor lächelt: „Gegen Elite habe wir nichts. Nur gegen Dünkel.“
Fragt man Emily Passek, 16 Jahre, konfessionslos, Schülerin am evangelischen Thadden-Gymnasium, ob sie an Gott glaubt, dann schweigt sie lange. „Ob ich an Gott glaube, weiß ich nicht“, sagt Emily schließlich. „Aber ich bin sehr froh, dass ich die Chance erhalte, mir diese Frage überhaupt zu stellen.“