Die Durchlüftung der Seele

Beten und lauschen – Auszeiten in der Natur können Wunder wirken.

Vielleicht denken wir zu viel. An den Krieg, an die Seuche, an die steigenden Preise … Und schon ist es vorbei mit der Zuversicht und der Leichtigkeit des Herzens. Dabei gibt es ein einfaches Rezept gegen die Grübelei: So oft wie möglich das Haus verlassen und die Seele richtig gut durchlüften.

Das funktioniert im Laufen, im Sitzen, im Gehen. Im Wald, auf dem Feld, am Berg. Oben auf dem Hügel oder unten am Fluss. Sehend, riechend, schmeckend. Schweigend, betend, lauschend. Ein Vorschlag für die Fastenzeit.

„Das Eingebundensein in das langsame Werden und Vergehen erdet den Geist“.

Angelika Schmidt ist Pfarrerin in Michelbach und Unterschwarzach.

Michelbach liegt zwar im Kleinen Odenwald, doch Wald im eigentlichen Sinn sucht man hier vergebens. Stattdessen gibt es einen kleinen See und Felder so weit das Auge reicht. Angelika Schmidt, die Pfarrerin von Michelbach und Unterschwarzach, ist mit der Landschaft hier am Rand des Kraichgaus sehr zufrieden. Weil die Weite etwas Meditatives hat und sich ideal zum Joggen eignet. Angelika Schmidt nämlich hat sich angewöhnt, die Begegnung mit Gott und die Durchlüftung ihrer Seele miteinander zu kombinieren. So oft es geht, läuft die Pfarrerin. Exakt eine halbe Stunde. Immer dieselbe Strecke.

„Wenn man einen Weg sehr gut kennt, registriert man die kleinsten Veränderungen“, berichtet Schmidt. Man erlebt, wie der Frühling in den Sommer übergeht. Man sieht die Felder erst keimen, dann reifen. Die Bäume erst grün dann bunt werden. „Das Eingebundensein in dieses langsame Werden und Vergehen erdet den Geist“, findet Angelika Schmidt. „Und es gibt Gott die Chancen, zu mir durchzudringen. Je eintöniger der Lauf, desto offener bin ich für seinen Anruf.“

Uralt und wunderschön: Die Kirche von Michelbach.

Denn es ist nicht einfach, Gottes Stimme zu hören – und zu erkennen. Unter Zeitdruck geht das gar nicht, hat Angelika Schmidt herausgefunden. Und im Gottesdienst mit vielen anderen Menschen nur bedingt. Weil da oft die Gemeinschaft im Vordergrund steht. „In der Natur hingegen fühle ich mich Gott sofort sehr nahe“, überlegt die Pfarrerin.

Wenn sie die Vögel hört, einen knorrigen Baum betrachtet, sich absichtslos auf jedes nebensächliche Detail einlässt. „Es ist ja ein Trugschluss, dass Gottes Wort immer erhaben, rein und losgelöst ist “, findet Schmidt. „Ich denke, es ist ebenso Gott Werk, wenn mir beim Joggen plötzlich jemand in den Sinn kommt, an den ich schon sehr lange nicht mehr gedacht habe.“

Das „Herzensgebet“ kann die Gedankenflut stoppen, die unentweg durch unseren Kopf strömt.

„Ihr werdet in den Wäldern mehr finden als in den Büchern“, hat der Zisterziensermönch Bernhard von Clairvaux gesagt. „Die Bäume und Steine werden Euch Dinge lehren, die kein Lehrmeister Euch zu hören gibt.“

Auf einer einsamen Waldlichtung ist uns Gott schnell sehr nah.

