Es war das grandiose Finale jenes langen, heißen Sommers, mit dem ein Zeitalter zu Ende gehen sollte. Aber das ahnte am 1. Oktober 1911 noch niemand. Der Badischen Großherzog Friedrich II. war an diesem Sonntag höchstpersönlich nach Mannheim gereist, um die neue Christuskirche in der Oststadt einzuweihen. Sie ist bis heute das eleganteste evangelische Gotteshaus der Region.
Riesengroß, mit viel Licht, noch mehr Gold und einem monumentalen Radleuchter im Zentrum. Das vielleicht anrührendste Detail in der Christuskirche ist ihr direkter Blick ins Himmelreich, gleich über der hohen Kanzel: Man sieht, wie Frauen und Männer im zarten Morgenlicht tanzen, lachen und sich umarmen. Allesamt splitternackt. So geht Jugendstil. Eine Reise durch den Kirchenbau der letzten hundert Jahre. Mit all seinen Höhenflügen und Abgründen.
Der opulente Jugendstil der Christuskirche fasziniert. Dass sie noch existiert, ist ein Wunder.
Die Goldenen Zwanziger haben nie so gefunkelt, wie wir das heute gern glauben möchten. In den Städten wohnte man eng, dunkel und laut. Und die Arbeitstage waren lang, schmutzig und hart, weshalb die Opulenz der Mannheimer Christuskirche umso mehr faszinierte. Es war wie ein Eintauchen in eine andere, schönere Welt. Ins Paradies eben.
65 Meter hoch erhebt sich das Gotteshaus über die Oststadt; es überragt damit sogar den Wasserturm, das Wahrzeichen der Quadratestadt. Der monumentale Kanzelaltar garantiert perfekte Sicht auf den Prediger von allen 1400 Sitzplätze aus. Der Radleuchter hat einen Durchmesser von acht Metern; die Orgel auf der Nordempore zählt 10000 Pfeifen.
Und oben auf der Spitze des Turms steht der Erzengel Michael und bläst Posaune. Dass er das bis heute im Original tut, ist ein Wunder. Mehr als 14000 Bomben detonierten im Zweiten Weltkrieg in Mannheim; einzig die Christuskirche hat das Inferno unbeschadet überstanden.
Der Jugendstil war die experimentellste Phase, die der Kirchenbau je erlebt hat.
Der üppige Jugendstil in der evangelischen Hauptkirche in der Quadratestadt markierte den Beginn der experimentellsten Phasen, die der Kirchenbau je erlebt hat. Was ursächlich dem „Bauhaus“ in Dessau zu verdanken war. Die Kreativitätsschmiede proklamierte die Einheit von Handwerk, Technik und Kunst. Den Bau von Kirchen hatte man eigentlich nicht auf dem Schirm, doch dank der Nachkriegs-Frömmigkeit war Nachfrage nach Gotteshäusern plötzlich riesig. Selbst der letzte Agnostiker in Dessau begriff, welche Möglichkeiten sich hier für Architekten erschlossen.
Das katholische Jugendstil-Highlight der Region steht in Hockenheim. St. Georg ist vielleicht die einzige Kirche der Welt, die es fertigbringt, monumental und filigran zugleich zu sein. Ihr Tonnengewölbe überspannt eine Fläche von 3300 Quadratmetern; das ist die Größe einer Bahnhofshalle.
Doch die Ausstattung der Georgskirche ist so zart und geheimnisvoll wie ein Märchen aus tausendundeiner Nacht: Ätherische Frauengestalten in fließenden Gewändern träumen in geheimnisvollen Kapellen.
Sie werden umrahmt von Girlanden, Mosaiken und Blüten. Heiligenfiguren schweben durch paradiesische Sphären. Man sieht Blüten, Blätter, Apostel, Engel, Heilige, Traumbilder, Visionen. Und die Decke des Altarraums öffnet sich ins Himmelreich, wo der Heiland auf seinem Triumphwagen der Wiederkunft harrt.
1925 besuchten noch 96,5 Prozent aller Menschen regelmäßig den Sonntagsgottesdienst.
96,5 Prozent der Deutschen waren 1925 Mitglied in einer der beiden großen Kirchen. Und zwar nicht nur auf dem Papier, sondern ganz real am Sonntag auf den Bänken. Kein Wunder, dass bald der Ruf nach neuen Gotteshäusern laut wurde. Möglichst viele Sitzplätze sollten sie bieten und modern sollten sie sein, gern auch futuristisch.
