Der Mensch redet gern und viel. Rund 16000 Worte spricht jeder von uns pro Tag, ermittelte kürzlich eine amerikanische Studie. Das sind fast sechs Millionen Wörter pro Jahr, eine halbe Milliarde in 80 Jahren. Einen Unterschied zwischen Frau und Mann in punkto Redefreudigkeit gibt es dabei übrigens nicht, sagt die Statistik. Wohl aber eine wachsende Sehnsucht nach Zeiten der Ruhe.
Um sich zu erholen vom Geplapper der Welt und vielleicht sogar zu dieser magischen Stille vorzudringen, von der die Mystiker berichten. „Wer es mit Gott zu tun hat, braucht zehn Dinge“, schreibt Professor Klaus Berger, der kürzlich verstorbene Heidelberger Theologe. „Einen Teil Einsamkeit und neun Teile Stille.“ Machen wir uns auf die Suche nach der Kraft des Schweigens. Jetzt, in der Fastenzeit.
„Wer noch keine Übung hat im Schweigen, wird zu Beginn nicht stiller sondern unruhiger.“
Der Weg in die Stille beginnt im Odenwald. Vierhundert Jahre lang stand in Schönau die bedeutendste Zisterzienserabtei der Region. Bis das Kloster 1558 von der Reformation aufgehoben wurde. Die Zisterzienser sind ein kontemplativer Orden, weshalb die Schönauer Mönche all ihre Tage in schweigendem Gebet verbrachten. Heute ist der größte Teil vom Kloster Schönau verschwunden, doch geschwiegen wird hier oben noch immer. Dafür sorgt Carmen Lenner.
Die katholische Gemeindereferentin lebt im Pfarrhaus gleich neben dem einstigen Refektorium der Mönche. Und sie begleitet Menschen, die zur Stille vordringen wollen. Was so einfach nicht ist. „Wer noch keine Übung hat, wird zu Beginn der Exerzitien meist nicht stiller sondern unruhiger“, berichtet Carmen Lenner. „Weil all jene Gedanken hochkommen, die schon lange darauf warten, dass sie wahrgenommen werden.“ Ängste und Verletzungen, Schuld und Trauer, Schmerz, Verlust, verpasste Chancen. „Im Schweigen gibt es keine Fluchtmöglichkeit mehr vor diesen Gefühlen“, sagt die Exerzitienbegleiterin. „Ich muss mich aushalten mit allem, was ich bin.“
„Wir Menschen sind viel zu schnell dabei, Antworten zu finden, weil uns das Aushalten der Frage zu anstrengend ist.“
Verena Mätzke ist evangelische Pfarrerin in der Medizinischen Klinik von Heidelberg draußen im Neuenheimer Feld. Das ist ein harter Job, weil hier oft Patienten eingeliefert werden, die eine schlechte Prognose haben. Darunter sind auch junge Menschen. Was sagt man ihnen? „Gar nichts“, antwortet Pfarrerin Mätzke. „Man ist nur da und hört zu.“ Offen, unaufdringlich, oft stundenlang.
„Schweigendes Mitsein“ nennt die Klinikpfarrerin ihre stille Tätigkeit, die viel Empathie und Geduld braucht. Die Hoheit über den Verlauf des Gesprächs nämlich behält immer der Patient. Wenn er schweigen möchte, schweigt Mätzke mit. Wenn der Patient sprechen möchte, hört Mätzke schweigend zu.
„Wir Menschen sind viel zu schnell dabei, rasche Antworten zu finden, weil uns das Aushalten von offenen Fragen zu anstrengend ist“, weiß die Klinikseelsorgerin. „Dabei hilft man einem anderen Menschen viel mehr, wenn man ihm einfach nur zuhört.“ Ohne zu unterbrechen. Ohne den eigenen Senf dazu zu geben. Oder gar Ratschläge zu erteilen. „Ich empfände es als Untreue gegenüber meinen schwerkranken Patienten, wenn ich versuchen würde, ihre Situation schönzureden.“
Es gibt aber auch das strafende Schweigen, das unendlich verletzen kann.
