Die Königin der Gassen

Erstmals gibt es einen „Heidelberger Madonnenführer“ als Büchlein.

Samstag auf dem Heidelberger Kornmarkt. Der Frühling liegt schon in der Luft, und die Menschen posieren strahlend vor der Marienstatue, die den Platz beherrscht. Was ein ziemlich sinnloses Unterfangen ist. Die Madonna auf dem Kornmarkt nämlich steht so ungünstig, dass sie auf Fotos meist nur als schwarze Silhouette zu sehen ist. Vielleicht ist das ein Zeichen? Für die komplizierte Beziehung zwischen Heidelberg und seinen Madonnen.

Zwar findet man in der Altstadt an fast jeder Ecke eine Muttergottes, doch kaum jemand nimmt von ihr Notiz. Das soll sich jetzt ändern. Hans Gercke, der langjährige Leiter des Kunstvereins, hat den ersten Heidelberger „Madonnenführer“ verfasst. Ein Streifzug durch die Gassen auf den Spuren Mariens.

Das Erbe des „Heidelberger Katechismus“ steckt der Stadt in den Genen.

Hans Gerckes Führer
kostet 9,80 Euro
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Heidelberg ist keine katholische Stadt. Dazu wiegt die reformierte Vergangenheit zu schwer. Der „Heidelberger Katechismus“, 1563 erstmals erschienen, gilt bis heute als wichtigstes calvinistische Glaubensbekenntnis der Welt. Der „Heidelberger“, wie er kurz genannt wird, wurde in mehr als vierzig Sprachen übersetzt und verkauft sich noch immer in einer Auflage von rund zwei Millionen Exemplaren pro Jahr. Dieses Erbe steckt der Neckarstadt in den Genen. Unmöglich es wegzudefinieren. „Genau damit ist das Spannungsfeld umrissen, das in der Altstadt Madonnen in so bemerkenswert großer Zahl hervorgebracht hat“, diagnostiziert Hans Gercke.

Die Bildnisse der Gottesmutter nämlich waren politische Kampfmittel. Angeordnet von der Herrscherdynastie Pfalz-Neuburg, die 1697 die Macht in der Kurpfalz übernahm. Der neue Kurfürst Johann Wilhelm saß in Düsseldorf und glaubte streng katholisch. Das sollten die Heidelberger auch wieder tun. Fand „Jan Wellem“. Ein anspruchsvolles Ansinnen nach fast 150 radikal reformierten Jahren am Neckar.

Da passte es dem neuen Kurfürsten ganz gut ins Konzept, dass der französische Sonnenkönig Ludwig XIV. Heidelberg ein paar Jahre zuvor in Schutt und Asche gelegt hatte. Nur die Heiliggeistkirche und das Haus zum Ritter hatten das flammende Inferno überlebt. Ein Neuanfang stand in Heidelberg also auf jeden Fall an. Am besten im modernen katholischen Stil des Barock. Beschloss der Kurfürst.

Die Madonnen künden vom Sieg über die Reformation.

Der Kompromiss war eine Art „Schrumpf-Barock“ auf nittelalterlichem Grundriss.

Mehr als 80 Jesuitenpatres wurden von Düsseldorf am Rhein nach Heidelberg am Neckar entsandt, um die Auferstehung der Altstadt zu organisieren. Die Patres hätten am liebsten alles völlig neu, weitläufig und opulent-barock angelegt, berichtet Hans Gercke. „Wogegen sich jedoch die Bewohner mit Erfolg gewehrt haben.“ Der Kompromiss, auf den man sich schließlich einigte, war eine Art Schrumpf-Barock. Die Palais wurden so lange verkleinert, bis sie auf den mittelalterlichen Grundriss der engen Gassen passten.

In Sachen Madonnen ließ Kurfürst Johann Wilhelm nicht mit sich reden. Zwar gestand der Friedensvertrag von Rijswijk den Protestanten freie Religionsausübung und die Hälfte der Kirchen zu. Doch von den Plätzen und Häuserfassaden war darin nicht die Rede. Sie sollten künftig allesamt der Muttergottes gehören. Entschied der Kurfürst.

„Wir begegnen Madonnen an den barocken Fassaden und an den Ecken, über den Portalen und an den Kanten der Gebäude“, berichtet Professor Gercke in seinem Büchlein. „Diese Sakralisierung des öffentlichen Raums sollte den Sieg über die Reformation zum Ausdruck bringen. Gerade in der Stadt des Heidelberger Katechismus.“

Heidelbergs Madonnen sind kämpferische Frauen.