Fast alle Kirche, die zwischen den Kriegen gebaut wurden, besitzen diese verwirrende Kombination aus massiver Kubatur und romantischem Innenleben. Als ahnten die Menschen bereits, dass sie ihren Glauben bald würden beschützen müssen vor einer feindlichen Welt.
Auch die Katholiken in Mosbach träumten von einem modernen, expressionistischen Gotteshaus. Leider zu spät.
Hans Herkommer war Architekt in Stuttgart. In Frankfurt-Bockenheim hatte er 1929 die Frauenfriedenskirche erbaut, schon im neuen Stil des Expressionismus. Mit riesigem Westwerk als Entree und kubischem Kirchenraum, der aufgebrochen wird von Pfeiler und Rundungen, Durchblicken und Durchgängen.
Genau solch ein Gotteshaus wollte die katholische Gemeinde in Mosbach auch haben. Längst war die gotischen Stiftskirche am Markt, die sich die Katholiken mit den Protestanten teilten, zu klein geworden. Das neue katholische Gotteshaus sollte oben am Hang des Schlossbergs stehen. Mit Traumblick über die Stadt.
Architekt Herkommer ging mit Feuereifer ans Werk. Seine erste Skizze von St. Cäcilia zeigt ein Gebäude, das aussieht wie ein Ozeandampfer mit extrem hohem Westportal. Avantgarde pur. Stolz legten die Mosbacher 1937 diesen Entwurf in Freiburg vor, doch dort hatten sich die Zeiten gerade geändert. Der neue Erzbischof Conrad Gröber schwärmte jetzt für die „überkommene Formen des christlichen Heimatstils“. Schweren Herzens verzichtete Mosbach auf das futuristisches Westwerk und bauten traditionell.
Wer wissen will, wie St. Cäcilia eigentlich hätte aussehen sollen, muss nach Mannheim gehen.
Im Kirchenraum von St. Cäcilia jedoch, der schon ohne Pfeiler auskommt, kann man den Expressionismus jedoch immer noch entdecken: An der Ostwand hinter dem Altar schwebt Christus in einer Art Lichtschacht vom Himmel herab. Es gibt zauberhafte sphärische Leuchter und Wandmalereien.
Und wer wissen will, wie St. Cäcilia eigentlich hätte aussehen sollen, der sollte sich in die Mannheimer Neckarstadt begeben. Die dortige St. Nikolauskirche, 1931 erbaut, ähnelt verblüffend dem Mosbacher Ursprungsentwurf von Hans Herkommer.
Eine Kirche komplett aus Beton mit spektakulärem Lichteinfall – das war die Formensprache der Moderne.
Das Jahr 1954. Langsam, ganz langsam erwachte Deutschland wieder zum Leben. Doch es würde noch eine Weile dauern, bis die tiefen Krater des Zweiten Weltkriegs aus den Städte und den Seelen verschwunden waren.
In diese Schwebephase hinein baute ein junger Schweizer Architekt, der sich selbst „Le Corbusier“ also „die Krähe“ nannte, eine Wallfahrtskirche, wie sie die Welt noch nie gesehen hatte: Notre-Dame-du-Haut beim Dorf Ronchamp in den französischen Vogesen besteht komplett aus Beton.
Ihre spirituelle Ausstrahlung erhält die Kirche allein durch den Einfall des Lichts. Die Formensprache der Moderne war gefunden!
Beton galt als ehrlich, klar und kostengünstig. Und: Er konnte jede Gestalt annehmen. Die Architekten standen fassungslos vor Glück. Endlich gab es einen Werkstoff, der in flüssigem Zustand unbegrenzt formbar, getrocknet aber an Härte kaum zu überbieten war.
Dabei ist Beton gar keine Erfindung der Neuzeit. Schon die Römer mischten Sand und Kies mit Vulkanasche und Meerwasser, um die Kuppel des Pantheon zu formen. „Opus cementitum“ nannten sie diesen Baustoff. Vor zweitausend Jahren.
Über der Altarinsel schweben Betonplatten wie ein gigantische Mobile.
Eine der frühesten Kirche der Beton-Ära steht im Dorf Neckarhausen, exakt in der Mitte zwischen Mannheim und Heidelberg. St. Andreas ist ein visionärer Bau, der schon 1960 die Beschlüsse des Zweiten Vatikanums vorwegnahm. Gerade Linien und rechte Winkel existieren in St. Andreas nicht mehr. Alles ist rund, geschwungen, surreal. Über der Altarinsel schweben elliptische Betonplatten wie ein gigantisches Mobile, darüber leuchtet die hohe offene Kuppel, die die Kirche mit Licht versorgt. Je nach Gemütszustand ist St. Andreas Offenbarung oder Schock. Neutral begegnet dieser Kirche niemand.