Marita Rödszus-Hecker war ebenfalls lange Jahre Klinikpfarrerin. Jetzt im Ruhestand, widmet sie sich der Literatur, die letztendlich auch immer um die Befindlichkeit der Seele kreist. „Keine menschliche Äußerung hat so viele verschiedene Facetten wie das Schweigen“, staunt Rödszus-Hecker.
Da ist das aufatmende Schweigen, wenn Besuch da war, und man die Wohnung endlich wieder für sich hat. Oder die wortlose Vertrautheit in einer langen Ehe. Wenn man am Abend schweigend zusammen auf dem Balkon sitzt.
„Es gibt aber auch dieses strafende Schweigen, das unendlich verletzen kann“, überlegt die Heidelberger Pfarrerin. Wenn jemand plötzlich kein Wort mehr mit einem spricht. Oft Tage lang. „Das finde ich sehr hart. Wenn man mit jemanden reden will, und der antwortet einfach nicht.“
„Im Schweigen steht die Zeit still“, schreibt Professor Klaus Berger, der Heidelberger Theologe: „Man lässt sich nicht mehr ablenken von den Zahlen, mit denen man die Minuten und Stunden zählt. Sie sind nur Oberfläche. Das Schweigen hingegen erfasst die Tiefe des Geschehens.“
Stille kann nur wirken, wenn man ihr genügend Zeit lässt.
Stille kann nur wirken, wenn man ihr genügend Zeit lässt, weiß Carmen Lenner, die Exerzitienbegleiterin aus Schönau. Mal eben zehn Minuten schweigen, bringt gar nichts. „Ein halbe Stunde am Tag ist eine gute Ausgangsposition. Eine ganze Stunde ist besser.“ Möglichst immer zur gleichen Zeit. Wer nämlich keinen festen Zeitpunkt für das Stillsein einplant, wird es immer wieder verschieben und am Ende aufgeben.
„Ich finde, dass es auch gut ist, wenn man zum Schweigen einen festen Platz hat“, rät die katholische Gemeindereferentin. Vielleicht wolle man diesen speziellen Ort ja sogar ein wenig gestalten. „Mit einer Kerze, einer Blume oder einem Kreuz.“ Und dann? „Dann sitzt man und schweigt“, lächelt Lenner. Man nimmt seinen Körper wahr. Den Atem. Das Einatmen. Das Ausatmen. Die Pause dazwischen .…
Unser Gehirn mag so viel Einförmigkeit übrigens gar nicht. Sobald die äußeren Reize fehlen, liefert es sofort eine verführerische Ladung ungelöster Probleme: Der Ärger mit dem Chef, der nächste Termin, die Sorge um die Tochter … „Wenn man feststellt, dass man schon wieder am Grübeln ist“, sagt Carmen Lenner, „holt man sich freundlich zurück. Und konzentriert sich wieder auf den Atem.“
Wer schweigt, verwandelt sich in einen Resonanzraum für sein Gegenüber. Eine Art Spiegel.
Das stille Sitzen am Krankenbett fühlt sich im ersten Moment so an, als würde man gar nichts tun, gesteht Verena Mätzke, die Klinikseelsorgerin. Dabei habe sie natürlich „total den Drang, den Patienten zu helfen.“ Doch weil das oft nicht möglich ist, bleibe ihr nur das Mitaushalten. Wer schweigt, sagt die Pfarrerin, verwandelt sie sich in einen Resonanzraum für sein Gegenüber. Eine Art Spiegel. „Das findet man heute nur noch selten, weil der moderne Menschen dazu neigt, fortwährend über sich selbst zu reden.“
Einmal in ihrem Leben habe sie an einer Schweigemeditation teilgenommen, erinnert sich Marita Rödszus-Hecker, die Heidelberger Pfarrerin im Ruhestand. Das war in einer Freiburger Kirche. „Da ich eher der quirlige Typ bin, hatte ich vor dieser Aktion ziemlichen Respekt“, gesteht Rödszus-Hecker. Doch es wurde ein unvergessliches Erlebnis. „Der Raum war völlig leer“, berichtet die Theologin. „Es gab nur den Altar, ein paar Kissen und eine Klangschale, die alle zehn Minuten geschlagen wurde.“ Dann standen die Teilnehmer auf, schritten langsam einmal um den Altar, setzten sich wieder und schwiegen weiter. „Danach habe mich gefühlt wie frisch durchgespült“, schwärmt Marita Rödszus-Hecker.“
Sie habe sich oft gefragt, fährt die Pfarrerin fort, warum sie diese völlige innere Ruhe nirgendwo anders wiederfinden konnte. Noch nicht einmal auf ihren einsamen Waldspaziergängen. „Da fühlt sich das Schweigen ganz anders an.“ Eventuell, überlegt Marita Rödszus-Hecker, verstärke sich die Stille ja, wenn mehrere Menschen gemeinsam schweigen. Oder es gebe im Wald einfach zu viele optische Reize, die ablenken. Da rascheln die Bäume, das singen die Vögel, da huscht eine Eidechse.
