Egal von welcher Seite man sich dem Kloster Waghäusel nähert, es ist immer ein Schock. Kommt man von der Autobahn, scheinen die Kühltürme des Atommeilers Philippsburg mitten im Klostergarten zu stehen. Der Fußweg vom Bahnhof führt durch eine Industriebrache voll von rostigen Relikten eines ehemaligen Südzucker-Werks. Monastische Idylle sieht anders aus. Trotzdem sind Auszeiten im Kloster Waghäusel gefragt wie nie zuvor.
„Inzwischen kommen wir oft an die Grenzen unserer Kapazität“, sagt Pater Robert-Maria Weinkötz von der Kongregation der „Brüder vom gemeinsamen Leben.“ Schweigen ist angesagt, Kontemplation boomt. Eine Gebrauchsanweisung für das Stillwerden.
Die beschleunigte Welt entdeckt die Wohltat des Schweigens
Die Urkirche hat das, was bei den Protestanten Passions- und bei den Katholiken Fastenzeit heißt, einfach „Quadragesima“ genannt. Die Zeit der vierzig Tage. Vierzig Jahre wanderte das Volk Israel durch die Wüste, ehe es das gelobte Land erreichte. Vierzig Tage sprach Moses auf dem Berg Horeb mit Gott, ehe er die zehn Gebote empfing. Vierzig Tage fastete Jesus in der Wüste, ehe er mit der Verkündigung des Reiches Gottes begann. Vierzig Tage lang verzichteten die Christen früher auf Fleisch, Milch, Eier und Alkohol, ehe sie Ostern feierten.
Heute im Zeitalter des ganzjährigen Kalorienzählens geht es in der Fastenzeit immer seltener um den Verzicht auf Nahrung. Stattdessen entdecken viele Christen, erschöpft von der beschleunigten Welt, die Wohltat des Schweigens. Exerzitien heißt das neue Zauberwort. Kein Handy, kein Computer, kein Buch, keine Zeitung, noch nicht einmal ein Gespräch. Nur Stille. Vollkommene Konzentration auf sich selbst und auf Gott. „Die Kirche hat eine größere Weite des Fastens entdeckt“, freut sich Alexander Czech, katholischer Pfarrer in Heidelberg. „Stille ist in unserer Gesellschaft ein bedrohtes Gut.“
Doch Vorsicht: Schweigen ist nicht einfach. „Wenn man still wird, wird es erst einmal laut in einem“, weiß Pfarrer Czech. Man fühlt sich unbehaglich, wird zappelig, spürt den Drang, die Situation zu beenden. Stille auszuhalten muss man ebenso mühsam trainieren wie Schwimmen und Fahrrad fahren. Nicht umsonst nannte Ignatius von Loyola, der Gründer des Jesuitenordens, die stille Begegnung mit Gott ein „exercitium“, eine „Übung“. Pfarrer Czech hält deshalb nicht viel davon, sich in der Fastenzeit einfach für eine Woche in einem Kloster einzubuchen. „Das“, sagt Czech, „ist eher etwas für Fortgeschrittene.“
Was sehe ich? Was höre ich? Wie fühlt sich die Luft an?
Neulinge in Sachen Stille sollten mit kleinen, überschaubaren Übungen beginnen. „Es reicht schon, auf die Kaffeepause zu verzichten und stattdessen einen Spaziergang um den Block zu machen“, meint Alexander Czech. Ohne Begleitung und Handy, versteht sich. Die erste Aufgabe für Neu-Schweiger nämlich lautet: „Ins Wahrnehmen kommen“. Was höre ich? Was sehe ich? Wie fühlt sich die Luft an? Wie riecht sie? Wie ist der Untergrund beschaffen, auf dem ich gehe?
So simpel sich solche Wahrnehmungsübungen auf dem Papier ausnehmen, so schwer tun sich die meisten Menschen mit der konkreten Umsetzung. „Man fällt dauernd ins Denken zurück“, weiß der Mannheimer Jesuit und Exerzitienbegleiter Pater Andreas Leblang. Die rationale Analyse aber ist der natürliche Feind der Kontemplation. Weil das Denken vom Hier und Jetzt ablenkt, in dem allein der Mensch zu sich – und zu Gott – finden kann. „Die Gegenwart ist der Punkt, an dem sich Zeit und Ewigkeit berühren“, definiert Pater Leblang. „Wenn ich ganz gegenwärtig bin, treffe ich auf Gott und werde umhüllt von seiner Ewigkeit.“
„In der Stille meldet sich das, was wichtig ist von selbst“
Pater Leblang erzählt bei seinen Einführungen in die ignatischen Exerzitien gern eine alte Geschichte aus dem Zen-Buddhismus: Die Schüler fragten ihren Meister, wie er es schafft, stets zufrieden und ausgeglichen zu sein. Der Meister antwortete: „Wenn ich schlafe, dann schlafe ich. Wenn ich gehe, dann gehe ich. Und wenn ich esse, dann esse ich.“ Die Schüler waren verblüfft. „Aber all das tun wir doch auch.“
Da lächelte der Meister und schüttelte langsam den Kopf. „Wenn ihr schlaft, denkt ihr schon ans Aufstehen. Während ihr aufsteht, überlegt ihr, wohin ihr geht. Und während ihr geht, fragt ihr Euch, was ihr essen werdet.“ Vier Wochen dauern die großen Exerzitien des Ignatius von Loyola. Vier Wochen schweigen, beten, meditieren, spazieren gehen, schlafen und Gottesdienst. Das ist die hohe Kunst des Stillwerdens.
