Jeder Berg ruft. Ganz egal wie hoch er ist. Und sollte er einmal nicht rufen, dann säuselt er oder braust, knistert oder dröhnt, glüht, grollt, hallt oder rumpelt. Manchmal hüllt sich der Berg auch einfach geheimnisvoll in Wolken – und schon es um den Menschen geschehen.
Dort will er hin! Ganz nach oben zum Gipfel. Über sich selbst und seine Angst hinauswachsen; dem Himmel ganz nah sein. So wie Noah, dessen Arche einst auf dem Ararat gestrandet ist. 5137 Meter über dem Meeresspiegel. Oder Mose, der wegen der zehn Gebote zum Sinai hinaufstieg. 2285 Meter. Diese Höhe erreichen die Gipfel im Odenwald, am Neckar und im Kraichgau zwar nicht, aber heilige Orte hoch oben findet man auch hier. Ein Ausflug zu den schönsten Bergkirchen der Region.
Auf den archaischen Steinstufen sind schon keltische Druiden gegangen. Vor 3000 Jahren.
Die 120 hohen Stufen sind schon eine Herausforderung. Zumal es oben einen Parkplatz gäbe. Aber es ist doch viel stilvoller, sich der Heinsheimer Bergkirche auf dem archaischen Steinweg zu nähern. Wer weiß, vielleicht sind auf ihm ja schon die keltischen Druiden gegangen, die hier oben ihren Göttern gehuldigt haben. Vor 3000 Jahren.
Die massiven Quader sind ungleichmäßig, weil handbehauen. Man muss aufpassen, wohin man den Fuß setzt. Mit jedem Schritt bleiben der Neckar, das Dorf Heinsheim und sein Barockschloss zurück. Und man taucht ein in die archaische Aura des Kirchbergs. Er ist die älteste Kultstätte im Neckartal.
Um das Jahr 800 haben Missionare aus dem Frankenreich die heiligen Haine der Druiden gefällt und die Menschen auf den Namen des dreifaltigen Gottes getauft. Eine Quelle entspringt direkt unter der Kirche. Heinsheim ist damit eine der ältesten christlichen Gemeinden Süddeutschlands. Die Franken errichteten auch ein Kapellchen, geweiht dem heiligen Hilarius. Er war Bischof von Poitiers und ist berühmt geworden, weil er Sankt Martin getauft hat. Anno 351.
Der Bergquell von Heinsheim sprudelt inzwischen ordentlich gefasst. Daneben steht jetzt ein bildhübsches, frühgotisches Chorturmkirchlein. 1288 erstmals bezeugt. Es besitzt schöne Fresken, einen eleganten Triumphbogen und schmale schlitzförmige Fenster. Das Schiff ist hundert Jahre jünger als der Chor und geschmückt mit prachtvollen Epitaphien. Sie künden vom Reichtum der Freiherrn von Ehrenberg die einst den Neckar kontrollierten. Vor fünfzig Jahren hat man durch Zufall ihre Särge entdeckt. Sie stehen etwa einen Meter unter dem Altar in einer Rittergruft.
Auf dem Berg fühlt man sich dem Himmel näher. Nicht nur räumlich sondern auch spirituell.
Berge sind allen Religionen heilig. Weil sie Orte der potentiellen Gottesbegegnung sind. Auf dem Gipfel eines Berges fühlt man sich dem Himmel ein deutliches Stück näher. Nicht nur räumlich, sondern auch spirituell. Die Unzugänglichkeit der mächtigen Gesteinsmassen – drohend, gefährlich, abweisend – legen den Gedanken nahe, dass es doch etwas geben muss, das unsere zerbrechliche menschliche Existenz übersteigt. Die Antike ging sogar davon aus, dass in den Gipfeln der Berge die gesamte Energien der Erde gespeichert ist.
Moses hätte diese Theorie sofort geglaubt. Denn als er seinerzeit am Gipfel des Sinai anlangte, fand er den Berg in rabenschwarze Gewitterwolken gehüllt. Blitze zuckten im Minutentakt, oft schlugen sie schrecklich nah neben dem Häuflein Mensch ein. Die Gottesbegegnung des Mose war der Alptraum jedes Bergsteigers.
Seit dem achten Jahrhundert wacht der Erzengel Michael über den Heiligenberg.
Die Mönche des Mittelalters haben diese Erfahrung des Ausgeliefertseins bewusst gesucht. Indem sie ihre Klöster hoch oben auf Bergen bauten. Der Aberinsberg beispielsweise, der seit Menschengedenken über den Austritt des Neckars in die Rheinebene wacht, war schon vor allen Zeiten ein Ort des Gebets. Nicht umsonst nennen ihn die Heidelberger heute „Heiligenberg“. Die Kelten verehrten hier oben in 330 Metern Höhe ihren Gott Visucius, die Römer den Merkur und die Germanen den Odin, den Namenspatron des Odenwaldes. Die drei Götter könnten Brüder gewesen sein, so ähnlich sind sie einander.