Damit war in Nordbaden der Damm gebrochen. Helmut Striffler in Mannheim fertigte die evangelische Trinitatis-Kirche im Quadrat G4 komplett aus wabenförmigen Betonbausteinen mit Buntglasherzen. Die diaphanen Wände hüllten den Kirchenraum in überirdisches Licht.
Noch radikaler: Strifflers Jona-Kirche im kleinen Stadtteil Blumenau. Der Beton hat dort die Form eines Walfischs, dessen Schwanzflosse steil aus dem Wasser aufragt. Im Inneren ist tatsächlich so dunkel wie im Bauch des Wals. So geht Avantgarde.
St. Michael galt als elegantester Kirchenbau. Die Coco Chanel der Gotteshäuser.
Im unzerstörten Heidelberg dachte man mondäner. St. Michael in der Südstadt galt 1962 als elegantester Kirchenneubau im Erzbistum Freiburg. Die Coco Chanel unter den Gotteshäusern. Der Altar in St. Michael steht frei auf einer Rauminsel, leicht erhöht, doch schon ungetrennt von den Bänken der Gemeinde, die sich strahlenförmig auf ihm hin orientieren. Lamellenwände vor den Fenstern filtern das Licht. Und am Bronzekreuz hängt kein gemarterter Jesus, sondern der auferstandene Christus schwebt davor.
Leider besitzt St. Michael schon lange keine Gemeinde mehr. 1962 hatte man fest damit gerechnet, dass das amerikanische Headquarter in der Südstadt bald abziehen würden, und hier ein riesiges Wohngebiet entstünde. Doch die Amerikaner blieben bis 2013, da war der Glauben schon verdunstet. Traurig für St. Michael.
„Béton brut“ war jedoch nicht nur in den Großstädten ein Riesenthema. Auch auf dem Land wurde jetzt stylish gebaut. Eine hochspannende Sakralskulptur steht in Sinsheim: St. Jakobus aus dem Jahr 1967 ist halb Raumschiff, halb Gotteshöhle. Alle Wände sind gerundet. Sie wechseln vom Kreis zum Oval, umschlingen einander und fließen wieder von einander weg. Die Orgelempore ruht auf Betonpilzen, die aus dem Boden emporwachsen. Eine wunderbar-verspielte Schöpfung der Pop-Art, mit der die Geschichte des Kirchenbaus schon langsam zu Ende ging.
Die jüngste Kirche verdankt ihre Existenz einem Flammeninferno.
In den 1990er Jahren stieg die Zahl der Kirchenaustritte drastisch an; neue Gotteshäuser wurden nicht mehr benötigt. Es gibt nur sehr wenige Neubauten, die ahnen lassen, wie die Kirchen des 21. Jahrhundert aussehen. Das vielleicht spannendste Beispiel steht in Limbach im Odenwald.
Die katholische Kirche St. Valentin verdankt ihre Existenz dem plötzlichen Ableben der Vorgängerkirche: 2007 entwischte bei Schweißarbeiten in Limbachs barocker Pfarrkirche unbemerkt ein Funke. Die Decke des Landkirchleins entzündete sich, im Handumdrehen wurde aus ihr ein glühender Feuerball. Praktisch nichts konnte gerettet werden.
Doch wie das manchmal so ist: Ausgerechnet dieses Unglück katapultierte den 1500-Seelen-Ort an die Spitze der Architektur-Avantgarde. St. Valentin nämlich wurde wieder aufgebaut. Als spannende Melange aus Barock und Moderne.
Alle Wände in der neuen Kirche sind eliptisch, was dem Raum eine ungeheuere Dynamik verleiht. Sie wird durch den Kontrast von nachgeschöpften „barocken“ Altären, Putten und Heiligen und modernen neuen Elemente aus Beton und Glas noch verstärkt. Auf Fenster hat man völlig verzichtet. Alles Licht flutet durch die gläserne Decke herein.
Ungewohnt und anrührend zugleich ist der abstrakte Kreuzweg, den eine Künstlerin in die geschwungene Außenwand integriert hat: Die Stationen hinter Glas sind Meditationen. Vieldeutig und tief. Eine entwurzelte Rose schwebt hilflos im Nichts: Jesus wird zum Tode verurteilt. Noch versiegelt dickes schwarzes Blei das Grab, doch an der Ecken drängt schon helles Licht herein: Die Auferstehung.