Der Stararchitekt aus dem Odenwald

Mit der Matthäus-Kirche von Egon Eiermann begann der moderne Kirchenbau.

Der frühgotische Stadtturm von Buchen war sicher nicht das eleganteste Domizil, in dem Egon Eiermann je gelebt hat. Die Türmerstube roch ärmlich, die Stufen waren ausgetreten, es zog. Doch das kümmerte den späteren Stararchitekten wenig.

Man schrieb das Jahr 1945; Eiermann war aus dem brennenden Berlin geflohen, um im Odenwald, der Heimat seines Vaters, Zuflucht zu suchen. Zu sehen bekam man den Architekten in Buchen allerdings selten. Aber jeder kannten das Körbchen, das er einmal am Tag herunterließ, damit ihm jemand etwas zu essen hineinlege.

1946 dann die Herausforderung, auf die Eiermann gehofft hatte: Der Hettinger Pfarrer Magnani wollte eine Siedlung für Heimatvertriebene bauen. Ohne Geld, aber mit Vision. Ein Ausflug zu den kirchlichen Bauten Egon Eiermanns, der auf dem Friedhof von Buchen seine letzte Ruhe gefunden hat.

Pfarrer Magnani ist bis heute eine ikonische Gestalt im „Madonnenländchen“. Er hat Eiermann entdeckt.

Man kann sich die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg gar nicht arm genug vorstellen. Deutschland lag zerstört, die Menschen hausten in Kellern, Geld hatte keinen Wert mehr, Baumaterial fehlte völlig, und aus dem Osten drängten 14 Millionen Deutsche zurück in ihre Heimat. Komplett mittellos. „Ihnen muss unbedingt  geholfen werden“, befand Heinrich Magnani, der Pfarrer von Hettingen. Das liegt zwischen Buchen und Walldürn. Katholisches Urland. 

Pfarrer Magnani ist in diesem „Madonnenländchen“ bis heute eine ikonische Gestalt. Die Menschen  erinnern sich an seine Unbestechlichkeit, seinen unermüdlichen Fleiß und sein großes Geschick mit Jugendlichen.

Im Türmerstübchen des Buchener Stadttors hat Eiermann gewohnt.

Aber der katholische Priester hatte auch ein Faible fürs Bauen. Wahrscheinlich ererbt: Sein Vater war ein norditalienischer Zimmermann. In Sachen Flüchtlingshilfe schritt Hochwürden deshalb sofort zur Tat. Er tauschte mit den Hettinger Bauern solange die Grundstücke, bis die Kirche über ein zusammenhängendes Areal verfügte. Dann fuhr er nach Buchen. Zum Architekten im Stadtturm. 

Elf Häuser haben der Pfarrer und der Architekt zusammen gebaut. Sie zeugen von exzellentem Geschmack und prophetischem Gespür.

Die beiden müssen ein Dreamteam gewesen sein. Hier ein charismatische Priester, da einer der begabtesten Entwerfer der Nachkriegsmoderne. Eiermann besaß einen exzellenten Geschmack, hatte prophetisches Gespür für Design und überließ nie etwas dem Zufall. Elf Flüchtlings-Häuser haben Eiermann und Magnani in Hettingen gebaut. Die meisten wurden inzwischen dem Zeitgeschmack angepasst.

Ein Haus allerdings hat die Wüstenrot-Stiftung erworben und im ursprünglichen Zustand erhalten. Es ist jetzt ein Museum, das Staunen macht. Weil hier alles so modern wirkt, als sei es gestern erst entworfen worden. 

Die katholische Siedlung in Hettingen machte Eiermann berühmt.

Pfarrer Heinrich Magnani ist noch heute eine Ikone.