Seit dem achten Jahrhundert beschützt Sankt Michael den Heiligenberg. Der Erzengel versteht sich darauf, die Menschen vor fliegenden Unheilbringern zu beschützen. Drachen beispielsweise. Oder Luzifer. Das gewaltige Benediktinerkloster, das unter Michaels Schutz stand, war ein Ableger der Reichsabtei Lorsch. Und es gedieh so prächtig, dass man daneben gleich noch ein zweites Klösterchen errichtete: St. Stephanus.
Es gibt Berichte von unzähligen langen Prozessionen, in denen die Gläubigen von der Altstadt hinauf zum Heiligenberg pilgerten. Die Wallfahrtstage scheinen Volksfesten gewesen zu sein. 1589 war die Zeit der Mönche vorbei. Die Universität erhielt die Erlaubnis, die Steine des Klosters unten in der Stadt zu verbauen. Was sie auch getan hat. Leider.
Die vielleicht ergreifendste Szene der Bibel spielt auf dem Berg Tabor. 588 Meter hoch.
Über 440 Mal steht das Wort „Berg“ in der Bibel. Das ist oft. Kein Wunder also, dass auch die vielleicht ergreifendste Begebenheit, die in der Bibel geschildert wird, auf einem Berg spielt: Kurz vor seiner Verhaftung stieg Jesus hinauf zum Tabor im Norden Israels, 588 Meter hoch. Und nur hier oben in der völligen Abgeschiedenheit gestand er sich ein, wieviel Angst er vor der Folter und dem Tod hatte.
Sofort, so berichtet Matthäus, begann die Luft zu vibrieren. Jesu Gesicht „leuchtete wie die Sonne und seine Kleider wurden weiß wie das Licht. Und siehe, es erschienen Mose und Elija und redeten mit Jesus.“ Von solch einem Tabor-Erlebnis träumen wahrscheinlich alle, die einen Berg besteigen. Insgeheim.
Das uralte Kirchlein auf dem Michaelsberg kündet vom tragischen Ende einer großen Liebe .
Der Michaelsberg über Gundelsheim am Neckar misst zwar nur 240 Meter. Doch die fehlende Höhe kompensiert er lässig durch seine enorm steilen Hänge, die nach drei Seiten zu einer Neckarschleife abfallen. Schon seit Urzeiten haben hier oben Menschen gesiedelt. 771 hörte man erstmals von einer „Basilica“ aus Stein. Ein Einsiedler hat das Gotteshäuschen erbaut und nach seinem Tod dem Kloster Lorsch vermacht. So die offizielle Version.
Die inoffizielle, viel romantischere Variante erzählt von einer unglücklichen Liebe zwischen einem christlichen Mädchen und einem heidnischen Jüngling. Als es ihr partout nicht gelingen wollte, ihren Liebsten zu bekehren, floh sie in die Wildnis auf dem Michaelsberg, wo sie tragisch zu Tode kam. Man munkelt etwas von wilden Tieren. Der junge Mann fand den Leichnam seiner Liebsten und begrub ihn auf dem Bergplateau. Dann ließ er sich taufen und errichtete die Kapelle über dem Grab der Schönen, wo er den Rest seines Lebens verbrachte.
Der romanische Nachfolgebau dieser ersten Kapelle steht noch heute oben auf dem Berg. Er wirkt sehr archaisch mit seinem merkwürdig schiefen dreieckigen Turm aus grobem Sandstein, der sich wie eine Pyramide nach unten verbreitert. Kirchenschiff und Chor sind gotisch. Also fast dreihundert Jahre jünger.
Berge bringen Menschen in existenzielle Grenzsituationen. Das kann auch schief gehen.
Wer sich auf Berge einlässt, läuft grundsätzlich Gefahr, in existenzielle Grenzsituationen zu geraten. Das ist vielleicht der Nervenkitzel, der die Menschen heute in Scharen zu Himalaya-Expeditionen treibt. Obwohl jeder weiß, dass dort oben die Luft so dünn ist, dass Lungenödeme und Höhenkrankheit auftreten können. Von Lawinen und Schneestürmen ganz zu schweigen.
Viktor Frankl, der berühmte österreichische Psychiater, hielt diese extreme Bergsteigerei für ein Zeichen der Unterforderung im Alltag. Weil in unserer „auf totale Bedürfnisbefriedigung abgestellten Konsumgesellschaft“ niemand mehr ernsthaft ums Überleben kämpfen muss. Frankl ist 1997 gestorben. Von Amazon, ChatGPT und Künstlicher Intelligenz ahnten er noch nichts.
Plötzlich steht ein barockes Kleinod mittendrin im protestantischen Urland. Warum?
Der Kraichgau ist so ziemlich das genaue Gegenteil von einem Gebirge. Sanft folgt Hügel auf Hügel. Man gleitet dahin wie ein Schiff auf den Wellen des Meeres. Die Felder strotzen vor Kraft dank des fruchtbaren Lössbodens. Eine meditativere Landschaft ist kaum denkbar.