Die „Kornmarktmadonna“ ist
ein beliebtes Fotomotiv
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Weshalb es sich bei den Heidelberger Madonnen meist auch nicht um zarte, elfengleiche Wesen handelt. Sondern um kämpferische Frauengestalten mit Strahlenkranz, Szepter, Lanze und Königskind. Wie die Kornmarktmadonna. Sieben Meter hoch erhebt sich die gewaltige Brunnenfigur über ihren Platz. Mit der Schlossruine als pittoreskem Hintergrund. Der Düsseldorfer Hofbildhauer Peter van den Branden hat die Madonna 1718 geschaffen. Als „apokalyptisches Bild der von Sonne umkleideten und zwölf Sternen umkränzten Frau, die der Schlange den Kopf zertritt“ (Hans Gercke).

Dem Jesusknaben bleibt es vorbehalten, das teuflische Kriechtier mit der Lanze des Kreuzes zu erstechen. „Der Paradiesapfel, Symbol der Ursünde, ist leicht zu erkennen“, schreibt Gercke. Das Lilienzepter in der Hand der Madonna kündet von der Reinheit der unbefleckten Jungfrau. Engel tragen die Erdkugel, auf der Maria steht. Mehr Gegenreformation geht nicht. Die gesamte Darstellung ist bewusst gegen den Protestantismus gerichtet, nickt Kunsthistoriker Gercke.

Fast jede barocke Fassade ziert eine Muttergottes.

Wozu auch das programmatische Schriftband passt: „Weder Stein noch Säulen hier – das Kind und die Mutter ehren wir.“ Für die calvinistischen Heidelberger, die noch nicht einmal einen Altar, geschweige denn Bilder oder Figuren in ihren Kirchen duldeten, muss die Kornmarktmadonna eine unerträglich Provokation gewesen sein

„O wenn wir wüssten, wie rein sie war“, seufzt Rilke.

Vielleicht ist es deshalb heute auch angeraten, beim Heidelberger Madonnenspaziergang ein kleines Bändchen voll sanfter Marien-Gedichte mit sich zu führen. Als Gegengewicht zur konfessionellen Propaganda. Rilkes „Marienleben“ beispielsweise. „O wenn wir wüssten, wie rein sie war. Hat eine Hirschkuh nicht, die einmal sie im Wald eräugte, sich so in sie versehn, dass sie mit ihr das Einhorn zeugte. Das Tier aus Licht, das reine Tier.“

Das göttliche Kind stößt dem gehörnten Teufel die Kreuzeslanze in den Hals.

Noch martalischer wird es am Richard-Hauser-Platz bei der Jesuitenkirche, ein paar Straßen weiter. Wo man heute Musikwissenschaft lehrt, lebte 1720 der Universitäts-Buchbinder Lörinck. Seine Hausmadonna übertrifft an „Expressivität“ und „Dynamik“ (Gercke) all ihre barocken Schwestern. Weil Maria und das Kind hier nicht gegen eine Schlange, sondern gegen eine riesenhaften Teufelsfratze kämpfen.

Das Jesuskind im Kampf
mit einer Teufelsfratze
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Mit Triumphgeschrei stößt das göttliche Kind dem gehörnten Beelzebub die Kreuzeslanze in den Hals. Während seine Mutter vor Stolz strahlt. „Der kämpferische Habitus diese Skulptur passt zum Selbstverständnis der Jesuiten“, findet Hans Gercke. „Sie verstanden sich als Soldaten Christi.“

In der Haupstraße 137 schreitet Maria selbst zum Vernichtungswerk. „Mit sicherem Tritt ihrer Sandale hält sie ein scheußliches Monstrum in Schach, während sie gleichzeitig ihr Kind leitet, das etwas unsicher auf der Weltkugel balanciert“, beschreibt Gercke.

Heidelbergs wertvollste Madonna schimmert ganz in Silber.

Wer jetzt eine kleine Verschnaufpause braucht, dem sei eine Stippvisite zur wertvollsten Marienfigur der Stadt empfohlen: Die Silbermadonna im Chorraum der Jesuitenkirche. Der Augsburger Goldschmied Joseph Ignatz Saller hat sie 1736 geschaffen. Auch die Silbermadonna tritt die Schlange mit den Füßen. Doch welch ein Unterschied. Im Gegensatz zu ihren Schwestern verliert sie dabei nichts von ihrer strahlenden Reinheit. Ja, man ist sogar geneigt zu glauben, dass die Muttergottes sich im nächsten Moment hinabbeugt, um das getretene Tier zu trösten.

