Die jüngste Statistik muss ein Schock für die beiden großen Kirchen gewesen sein. Denn zum ersten Mal ist die Zahl der Christen in Deutschland unter die Fünfzig-Prozent-Marke gefallen. Die Gründe sind bekannt. Ideen, wie der Trend umgekehrt werden könnte, rar.
Die jüngste Statistik muss ein Schock für die beiden großen Kirchen gewesen sein. Denn zum ersten Mal ist die Zahl der Christen in Deutschland unter die 50-Prozent-Marke gefallen. Die Gründe sind bekannt. Ideen, wie der Trend umgekehrt werden könnte, sind rar.
Von evangelischer Seite hört man oft die Formel: „Weihnachten gut machen, und die Kasualien gut machen“. Also Hochzeiten, Taufen, Beerdigungen. Das Erzbistum Freiburg setzt auf eine gigantische Verwaltungsreform: Alle Arbeiten, die nichts mit Glauben oder Menschen zu tun haben, werden an Kaufleute delegiert. Und mittendrin in all diesen Umwälzungen wächst eine Generation von jungen Pfarrerinnen und Pfarrern heran, die wissen, dass sie nicht mehr mit vollen Kirchen und Kassen rechnen können. Wie geht man damit um? Zwei Beispiele.
„Ich träume von einem Leben, in dem ich vielen Menschen begegne, um über meinen Glauben zu sprechen.“
Veronika Kurlberg ist 32, dreifache Mutter und schon viel herumgekommen in der Welt. Von Lörrach ging’s zum Theologie-Studium nach Tübingen, dann weiter nach Berlin. Bei einem Auslandssemester in Kopenhagen hat sie ihren Mann kennengelernt. Er ist Schwede. Zum Abschluss des Studiums übersiedelte die junge Familie nach Heidelberg.
Derzeit mischt Veronika Kurlberg als Lehrvikarin die Bonhoeffer-Gemeinde in Heidelberg-Kirchheim auf. Ihre Markenzeichen sind ein knallroter Lippenstift und ein unendlicher Fundus von neuen Ideen. Meist hat sie mehr davon, als sie einem Redebeitrag unterbringen kann. Weshalb Kurlberg ziemlich schnell spricht. „Ich würde mich selbst als gläubige Christin bezeichnen“, sprudelt die Heidelberger Vikarin los. „Deshalb wollte ich eigentlich schon immer in der Kirche arbeiten.“
Zielstrebig entschied sie sich für ein Gymnasium, in dem Latein und Griechisch angeboten wurden. In der Konfirmandenarbeit und bei Jugendfreizeiten engagierte sich Veronika Kurlberg als Teamerin. „Ich träume von einem Leben, in dem ich vielen Menschen begegne, um mit ihnen über den Glauben zu sprechen.“
Die Krise der Badischen Landeskirche findet die Vikarin „spannend“. Weil nun neue Wege erprobt werden müssen.
Die momentanen Umwälzungen in der evangelischen Landeskirche von Baden, die aus dem Mitgliederschwund und den leeren Kassen resultieren, findet Veronika Kurlberg „spannend“. Weil man jetzt die eingefahrenen Wege verlassen und Althergebrachtes durch Neuzuerfindendes ersetzen muss.
„Das ist eine Zeit, in der ich als Pfarrerin viele Möglichkeiten habe, etwas zu verändern.“ Der theologische Nachwuchs werde heute nicht mehr in fertige Strukturen gezwängt, sondern könne sein Umfeld weitgehend selbst gestalten, sagt die 32-Jährige. „Ich glaube, so viel Freiheit hatte man als Pfarrerin noch nie.“
Im Januar 2026 tritt die große Strukturreform der Erzdiözese Freiburg in Kraft: Die Pfarrei „Kraichgau“ misst dann 50 Kilometer im Durchmesser.
Lukas Biermayer ist 36, wirkt aber jünger. Vielleicht wegen seiner Wuschellocken und der legeren Kleidung. Seit Juni letzten Jahres kümmert sich der katholische Pfarrer um die rund 7900 Katholiken der Seelsorgeeinheit Bad Rappenau. „Ich stamme aus Seckach im Odenwald und freue mich, dass ich jetzt wieder näher bei meiner Familie bin“, sagt Biermayer. Seine Vikarsjahre hat der junge Priester in Offenburg und am Bodensee verbracht.
