Der alte Kurfürst stand regungslos am Fenster und machte sich Sorgen. Seiner Stadt fehlte ein Alleinstellungsmerkmal. Etwas, das Heidelberg von allen anderen Orten unterscheiden und Menschen anlocken würde. Doch was könnte das sein? Momentan bestand seine „Residenz“ nur aus Handwerkern, ein paar Klöstern und dem Kapellchen zum Heiligen Geist.
Plötzlich stutzte Ruprecht I. Zum Heiligen Geist? Geist! Das war die Lösung. Er würde eine Universität gründen. Noch auf seine alten Tage. Die Hochschule sollte seinen Namen tragen und zum Markenzeichen Heidelbergs werden. Womöglich über Jahrhunderte hinweg…
So wirkt Pfingsten. Es ist das große Fest des Heiligen Geistes. Er inspiriert und gebiert Ideen, verbreitet Begeisterung und Mut, schenkt Energie und Motivation, Trost und Hoffnung. „Überall, wo etwas leicht und licht ist, liebevoll und kreativ, wirkt der Heilige Geist“, definiert Vincenzo Petracca, Heidelbergs evangelischer Citypfarrer. „Der Geist tanzt, spielt und lockt uns aus der Dunkelheit heraus.“ Ein Pfingstspaziergang durch die Heiliggeistkirche auf den Spuren des Geistes.
„In der Heiliggeistkirche gehen göttlicher und menschlicher Geist eine spannende Verbindung ein“.
Es war der 18. Oktober 1386 als sich die Türen zur Universität Heidelberg zum ersten Mal öffneten. In der Heiliggeistkirche. Es gab drei Vorlesungen: Logik, Theologie, Physik.
Die Hochschule ist einzige Vermächtnis von Kurfürst Ruprecht I. an die Nachwelt. Einen Sohn hat Gott ihm nicht geschenkt. Sein Neffe Ruprecht II. folgte ihm auf dem Kurpfälzer Thron.
Bis heute zieren die beiden Ruprechte das Siegel der Universität. Zusammen mit dem Heiligen Petrus. „In der Heiliggeistkirche gehen göttlicher und menschlicher Geist eine spannende Verbindung ein“, findet Citypfarrer Petracca. Die Universität in Kirchenmauern sei ein Zeichen dafür, dass Gott den Menschen nicht nur erlaubt, die Geheimnisse der Welt zu erforschen. „Er gibt ihnen dafür sogar seinen Geist als Helfer an die Hand.“
Gewissheit im naturwissenschaftlichen Sinn gibt es in der mystischen Welt nie.
Doch woran erkennt man, dass der Heilige Geist wirkt und sich nicht nur die Menschen etwas ausdenken? „Diese Frage zieht sich durch die ganze Bibel hindurch“, seufzt Vincenzo Petracca. Immer wieder sei im Laufe der Jahrhunderte der Versuch unternommen worden, Kriterien für das Wirken des Heiligen Geistes zu finden. Das ist stets fehlgeschlagen. „Natürlich kann man rückblickend sagen: Ich glaube, an dieser Stelle hat Gottes Geist in meinem Leben gewirkt“, überlegt Petracca. Aber Gewissheit im naturwissenschaftlichen Sinn gebe es in der mystischen Welt nie. „Sonst wäre der Glaube ja kein Glaube.“
Im Jahr 1400 erlangte Heidelberg Weltruhm: Kurfürst Ruprecht III. wurde zum deutschen König gewählt. Das änderte alles. Die kleine Heiliggeistkirche verschwand, eine spätgotischen Kathedrale wuchs auf ihrem Platz gen Himmel empor. Sie sollte Universität, Marktplatzkirche und fürstliche Grablege in einem sein. Vor allem aber sollte sie den Menschen ein Gefühl für den Glanz des Himmelreichs vermitteln. „Die Gotik hatte für Schönheit drei Kriterien“, berichtet Petracca. „Licht, Farbe und Zahl.“
Wer an einem hellen Morgen die Kirche betritt, spürt den Sog, der vom Chor ausgeht
Die biblische Zahl der Vollkommenheit ist 12. Zwölf Stämme bildeten das Volk Israel, zwölf Apostel erwählte Christus, zwölf Tore führen ins Himmlische Jerusalem. Zwölf Säulen und zwölf Fenster besitzt der Chor der Heiliggeistkirche. Im Schiff zählt man zwölf Pilaster und zwölf Joche. Dazwischen standen einst zwölf Altäre, an denen rund um die Uhr Messen zelebriert wurden. „Früher hatte auch das Langhaus zwölf Fenster“, weiß der Citypfarrer. „Doch zwei sind zugemauert worden“. So geht man heute mit dem Heiligen Geist um.