Für die Fastenzeit eignen sich eher die abgespeckten Formen der ignatischen Übungen, die „Exerzitien im Alltag“. Jeden Tag eine halbe Stunde Stille halten erwartet Pater Leblang von den Teilnehmern seiner Gruppe. Wobei die Wahrnehmungsübungen von Woche zu Woche anspruchsvoller werden. Auf die Wiederentdeckung der Sinne, folgt das Betrachten von Bibelstellen und schließlich das der eigenen Biographie. Auch hier gilt: Den Verstand ausschalten und einfach abwarten. Leblang: „In der Stille meldet sich das, was wichtig ist, von selbst.“
Das übliche Kloster-Idyll sucht man in Waghäusel vergeblich
Womit wir endlich im Kloster angekommen wären. Waghäusel. „Die übliche Vorstellung von ländlicher Idylle ist hier nicht möglich“, heißt es im Prospekt des kleinen Klosters. „Wallfahrt, Kirche und Kloster müssen sich gegen die unmittelbare Nähe von Industrie und beschleunigtem Verkehr behaupten.“ Das klingt nicht wirklich nach einem Platz für Stillesucher. Umso größer ist die Überraschung vor Ort. Sowohl von der Wallfahrtskirche wie auch vom Kloster geht eine starke geistliche Ausstrahlung aus. Durchbetete Mauern, die innere Ruhe und Gefasstheit verströmen.
1473 wurde am Ufer des Wagbachs die erste Kapelle für das nur 40 Zentimeter große Gnadenbild der „Mutter mit dem gütigen Herzen“ errichtet. 350 Jahre lang betreute der Kapuzinerorden die Wallfahrt. 1999 kamen die „Brüder vom gemeinsamen Leben“ nach Waghäusel. Das ist eine Priestergemeinschaft, die zum Orden der Augustiner-Chorherren gehört. Fünf Mönche leben derzeit im Kloster, das sich als „offenes Haus“ definiert. „Es ist eine Grundregel unserer Kongregation, dass wir unser Leben für Menschen öffnen, die mit uns leben möchten“, erklärt Pater Robert-Maria Weinkötz. Und das möchten etliche.
Zur Mittagszeit versammeln sich nie weniger als zehn Menschen im schlichten Refektorium. Meist sind es deutlich mehr. „Wir sind dankbar für die vielen ehrenamtlichen Helfer, ohne die wir unsere Aufgaben nicht erfüllen könnten“, sagt Pater Robert-Maria. Das Kloster Waghäusel lebt weitgehend von Spenden. Womit nicht unbedingt Geld gemeint ist, Zucchini werden auch gern genommen. „Im Sommer erhalten wir kistenweise Obst und Gemüse aus den Gärten in den umliegenden Gemeinden“, freut sich Pater Robert-Maria. Auch die Möbel in den Gästezimmern stammen aus Nachlässen.
Ausgearbeitete Exerzitienangebote gibt es nicht
Acht Zimmer mit insgesamt 15 Betten stehen derzeit in Waghäusel für Gäste bereit. Sie sind alle sehr einfach, zweckmäßig und peinlich sauber. Ein schmales Bett, ein Schrank, ein Tisch, ein Stuhl, ein kleines Badezimmer. Einziger Luxus: Das Kloster verfügt über W-Lan, so dass theoretisch mit einem Laptop im Internet surfen könnte. Theoretisch. Praktisch nutzen die wenigsten Gäste diesen Service. „Wer hierher kommt“, sagt Pater Robert-Maria, „sucht einen geschützten Rahmen, um eine stille Zeit mit Gott zu verbringen.“
Ausgearbeitete Exerzitienangebote offeriert das Kloster Waghäusel nicht. Die Gäste wählen die Texte, über die sie meditieren wollen, eigenständig aus. Drei bis vier Mal am Tag laden die Mönche zum gemeinsamen Stundengebet. Morgens und abends wird in der Wallfahrtskirche Eucharistie gefeiert. Bei Bedarf fungiert einer der Patres als „geistlicher Begleiter“, sprich: als regelmäßiger Gesprächspartner. „In der Stille lerne ich, mein Leben mit den Augen Gottes zu betrachten und mir den Weg weisen zu lassen“, definiert Pater Robert-Maria Weinkötz. „Ich rate immer dazu, alles aufzuschreiben. Da kommt manches.“
„Gebrochene Beziehungen heilen in der Gemeinschaft“
Mindestens vier bis fünf Tage, meint der Wallfahrtsrektor des Klosters Waghäusel, brauchen selbst Geübte, um sich auf den Schweigemodus umzustellen. Auf Spaziergänge in unberührter Landschaft müssen die Gäste im Kloster Waghäusel übrigens trotzt Atomkraftwerk und Schnellstraße nicht verzichten. Gleich nördlich des Klosters erstreckt sich die Seenplatte des Naturschutzgebiets „Wagbachniederung“, ein Dorado für seltene Vögel.
Im Herbst 2014, schätzen die „Brüder vom gemeinsamen Leben“, wird das neue Gästehaus des Klosters fertiggestellt sein. Dann geht es darum, den größten Traum der Brüder von Waghäusel in Angriff zu nehmen: Ein „Haus der Nächstenliebe“, in dem Menschen jeden Alters und mit den unterschiedlichsten Lebensgeschichten wie eine Familie zusammenleben. Das können Jugendliche sein mit Drogenvergangenheit, Alleinerziehende, Verlassene, einsame ältere Menschen, aber auch junge Paare mit Kindern. „Gebrochene Beziehungen heilen in einer verlässlichen Gemeinschaft“, weiß Pater Robert-Maria.
Als Bauplatz für das „Haus der Nächstenliebe“ konnten der Konvent bereits ein Stück Industriebrache erwerben, das an den Klostergarten angrenzt. Jetzt hoffen die Waghäusler Brüder auf großzügige Spender. „Für das Haus brauchen wir mindestens 1,5 Millionen Euro.“