Egon Eiermann hat schon 1946 passgenaue, begehbare Einbauschränke in die Wände integriert. In der Küche dominiert ein freistehender Arbeitsblock mit Elektroherd. Bodentiefe Fenster holen den Garten und die Sonne ins Haus. Es gibt sogar ein komfortables Badezimmer mit fließend warmem Wasser und einer Wandheizung. Alles ist klein, aber selbst für heutige Ansprüche völlig ausreichend. Besonders hübsch ist die Außenfassade aus gebrannten Backsteinen: Eiermann hat so genau gerechnet, dass ein elegantes Muster entstand, ohne dass ein einziger Stein zerschnitten werden musste. Putz hat der Architekt stets verabscheut. 

Die katholische Siedlung in Hettingen machte Egon Eiermann berühmt. Nur zu gern hätte man ihn in Buchen gehalten. Als Stadtbaumeister. Aber der Entwerfer, politische völlig unbescholten, entschied sich für eine Professur an der Technischen Hochschule in Karlsruhe. Er behielt sie bis zu seinem Lebensende.

Zwei Eiermänner treffen sich zufällig am Straßenrand. Ein Wink des Himmels?

Ein Flüchtlingshaus ist noch im Original erhalten. Es beherbergt heute ein Museum.

Was ihn nicht daran hinderte, überall in Deutschland und der Welt sensationell moderne Bürogebäude, Fabriken und Wohnhäuser zu bauen. Berühmt sind auch seine „Horten-Kacheln“. Eiermann schuf den deutschen Pavillon für die Weltaustellung 1958 und baute zahllose Hauptverwaltungen großer Unternehmen. Das Wohnhaus seiner Familie in Baden-Baden ist ebenfalls eine Ikone.

Der Sommer 1951. Eiermann war im Sportwagen unterwegs, als er am Straßenrand einen Anhalter erblickte. Distinguiert mit Hut. Der Architekt bat den Herrn einzusteigen und stellte sich vor. Eine kurze Verblüffungssekunde später brachen beide in schallendes Gelächter aus. Der Mitfahrer nämlich hieß ebenfalls Eiermann. Ludwig Eiermann. Und er war evangelischer Pfarrer im Pforzheimer Stadtteil Arlinger. Die beiden „Eiermänner“ waren keiner Weise miteinander verwandt, aber der Pastor erkannte in der Begegnung einen Wink des Himmels. Er benötigte nämlich dringend eine neue Kirche und einen Architekten, der sie baute. Egon Eiermann schlug ein. 

Kaum eine Kirche besitzt so viel Ausstrahlung wie dieses Bauwerk vollkommen ohne Tageslicht.

Die evangelische Matthäuskirche in Pforzheim von 1956 war eine Sensation.

Arlinger ist ein schöner Stadtteil Pforzheims, an einem Südhang des Schwarzwalds gelegen. Das Bombardement der Alliierten im Zweiten Weltkrieg hat Pforzheim zu neunzig Prozent zerstört. Nur die Einfamilienhäuser von Arlinger mit ihren großen Gärten standen unbeschadet. Viele Neubauten waren inzwischen hinzugekommen. Pfarrer Eiermann ließ dem Architekten völlig freie Hand bei der Planung der künftigen Matthäus-Kirche. Also schuf er eine Ikone. 

Kaum eine andere Kirche besitzt so viel Ausstrahlung und Eleganz wie dieses Bauwerk vollkommen ohne Tageslicht, das 1956 fertiggestellt war. Die Matthäuskirche ist eine Gotteshöhle voll Eleganz und Würde, angefüllt mit farbigem Licht, das von innen heraus zu leuchten scheint. Ein Effekt, den man auch von den Kathedralen der Renaissance kennt.

Eiermann erzeugte ihn durch quadratische Betonwaben in den Außenwänden, die der Schweizer Glaskünstler Hans-Theo Baumann mit farbigem Dickglas füllte. Das ist eine uralte, komplizierte Prozedur, die nur wenige Menschen beherrschen. Architekt Eiermann bestand darauf, dass Baumann dem flüssigen Glas auch Trümmersplitt der zerstörten Stadt beigemengte. Dadurch sind spannende Muster entstanden. 

Eine Gotteshöhle voll Eleganz und Würde.