Das Licht jedoch ist noch immer magisch in Heiliggeist. Wer an einem hellen Morgen die Kirche betritt, der spürt den Sog, der vom Chor ausgeht. Dort will man hin. Sich einhüllen lassen in Helligkeit. „Sonnenlicht ist in der Bibel immer eine Metapher für die Ausgießung des Geistes“, erklärt Pfarrer Petracca. Weshalb gotische Kirchen stets so lichtdurchflutet wie möglich gebaut wurden. Im Mittelalter verlangte das geometrische und handwerkliche Höchstleistungen, weiß Petracca, der nicht nur Theologie sondern auch Mathematik studiert hat. „So viel Glas wie möglich in so wenig Stein wie nötig.“
Bald wird die Bibliotheca Palatina in die Heiliggeistkirche zurückkehren. Digital
Kurfürst Ludwig III., der Sohn von König Ruprecht, suchte den Heiligen Geist in Büchern. Unzählige hat er besessen und gelesen. Schließlich ließ er die beiden Seitenschiffe der Heiliggeistkirche einreißen und deutlich breiter wieder aufbauen. Mit einer Hochempore für die neue Universitätsbibliothek, die Bibliotheca Palatina. Eine Bibliothek in einem Kirchenraum sei zwar ungewöhnlich, überlegt Vincenzo Petracca. „Aber eigentlich ein schönes Symbol für das fruchtbare Zusammenspiel zwischen Gottes Geist und menschlichem Geist.“
Den katholischen Truppen im Dreißigjährigen Krieg waren solche Symbole völlig egal. Sie rollten die wertvollen Pergamente zusammen, verstauten sie in leeren Weinfässern und brachten sie nach Rom. Jetzt hütet der Vatikan die Bibliotheca Palatina. Nicht in einer Kirche sondern im Archiv. Bald jedoch sollen die Bücher auf die Empore von Heiliggeist zurückkehren. Digital.
Je nüchterner ein Kirchenraum ausgestattet ist, desto machtvoller kann der Geist wirken. Glauben die Calvinisten
1563 hielt der Calvinismus in Heidelberg Einzug. Die Altäre verschwanden, ebenso die Leuchter, die Kreuze und die goldenen Kelche. Je nüchterner ein Kirchenraum ausgestattet ist, so glaubt das reformierte Bekenntnis, desto machtvoller kann der Geist wirken. Was so falsch vielleicht nicht ist. Zumindest nicht in der Heiliggeistkirche, wo ja schon die architektonische Weite und Erhabenheit vor Heiligem Geist geradezu sprüht. „Die Frucht des Geistes“, schreibt der Apostel Paulus, „sind Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Selbstbeherrschung.“
„Ruach elohim“ nennt das hebräische Original des Alten Testaments den Heiligen Geist. Das bedeutet so viel wie „Atem Gottes“ und ist erstaunlicherweise ein Femininum. „Wir müssten also eigentlich von der heiligen Geistin sprechen“, lächelt Vincenzo Petracca. In der griechischen Fassung der Bibel steht „pneuma“, was ebenfalls „Atem“ heißt. „Der Wind weht, wo er will“, sagt das Johannesevangelium. Und die Pfingstgeschichte berichtet von einem veritablen „Sturm“ des Heiligen Geistes.