Doch Lukas Biermayers Tage als leitender Pfarrer in Bad Rappenau sind gezählt. Am 1. Januar 2026 tritt die große Strukturreform der Erzdiözese Freiburg in Kraft. Bad Rappenau ist dann Teil der riesigen Pfarrei „Kraichgau“, die von Neckargemünd bis Eppingen reicht. Dazwischen liegen 50 Kilometer. „Ich gehe momentan davon aus, dass ich auch nach dem Zusammenschluss in Bad Rappenau bleiben kann“, sagt Pfarrer Biermayer. Dann als Kooperator. „Aber hundertprozentig sicher ist das noch nicht.“
1.036.000 Mitglieder zählte die Badische Landeskirche Ende 2022. Das waren 22149 Gläubige weniger als im Vorjahr. Im Erzbistum Freiburg lebten im gleichen Zeitraum 1,65 Millionen Katholiken. Das ist ein Minus von rund 42000 Gläubigen. Ein Erdrutsch. 360 Priester wirken in den Seelsorgeeinheiten des Erzbistums. Am Freiburger Priesterseminar studieren derzeit aber nur noch 22 junge Männer.
„Wer vor schwierigen Entscheidungen steht, muss nach Taizé fahren. Dort hört man Gott deutlicher.“
Auch Lukas Biermayer hat lange überlegt, ob er sich wirklich zum Priester berufen fühlt. Zwar war er in seiner Jugend mit Begeisterung Oberministrant und Gruppenleiter. Aber als nach dem Abitur die Frage konkret wurde, hat er gezögert. „Es sind ja schon einige Sachen mit dieser Entscheidung verbunden.“ Um sich über sich selbst klar zu werden, sagt Biermayer, gibt es keinen besseren Ort auf der Welt als Taizé im Burgund. Weil man „Gott dort viel deutlicher hört als anderswo“. 2018 wurde Lukas Biermayer zum Priester geweiht.
Im Grunde genommen, überlegt der Bad Rappenauer Pfarrer, käme ihm die Strukturreform des Erzbistums sehr gelegen. „Denn eigentlich ist es vor allem eine Neuorganisation der Verwaltung.“ Er persönlich habe nichts dagegen, wenn all das Papier künftig bei den Kaufleuten landet. Im Gegenteil. Für ihn als Pfarrer sei das eine große Erleichterung. „Ich bin ja Priester geworden, um für Gott und die Menschen da zu sein, um Gottesdienste zu feiern und Sakramente zu spenden.“ Das will er künftig ausschließlich und mit vollem Herzen tun. Eucharistie. Taufe. Hochzeit. Firmung. Beerdigung. Krankensalbung. Ostern, Pfingsten, Weihnachten … „Mir wird die Arbeit nie ausgehen.“
Die klassische Sonntagspredigt ist passé. Stattdessen gibt es jetzt Podcast & Co.
Die Evangelische Landeskirche ist derzeit auch dabei, ihre Gemeinden in großen „Kooperationsräumen“ zusammenzufassen. Was Veronika Kurlberg sehr begrüßt. Weil sie dadurch die Möglichkeit hat, im Teamwork mit Kollegen völlig neue Formate zu entwickeln.
Denn mit dem klassischen Sonntags-Gottesdienst um 10 Uhr erreicht man heute nur noch eine kleine Zahl von Menschen. „Wir leben in einer Zeit, wo wir die Möglichkeiten haben, den Pfarrberuf so auszuüben, wie wir Lust darauf haben.“
Das derzeitige Lieblingsthema der jungen Vikarin ist der „Predigt-Podcast“. Eine neue Form von Verkündigung im Dialog, die Kurlberg aus dem Internet in die Realität überführen will. „Der Podcast nähert sich seinem Thema im Gespräch an“, erklärt die Vikarin.
Zwei oder mehr Menschen unterhalten sich über ein Thema, zu dem sie unterschiedliche Ansichten haben. Das ist spannend fürs Publikum – in diesem Fall die Gemeinde -, lässt Vielfalt zu und passt perfekt in die heutige Welt. Veronika Kurlberg: „Manchmal denke ich, es könnte mein Lebensprojekt sein, die liturgischen Elemente so zu übersetzen, dass auch junge Leute ihre Relevanz wieder verstehen.“
Die Evangelische Kirche drängt es mit Macht aus den Kirchen hinaus. Dorthin, wo die Leute sind.
24000 katholische Kirchen gibt es in Deutschland, 22800 davon stehen unter Denkmalschutz. Die evangelische Kirche verfügt über rund 20000 Gotteshäuser, davon sind 17000 geschützt. „Jede Kirche verbindet den Himmel mit der Erde“, hat der ehemalige EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber immer gesagt. „In ihr begegnen sich Gott und Welt.“ So wahr diese Sätze auch sein mögen, sie stammen aus einer vergangenen Epoche.