Der federleichte Altar ging später als Schreibtisch in Serie. Er ist heute ein Klassiker.

Der Fußboden in der Matthäuskirche besteht aus Pflastersteinen, wie man sie für Gehwege benutzt. Außen und innen sollen miteinander verschmelzen. Den Altar entwarf der Architekt natürlich auch selbst; schließlich war Möbeldesign seine zweitliebste Beschäftigung nach dem Häuserbauen.

Der federleichte Pforzheimer Altar ging später als Schreibtisch in Serie. Er ist heute ein Klassiker, wird nach wie vor produziert und verkauft sich besser denn je. Das gilt auch für die Stühle in der Matthäuskirche. 

Die Fertigstellung des Pforzheimer Gotteshauses hat unser Stararchitekt nur noch am Rande verfolgt. Längst war er in Berlin mit Größerem beschäftigt. Helmut Striffler, Eiermanns Meisterschüler, übernahm den Kirchenbau im Schwarzwald und führte ihn zu Ende.

Die Trinitatis-Kirche in Mannheim von Helmut Striffler, Eiermanns Meisterschüler.

Dann baute Striffler in Mannheim seine eigene Kirche mit Wänden aus Licht. Die evangelische Trinitatis-Kirche ist leichter, kleinteiliger und verspielter als die Matthäuskirche. Viele kleine Farbfenster in den Sichtbetonwänden lassen den dämmrigen Innenraum funkeln und schimmern. Leider hat Trinitatis schon lange keine Gemeinde mehr; die Kirche wird heute als Tanztheater genutzt.

Eine Zukunftsform für die Berliner Gedächtniskirche zu finden, war die größte Aufgabe des Jahre 1953.

Berlin im Jahr 1953. Ein quirlige, laute, aufstrebende Stadt, die entschlossen war, alle Spuren des Krieges zu tilgen. Der wichtigste Schritt dazu war die Neugestaltung der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, die am 23. November 1943 von Britischen Bombern fast komplett zerstört worden war. Eine Zukunftsform für die Gedächtniskirche zu finden war einer der größten Aufträge, den Nachkriegsdeutschland an einen Architekten zu vergeben hatte. 

Die neue und die alte Kaiser-Wilhelm- Gedächtniskirche in Berlin.

Die Berliner Hauptkirche muss einst ein grandioses Bauwerk gewesen sein. Kaiser Wilhelm II. hatte es 1895 in Auftrag gegeben, als Hommage an seinen Großvater. Und als Herzstück Berlins. Die ursprüngliche neuromanische Kirche im Zentrum Charlottenburgs besaß fünf Türme, zahllose Erker, Kapellen und Nischen, phantastische Glasmosaike, eine grandiose Fürstenloge und 1500 Sitzplätze für die Gemeinde. Nichts von all diesem Glanz ist geblieben. Nur mehr ein Turmstumpf stand in den Trümmern. 

Neun renommierte Architekten waren eingeladen. Eiermanns Entwurf gewann.

Lange hat Berlin diskutiert, was man nun anfangen sollte. 1956 entschloss man sich endlich, einen Wettbewerb zur Neugestaltung des Areals auszuschreiben. Neun renommierte Architekten waren eingeladen, ihre Ideen zu Papier zu bringen. Egon Eiermann gewann. Mit einem Plädoyer für einen radikalen Neuanfang.

Viele tausend Glasbausteine schaffen „leuchtende Materie“.

Unser Architekt wollte eigentlich auch den Turmstumpf der Vorgängerkirche noch entfernen und dann aus vielen tausend blauen Glasbausteinen „leuchtende Materie“ erschaffen. Ein Stück Himmel inmitten des tosenden Verkehrs. Die Jury war von diesem Plan begeistert; die Berliner entsetzt. Die Gewerkschaften drohten mit Generalstreik, wenn die Turmruine nicht bliebe. Zähneknirschend fügte sich Eiermann. Und baute sein blaues Himmelsleuchten neben den versengten Stumpf. 