„Wenn man Schweigen mutig aushält, entsteht daraus irgendwann ein Dialog mit Gott.“
„Wer vor Gott schweigt, ehrt ihn“, schreibt der verstorbene Theologe Klaus Berger. „Denn er läuft nicht Gefahr, Gott ins Wort zu fallen.“ Die Mönche der großen Schweigeorden hätten schon immer gewusst, dass angesichts der Hoheit Gottes jedes menschliche Wort verstummen muss. „Wenn man diese Schweigen mutig aushält, entsteht daraus irgendwann ein Dialog mit Gott.“
Die Stille ist immer da. Sagt Carmen Lenner, die Exerzitienbegleiterin, deren Schönauer Pfarrhaus direkt an der vielbefahrenen Durchgangsstraße von Neckargemünd nach Neckarsteinach liegt. „Aber wir nehmen ihr Angebot nur wiederstrebend wahr.“ Weil es anstrengend ist, sich den Fragen zu stellen, die das Schweigen hochkommen lässt. Weil dann Verletzungen wieder aufbrechen, Trauer, Angst oder Scham gefühlt wird. „Es braucht Mut, sich mit all dieser Unfertigkeit Gott hinzuhalten. Und es braucht das feste Vertrauen, dass Gottes erlösende und heilenden Kraft größer ist all mein Schmerz.“
Und dann gibt es natürlich auch noch das Schweigen der Erschütterung, das vollkommen sprachlos macht. Überlegt Verena Mätzke. Wenn jemand eine sehr schlechte Nachricht bekommen hat, und automatisch verstummt. Weil man beim besten Willen nicht weiß, was man sagen soll. „Ich rufe mir dann immer die Reaktion der drei Freunde von Hiob in Erinnerung“, verrät Verena Mätzke, die Klinikseelsorgerin.
Wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist, beginnen alle Menschen zu reden. Und dann gilt es, so still wie eine Klagemauer zuzuhören.
Das Buch Hiob ist das mysteriöseste des Alten Testaments. Aber es ist vielleicht auch das ehrlichste. Hiob war ein braver Mann, der es zu großen Wohlstand gebracht hatte. Trotzdem nahm ihm Gott mit einem Schlag alles. Hiobs Viehherden verendeten, seine zehn Kinder starben, das große Haus stürzte ein, und überall auf Hiobs Körper bilden ich sich eiternde Ekzeme. Das Leben ist nicht gerecht. Im Alten Testament nicht, in der Ukraine nicht, in Israel nicht, in der Medizinischen Klinik im Neuenheimer Feld nicht. „Das einzige, was man in solchen verzweifelten Situationen für die Menschen tun kann, ist mit ihnen auszuhalten und zu schweigen“, sagt Verena Mätzke. Und genau das tun auch die drei Freunde von Hiob. Sie setzen sich wortlos zu ihm in den Schmutz und schweigen. Sieben Tage lang.
Das half. Durch das „unterstützende Schweigen“ (Mätzke) bricht Hiobs Verzweiflung auf und er findet die Kraft, sein Leid zu klagen. Vielleicht ein Anfang. „Als Klinikpfarrerin hatte ich immer Angst, dass die Menschen sich nicht öffnen, wenn ich schweige“, erinnert sich Marita Rödszus-Hecker. Diese Angst sei völlig unbegründet gewesen. „Wenn der richtige Zeitpunkt für ihn gekommen ist, beginnen alle Menschen zu reden.“ Und dann gelte es, so „still wie eine Klagemauer“ zuzuhören.