Heute wird der riesige Immobilienbestand immer öfter als Last empfunden. Vor allem die Evangelische Kirche drängt es mit Macht aus den Gotteshäusern hinaus auf die Straßen und Plätze. Dorthin, wo die Leute sind. „Viele Menschen haben heute hohe Ansprüche, wie sie ihr Leben gestalten. Sie suchen außeralltägliche Erlebnisse“, steht in den „Zwölf Leitsätzen zur Zukunft“, die die EKD 2020 veröffentlich hat. „Wir als Kirche werden mutiger unterscheiden müssen: Wo wird die Präsenz unserer Botschaft in der Gesellschaft spürbar? Und wo nicht?“
Veronika Kurlberg hört das mit Begeisterung. In Berlin, erzählt sie mit leuchtenden Augen, gibt es schon Pfarrerinnen, die den ganzen Tag nur damit beschäftigt sind, Gottes Segen zu den Menschen zu bringen. Was hocherfreut angenommen wird. Ähnliche Konzepte existieren auch für evangelische Trauungen und Taufen. Sie werden inzwischen praktisch überall vollzogen. Je niederschwelliger oder exotischer die Location, desto begieriger wird das Angebot angenommen.
„Ich kann den Menschen den Glauben nicht aufzwingen“, sagt die Vikarin aus Kirchheim. „Aber ich kann als Pfarrerin sichtbar sein, ich kann präsent sein. Dann kommen die Menschen schon.“ Sie sei immer wieder erstaunt, wieviel Vertrauen ihr selbst wildfremde Menschen entgegenbringen, sagt Kurlberg. „Als Pfarrerin ist man sehr nah dran an der ganzen Vielfalt des Lebens.“
Die Gläubigen leben heute weit verstreut in der Fläche. Wer sie anlocken will, braucht attraktive Ideen.
Lukas Biermayer, der katholische Pfarrer von Bad Rappenau, freut sich schon auf die Zeit, wenn er keine Pfarrei mehr leiten muss. Weil er dann endlich nur noch das machen darf, wozu er sich berufen fühlt: Bindeglied zu sein zwischen Gott und den Menschen.
In einer Zeit rasant zunehmender Vereinzelung sei diese Aufgabe wichtiger als je zuvor. Sagt der junge Pfarrer. „Es gibt noch immer Jugendliche und Familien, die sich gern in der Kirche engagieren würden. Aber sie leben heute weit verstreut in der Fläche.“ Deshalb gelte es attraktive Angebote mit Sogkraft zu entwickeln.
Das derzeit beste Beispiel hierfür ist das „Abenteuerland“. Ein Sonntag nur für junge Familien, der im Erzbistum Freiburg derzeit boomt wie keine zweite Gottesdienstform. Man betet zusammen, singt zusammen, spielt zusammen, isst zusammen, lacht zusammen. Und das alles in unserem Fall um die katholische Kirche von Kirchardt herum. „Das ist ein sehr aufwendiges Projekt“, sagt Pfarrer Biermayer. „Dazu braucht man viele helfende Hände.“ Was an jedem Sonntag natürlich nicht zu stemmen ist. „Wir haben in Kirchardt jetzt erst einmal vier Termine festgelegt. Danach sehen wir weiter.“
„Jede Jugend sucht ja das Ungewöhnliche, das radikal Andere. Vielleicht ist das die Spur.“
Er selbst, verrät Lukas Biermayer, habe sich vorgenommen, sehr viel mehr nach der Jugend zu schauen, sobald er keine Verwaltungsaufgaben mehr erledigen muss. Erstaunlicherweise will er dann das T-Shirt gegen ein Priester-Hemd mit Collarkragen eintauschen. Um sofort als Gottesmann erkannt zu werden. Was in unserer Gesellschaft ja inzwischen schon als ein Form von Radikalität wahrgenommen wird.
Womit wir wieder bei den biblischen Wurzeln angekommen wären. Niemand habe seinen Glauben radikaler gelebt als Jesus Christus, sagt Lukas Biermayer. Gerade deshalb könne er für die Jugend wieder interessant sein. „Überall, wo ich mit Menschen über meinen Glauben spreche, erhalte ich eine positive Resonanz. Vielleicht ist das die Spur. Jede Jugend sucht ja das Ungewöhnliche, das radikal Andere.“