Andreas Rosenwink ist evangelischer Pfarrer. Er hat bei den Mennoniten zum Glauben gefunden, bei den Jesuiten studiert und in einem evangelischen Kloster das „Herzensgebet“ entdeckt. Heute lebt der Theologe als Meditationslehrer in Bammental. „Ich begleite Menschen in ihrer Sehnsucht nach Gott“, definiert Rosenwink. „Das geschieht durch Wahrnehmungsübungen, die von der fernöstlichen Spiritualität inspiriert sind, aber im christlichen Glauben wurzeln.“

Das „Sitzen in der Stille“ beispielsweise oder das „Herzensgebet“. Zwei Meditationsformen wie geschaffen für eine einsame Waldlichtung oder einen Morgen am Wasser. Weil es darum geht, die Gedankenflut zu stoppen, die unentwegt durch unseren Kopf strömt. Und sich zu öffnen für die Gegenwart Gottes. Die hohe Kunst des Betens.

Der Verstand hat Pause, der Atem übernimmt.

Andreas Rosenwink lehrt Meditation in Bammental.

„Jedes Herzensgebet beginnt mit einer kurzen Körperwahrnehmung“, erklärt Andreas Rosenwink. Man spürt, wie man sitzt. Wie sich die Haut anfühlt. Wie man atmet. „Dann wechseln wir hinein in die geistige Befindlichkeit und betrachten, was wir Gott hinhalten wollen.“ Ab da hat der Verstand Pause. Der Atem übernimmt. „Ich wähle eine Anrede, die mich am engsten mit Gott verbindet“, sagt Rosenwink. „Herr, Vater, Jesus Christus …“ Eines dieser Wort begleitet fortan jeden Atemzug. Sowohl beim Ein- wie beim Ausatmen. Einatmen – „Vater“ – Ruhe. Ausatmen – „Vater“ – Ruhe. Eine halbe Stunde lang. „Danach empfinde ich ein Gefühl unendlicher Zufriedenheit und Freiheit“, verrät Andreas Rosenwink.

In der Theorie hört sich das recht einfach an. Die Praxis jedoch ist knifflig. Weil man es nicht so leicht schafft, seine Gedanken eine halbe Stunde lang vollkommen abzuschalten. Irgendeine Idee funkt immer dazwischen. „Bis man das Herzensgebet wirklich beherrscht, braucht es viel Übung“, nickt Pfarrer Rosenwink. Vor allem Menschen, die ein „hohes Lebenstempo haben“, falle es schwer, aus der Stress-Spirale auszusteigen. Was hilft? „Zu sich selbst barmherzig sein und immer wieder gelassen zur Übung zurückkehren“, sagt Rosenwink.

Absichtslos das Spiel der Wolken beobachten.

Es gibt allerdings aus Situationen im, in denen die Stille nicht hilft, sondern eher schadet. Hat der Meditationslehrer erfahren müssen. „Wenn jemand in großer Trauer oder großer Angst lebt, empfehle ich eher das Atemgebet.“ Weil es mit einer dringenden Bitten an Gott verbunden ist. Jedes Mal, wenn der Schmerz oder die Angst übermächtig werden, sagt man beim Einatmen: „Vater, ich vertraue Dir.“ Und beim Ausatmen: „Vater, du trägst mich durch diese Nacht.“ Das wirke zuverlässig, sagt Pfarrer Andreas Rosenwink.

„Vielleicht probiert man ja mal aus, wie es sich anfühlt, barfuss über kaltes, feuchtes Moos zu gehen“.

„Es ist gut, dass ihr in die Kirche kommt“, hat Bernhard von Clairvaux seine Novizen gelehrt. „Aber es ist noch besser, die Kirche kommt in Euch.“

Manchmal kehren beim Joggen auch Begebenheiten zurück, die noch nicht wirklich verarbeitet sind, berichtet Pfarrerin Angelika Schmidt aus Michelbach und Unterschwarzach. Um diese Probleme innerlich zu klären, reicht die halbe Stunde Jogging im Feld meist nicht aus. „Da muss ich mir größere zeitliche Freiräume schaffen.“ Kurzexerzitien beispielsweise. Oder einen ganzen Tag allein draußen in der Natur. Ohne Handy. Absichtslos.

Bernhard von Clairvaux.