Die kostbare Silbermadonna
in der Jesuitenkirche
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„Hättest du der Einfalt nicht, wie sollte dir geschehen, was jetzt die Nacht erhellt?“, dichtet Rainer-Maria Rilke. „Sieh, der Gott, der über Völkern grollte, macht sich mild und kommt in dir zur Welt. Hast du ihn dir größer vorgestellt?“

Hausmadonnen gibt es nur in der Altstadt.

Hans Gerckes „Madonnenführer“ ist ein akribisches Werk. Dem Kunsthistoriker entgeht nicht die kleinste Figur am Wegesrand. Beginnend am Burgweg unter dem Schloss arbeitet sich der Autor Gasse für Gasse vor bis zur Luisenstraße am Bismarckplatz. Ja, mehr noch. Gercke hat sogar die Stadtteile durchstreift, damit ihm auch in Handschuhsheim oder Rohrbach keine Maria durch entgeht. Die Madonnen draußen in den ehemaligen Dörfern stehen übrigens alle in Kirchen. Hausmadonnen gibt es nur in der Altstadt.

Die gotische Maria an
der Heiliggeistkirche
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Und auch hier sind leider nicht mehr alle Marien an ihrem angestammten Platz. Zwar ist Heidelberg nie wieder zerstört worden. Doch der Modernisierungswahn der 1970er Jahre hat auch vor der Muttergottes nicht halt gemacht.

Eine gotische Madonna hat den Bildersturm überlebt. Wie? Das weiß niemand.

Womit wir bei den Raritäten angekommen wären: Die wahrscheinlich älteste, ganz sicher aber die hübscheste Heidelberger Madonna stammt nicht aus dem Barock, sondern noch aus der Gotik. Man findet sie an der Außenseite der Sakristei der Heiliggeistkirche. Dort wo der Marktplatz in den Fischmarkt mündet. Wir sehen eine uralte, hauchzarte Mondsichelmadonna mit einem bildschönen Knaben auf dem Arm. Verglichen mit den kämpferischen Amazonen wirkt diese Maria wie ein sphärisches Traumbild. Wie das gotische Kleinod den radikalen calvinistischen Bildersturm überleben konnte, weiß niemand. „Vermutlich wurde das Bild übertüncht und später wieder freigelegt“, meint Hans Gercke.

Der gotische Madonnen-Schlussstein in Heiliggeist hat überlebt.

Mindestens ebenso rätselhaft ist es, dass im gotischen Gewölbe von Heiliggeist ein Madonnen-Schlussstein überlebt hat. Hat man ihn bei der calvinistischen Purifizierung übersehen? Oder bewusst belassen? Heute jedenfalls ist er eine nette Suchaufgabe.

Von mediterranem Stilempfinden zeugt eine sanfte Madonna am Marktplatz (Hauptstraße 198). Das Haus gehörte ab 1749 dem Italiener Carl Antoni Fantina, der in kurfürstlichen Diensten stand. Von kämpferischen Amazonen hielt Signore Fatina offensichtlich gar nichts. Seine Madonna ist rein, weiß und zart. Selbst die Schlange unter Marias Sandalen sieht aus, als sei sie sehr zufrieden mit ihrem Schicksal.

Der Jugendstil zeigt Maria elfengleich. Mit gesenktem Blick und offenen Händen. Umrankt von Rosen.

Die hauchzarte Jugenstil-Muttergottes ziert das Marienhaus.

Bleibt noch ein letzter kurzer Abstecher über den Bismarckplatz hinweg in die Luisenstraße. Hier am Nordeingang des Marienhauses, in dem einst Ordensschwestern lebten, finden wir Heidelbergs einzige Jugendstil-Madonna. Die hauchzarte Skulptur, 1927 geschaffen, ist wohl der größtdenkbare Gegensatz zur kriegerischen Kornmarktmadonna. Sanft, elfengleich, mit gesenktem Blick und weit ausgebreiteten Händen steht Maria da. „Offen für die von oben empfangen Gnade, die sie weitergibt an alle, die sich ihr zuwenden“, interpretiert Hans Gercke. Auch zu Füßen der Marienhaus-Madonna liegt die Schlange. Umhüllt von einem Bett aus Rosen.

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