Ein fünf Meter großer Christus schwebt mittendrin im strahlenden Blau des Himmels.

Die Einweihung der neuen Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche fiel ins Jahr des Mauerbaus. 1961. Was irgendwie prophetisch war. Denn von außen betrachtet ist die Kirche Stückwerk geblieben: Der riesige, achteckige Kubus aus Sichtbeton mit seinen 20000 blauen Glasfenstern steht optisch völlig unverbunden neben dem schwarzverkohlten Turmstumpf, hinter dessen Rückseite ein moderner Betonturm hervorragt.

Doch sobald man den Kirchenraum betritt, befindet man sich mittendrin in strahlenden Blau des Himmels, in dem ein fünf Meter großer Christus schwebt. Ein Raum jenseits der Zeit. Lichtgewordene Ewigkeit.

Am 19. Juli 1970 ist der Architekt Egon Eiermann in Baden-Baden gestorben. Er wurde nur 65 Jahre alt. Seine Ruhestätte fand er auf dem Friedhof von Buchen. Es ist ein Familiengrab, in dem schon viele Generationen der Familie Eiermann ruhen. Eine schlichte Stele zählt ihre Namen auf. Nur ein einziges Mal, ist auch die Berufsbezeichnung angegeben: Architekt.

8 Gedanken zu „Der Stararchitekt aus dem Odenwald

  1. Liebe Diana Deutsch. Kennen Sie eigentlich unseren wunderbaren EINMALIGEN Hotel – erweiterungsbau von Egon eiermann. Ich habe ihn in ihrem Bericht schmerzlich vermisst. Lieben Gruß aus Buchen. Jens Jaegle Hotel Prinz Carl Buchen

  2. Wie immer eine faszinierende Lektüre über Egon Eiermann! Man lernt so viel über seine beeindruckenden Bauten und seine einzigartige Anekdote mit dem Pastor Eiermann. Seine Architektur ist wirklich beeindruckend, von den Flüchtlingshäusern bis hin zur Gedächtniskirche. Die Geschichte mit den beiden Eiermännern ist einfach brilliant und zeigt, wie der Zufall manchmal witzige Wendungen nimmt. Eiermanns Fähigkeit, soziale Projekte wie Flüchtlingshäuser zu realisieren und gleichzeitig ikonische Gebäude zu schaffen, ist bemerkenswert. Seine Arbeit ist ein Testaments seiner Kreativität und seines Hervorbringens von Schönheit in der Architektur. Ein wirklich fesselndes und unterhaltsames Porträt eines der bedeutendsten Architekten unserer Zeit.

  3. Dieses Text über Egon Eiermann ist wirklich faszinierend! Er hat diese unglaublichen Häuser und Kirchen gebaut, die einfach Wow-Effekte haben. Besonders die Matthäuskirche in Pforzheim, die ohne Tageslicht auskommt und voller farbigem Licht ist – das ist fast wie ein Filmset! Und der blau strahlende Teil der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin, das ist ja wirklich eine Art Himmel auf Erden. Man kann sich vorstellen, wie er all diese tollen Ideen aus der Luft graben hat! Eiermann war definitiv ein Meister seiner Kunst. Ein wirklich beeindruckender Bericht!

  4. Dieses Artikel ist ja ein Traum! Egon Eiermann, der Mann, der sogar Zufall zu einer Ikone machen konnte – bezaubernd! Die Geschichte der beiden Eiermänner am Straßenrand ist der absolute Hammer, eine echte Wunderдруг der Architekturwelt. Aber Achtung: Wer hier liest, braucht dringend einen neuen Architekten für sein Haus, denn Eiermann hat ja selbst geschrieben, er sei immer noch ein junger Mann. Und was die Matthäuskirche angeht – da wurde ich echt neugierig, wie er das mit dem reinen Tageslichtgemütte schaffte, ohne die Glaskünstler zu umsiedeln. Ein wirklich leuchtendes Stück Architekturgeschichte!

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