„Vielleicht probiert man ja mal aus, wie es sich anfühlt, barfuss über kaltes, feuchtes Moos zu gehen“, überlegt Angelika Schmidt. Oder man beobachtet das Spiel der Wolken. Stundenlang. Manchmal entdeckt man auch einen umgeknickten Baum, sagt Schmidt, aus dem ganz zart neues Leben erwächst. Oder Blumen, die an Stellen wachsen, wo keiner sie hingesetzt hat. „Eine Garantie, dass mir Gott tatsächlich eine Antwort gibt, habe ich natürlich nicht“, sagt Schmidt. „Aber Psalm 1 verspricht: Wer an Gott dranbleibt, der ist wie ein Baum gepflanzt an Wasserbächen.“

„Nicht das Geistige kommt zuerst“, schrieb Bernhard von Clairvaux schon im 11. Jahrhundert.„Sondern das Natürliche.“

Ein Wort aus der Bibel kann einen Menschen durch den ganzen Tag tragen

Vor längeren geistlichen Exerzitien mit Gruppen verbringe er gern einen Tag allein draußen in der Natur, nickt auch Andreas Rosenwink aus Bammental. Als Einübung in das Sehen, das Hören, das Fühlen. “Auf einer Bank in der Sonne wird man automatisch ruhig, gegenwärtig und kommt mühelos hinein ins Wahrnehmen.“

Ignatius von Loyola

Ideale Voraussetzung für eine „ignatianische Schriftbetrachtung“. So genannt, weil Ignatius von Loyola, der große Pilger und Geisteslehrer, diese Meditationsmethode ersonnen hat. Im 16. Jahrhundert. Heute ist es die Herzensübung des geistlichen Begleiters Andreas Rosenwink. „Ich habe die Schriftmeditation in allen Lebenskrisen als sehr hilfreich gefunden.“ Zumal man dafür weder Vorbereitung oder Vorwissen braucht. Nur wache Aufmerksamkeit.

Gelesen wird – allein oder in der Gruppe – eine Perikope aus dem Neuen Testament, die schildert, wie Jesus Menschen begegnet. „Die Zuhörer spüren während der Lesung intensiv in sich hinein, ob es eine Stelle gibt, die sie besonders berührt“, erklärt Rosenwink. „Das kann auch nur ein einziges Wort, das für mich heraussticht und mich anspricht.“ Mit diesem Wort oder diese Stelle geht man dann durch den Tag. „Verweile, verspüre und verkoste“, hat Ignatius von Loyola formuliert. „Wer diese Übung ernst nimmt, mit dem geschieht oft etwas Wesentliches“, sagt Andreas Rosenwink. Dann lächelt er. „Ich habe schon oft erlebt, dass in einer Gruppe, die denselben Text betrachtet hat, jeder von einem anderen Wort angeprochen wurde.“

Exerzitien sind wie ein Musikinstrument. Man muss ein wenig üben, bis man sie beherrscht.

Mit allen Sinnen im Hier und Jetzt sein.

Und wenn gar nichts passiert? Weder im Feld, noch im Wald, noch bei der Schriftlesung? Das liege durchaus drin, nickt Rosenwink. Sei aber nicht weiter schlimm. Man probiert es eben bei nächster Gelegenheit wieder. „Mit Exerzitien ist das wie mit einem Musikinstrument. Man muss erst ein bisschen üben, bis man es beherrscht.“ Ganz umsonst sei eine Auszeit aber trotzdem nie. Weil man sich selbst und seinem Geist endlich mal eine Ruhezeit gönnt, während der man ganz in der Gegenwart verweilt. „Normalerweise eilen wir der Zeit in Gedanken ja immer voraus“, beobachtet der Meditationslehrer. Nachher mache ich das, morgen das, und in den nächsten Ferien das …

Wie schnell all solche Pläne Makulatur werden können, zeigen die aktuellen Nachrichten. „Mit allen Sinne im Hier und Jetzt zu sein“, sagt Andreas Rosenwink, „darin besteht die Herausfoderung des Lebens.“

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