Dahin alle Helligkeit, alle Größe, alle Schönheit, alle Inspiration
Am 22. Mai 1693 starb Heidelberg. Die Truppen des französichen Sonnenkönigs Ludwig XIV. brannten die Stadt fast komplett nieder. Sie plünderten Heiliggeist, verwüsteten die 54 Fürstengräber im Chor und zerstreuten die Knochen im Wind.
Die neuen Kurfürsten nach dem Krieg kamen aus Düsseldorf und glaubten streng katholisch. Das sollte auch Heidelberg wieder tun. Doch das lässt sich nicht so einfach befehlen. Nach 129 reformierten Jahren. Es kam erst zum Streit, dann zu einem fürchterlichen Kompromiss: Die Heiliggeistkirche wurde zwischen den Konfessionen aufgeteilt. Im Chor beteten die Katholiken, im Langhaus die Protestanten. Dazwischen ragte eine schall- und lichtdichte Mauer bis zur Decke empor. Dahin alle Helligkeit, alle Größe, alle Schönheit, alle Inspiration. Dahin der Heilige Geist? „Eine Mauer ist das genaue Gegenteil vom Heiligen Geist“, sagt Vincenzo Petracca. „Weil sie Grenzen setzt und Weite verhindert.“ 230 Jahre lang. Von 1706 bis 1936.
Dem evangelischen Pfarrer Hermann Maas ist es zu verdanken, dass die Mauer heute nicht mehr steht. „Maas war erfüllt vom Geist der Verständigung sowohl zwischen den Konfessionen als auch zwischen den Religionen“, schwärmt Vincenzo Petracca. Ein Baum in der „Allee der Gerechten“ im israelischen Yad-Vashem trägt heute den Namen von Hermann Maas. Als Dank für die Unerschrockenheit, mit der der Heidelberger Pfarrer viele jüdische Familien vor den Nationalsozialisten gerettet hat. Auch so wirkt Pfingsten.
Der „Heidelberger Fensterstreit“ unterhielt die gesamte Republik. Heute versteht ihn niemand mehr.
Bleiben noch die Fenster in Heiliggeist. Wie die gotischen Originale ausgesehen haben, weiß niemand. Die meisten der heutigen Fenster sind zurückhaltend, historistisch, ornamental. Umso mehr sticht das blutrote Physik-Fenster von Johannes Schreiter ins Auge. 1984 hat es die Stadt an den Rand der Spaltung gebracht. Die eine Hälfte der Heidelberger fand das Werk grandios, die andere Hälfte fürchterlich. Der „Heidelberger Fensterstreit“ unterhielt die gesamte Republik. Heute versteht ihn niemand mehr.
„Johannes Schreiter thematisiert in dem Fenster sehr eindrücklich das Pfingstwunder“, interpretiert Vincenzo Petracca, der Mathematiker und Theologe. Man sieht einen machtvollen blutroten Pfeil, der das Maßwerk förmlich durchstößt. „Das ist der göttliche Geist der an Pfingsten auf die Menschen herabkam.“ Wobei Gott den Menschen die Freiheit der Wahl ließ: Entweder sie forschen, um Wunderbares für die Welt zu erschaffen. Oder sie zerstören alles.
Schreiters Chiffre für den Overkill ist ein Datum: 6.8.1945. Der Abwurf der Atombombe auf Hiroshima. Die berühmte Formel von Einsteins Relativitätstheorie symbolisiert die friedliche Forschung. „Wie diese Entscheidung ausgeht“, sagt Pfarrer Vincenzo Petracca, „lässt Johannes Schreiter völlig in der Schwebe.“
Der Buchtipp:
Vincenzo Petracca u.a.: Heilig-Geist-Kirche, J.S. Klotz Verlagshaus. 29,90 Euro