Bis die Straße plötzlich steil ansteigt und sich in Serpentinen zum Steinsberg hinauf windet. 333 Meter über dem Meeresspiegel. Der Berg wird bekrönt von einer Burg mit spektakulärem achteckigen Bergfried. Sie ist die höchste Erhebung, so weit das Auge reicht.
Ein paar Schritte unterhalb der Burg Steinsberg steht malerisch hingebettet das zauberhafte St. Anna-Kirchlein. Ein katholisches Wallfahrtsziel wie aus dem Bilderbuch. Verspieltes Rokoko, vergoldete Putten, verträumten Heilige. Im katholischen Bayern stehen solche Kapelle an jeder Ecke. Der Kraichgau jedoch ist protestantisches Urland. Die hiesigen Ritter gehörten zu den ersten, die das lutherische Bekenntnis angenommen haben. Und dabei ist es geblieben. Woher also diese barocke Wallfahrtskapelle?
Hier oben auf dem Steinsberg liegt einem die ganze Welt zu Füßen.
Die Antwort liegt in der Exzentrik des Johann Augustin von Venningen. 1622 beschloss der Freiherr – ob durch eine Gotteserfahrung oder eine Laune, weiß niemand – mit seiner Familie zum katholischen Glauben zurückzukehren. Da es im Kraichgau keine einzige katholischen Kirchen mehr gab, feierte man die Gottesdienste im freiherrlichen Wohnzimmer.
Bis es einem Nachfahren zu eng wurde. Kurzerhand ließ er verfallene St. Annakapelle oben auf dem Steinsberg wieder aufbauen. Im modernen Stil des Barock. Die Aktion war ein Riesenerfolg. In Scharen pilgern die Menschen seither zur Kapelle hinauf, wo einem der gesamte Kraichgau zu Füßen liegt.
Ein Berg ist immer auch eine Chiffre für Erlebnisse, die den Alltag weit übersteigen.
Die Berge sind nicht nur älter als die Menschen. Sie sind auch robuster und weiser. Womöglich reichen sie tatsächlich bis hinein in die Sphäre des Göttlichen. Ein Berg nämlich ist immer auch eine Chiffre für Erlebnisse, die unser alltägliches Dasein weit übersteigen. Im positiven wie im negativen. Auf dem Brocken im Harz tanzen die Hexen, Prometheus wurde an den Kaukasus geschmiedet, weil er den Menschen das Feuer gebracht hat. Sisyphos wälzt womöglich noch heute seinen Stein immer wieder bergauf.
Frühere Generationen haben die Berge für den Wohnsitze der Götter gehalten. Nicht wenige tun das auch heute noch. Der berühmteste Text im Matthäus-Evangelium ist die „Bergpredigt“. Lukas hat diese Rede auch aufgeschrieben, aber er wählte als Schauplatz eine Wiede im Flachland. ließ sie Jesus im Flachland sprechen. Mit dem Ergebnis, dass kein Mensch sich je für die „Feldpredigt“ Jesu interessiert hat. So mächtig sind Berge.
Wenn man oben ist, sieht man die Probleme des Alltags anders. Kleiner, bedeutungsloser, geschrumpft. Ein Berg markiert immer eine Schwelle. Etwas Neues beginnt.
Die Waldkapelle erhält ihre spirituelle Atmosphäre allein durch das Licht.
Eine Lichtung im Odenwald. 310 Meter über Neckarzimmern. Kein Blick, nirgends. Nur der Himmel ist weit und offen. Ein verborgener Ort, ein mystischer Ort. Genau der richtige Platz, um ein schlichtes Kirchlein zu bauen.
So wie es die ersten Franken-Missionare gemacht haben: Aus geschälten Stämmen, die rasch nachdunkeln. Seit 2011 steht die Waldkapelle nun schon auf der Lichtung neben der Evangelische Jugendbildungsstätte. Radikal reduziert. Ohne Altar, ohne Schmuck, ja sogar ohne festes Mobiliar. Es gibt lediglich Hocker, die man je nach Bedürfnis zusammenbauen kann. Dann werden sie zum Altar, zum Ambo, zum Regal.
Ihre spirituelle Atmosphäre erhält die Waldkapelle allein durch das Licht. Es ändert sich von Minute zu Minute. Es tanzt über das Holz und die Wände. Es malt Bilder und wirft Schatten.
Die Waldkapelle wird flankiert von 138 Skulpturen aus Stein. Sie formen einen Davidstern. Als Mahnmal für die 5600 Menschen, die von der NS-Diktatur am 22. Oktober 1940 ins Massenlager bei Gurs in den französischen Pyrenäen transportiert wurden. Jugendliche haben die Stelen für die Ermordeten gestaltet. Sie sind sehr unterschiedlich, aber alle ergreifend. Eine Explosion von Sensibilität und Phantasie. Ganz oben auf einer Lichtung im Odenwald, 310 Meter über Neckarzimmern. Wo der Himmel offen ist. Und unendlich weit.