Wilhelmsfeld ist überall

Weil die Badische Landeskirche sparen muss, gibt es in Wilhelmsfeld keinen Pfarrer mehr.

Die Straße steigt steil hinan. Mit jeder Serpentine wird die Welt wilder. Die knorrige Eichen scheinen Augen zu haben, und die hüfthohe Farne könnten noch aus dem Pliozän stammen. Dann endlich die Hochfläche. Der Weg macht eine scharfe Kehre und fällt fast senkrecht hinab zum neugotischen Kirchlein von Wilhelmsfeld.

Es liegt idyllisch eingebettet zwischen Schafweiden und evangelischem Pfarrhaus. Hier wohnt noch immer Silke Dangel mit ihrer Familie, obwohl sie nicht mehr die Pfarrerin von Wilhelmsfeld ist. Weil die Badische Landeskirche sparen muss, gehört das Bergdorf ab sofort zum „Kooperationsraum Steinachtal“ und wird von den Pfarrern aus Schönau und Heiligkreuzsteinach betreut. 30 Prozent der Ausgaben sollen durch solche Großgemeinden eingespart werden. Ein Ausflug in die evangelische Zukunft.

„Die Umstrukturierung hat uns kalt erwischt“, sagt die ehemalige Pfarrerin Silke Dangel.

Jeder Kirchenbezirk muss die Gebäude um 30 Prozent reduzieren und auf ein Drittel des Personals verzichten.

27218 Menschen haben der Landeskirche von Baden im Jahr 2022 den Rücken gekehrt. Das ist die Einwohnerschaft einer Mittelstadt in der Größe von Wiesloch. Entsprechend dramatisch fiel die Reaktion des Oberkirchenrats in Karlsruhe aus. Von heute auf morgen verhängte er einen Baustopp.

Dann folgte „Ekiba2032“, der Überlebensplan. Jeder Kirchenbezirk muss bis Ende 2023 mitteilen, wie er seinen Gebäudebestand um 30 Prozent reduzieren und auf ein Drittel seines Personals verzichten will. Das fühlt sich an, als ob man von einer vierköpfigen Familie verlangte, künftig nur noch in zwei Zimmern zu leben statt wie bisher in drei. Wie soll man das hinkriegen?

„Wir waren auf in Wilhelmsfeld einem Superweg. Und plötzlich war alles Makulatur.“

Wilhelmsfeld liegt mittendrin im Odenwald auf fast 500 Metern Höhe.

„Die Umstrukturierung ging direkt nach der Pandemie los und hat uns eiskalt erwischt“, erinnert sich Silke Dangel. Die promovierte Theologin leitet jetzt als stellvertretende Dekanin den Kirchenbezirk Neckargemünd-Eberbach. Und ist die Schuldekanin. Die Stelle des Dekans ist vakant.

Die Gemeinde in Wilhelmsfeld, erzählt Dangel, hatte sich damals gerade neu aufgestellt. Mit vielen jungen Familien, vielen Konfirmanden und vielen Ideen. „Wir waren auf einem Superweg. Und plötzlich war alles Makulatur. “ Weil schnell klar war, dass es in Wilhelmsfeld künftig keinen evangelischen Pfarrer mehr geben wird. Zum ersten Mal seit mehr als 150 Jahren.

Weil die Industrie weit weg ist und Hitzetage praktisch nie vorkommen, darf sich Wilhelmsfeld „Luftkurort“ nennen.

In den 1960-Jahren war das Dorf ein beliebter „Luftkurort“ .

Wilhelmsfeld ist eine späte Geburt. Weder die Römer noch die Ritter zeigten Interesse an den dunklen, undurchdringlichen Höhen des Odenwalds. Erst 1710 richteten einige Jungbauern ein Bittgesuch an Kurfürst Johann Wilhelm, die Wildnis roden zu dürfen. Zum Dank für die Erlaubnis tauften sie das neue Dorf auf den Namen seiner Durchlaucht. Es war ein hartes Leben auf den kargen Boden in fast 500 Metern Höhe. Reich geworden ist hier oben niemand. 

Erst 1961, als das Wort „Sommerfrische“ erfunden wurde, setzte eine kurze Blüte ein. Weil die Industrie weit weg ist und Hitzetage hier oben praktische nie vorkommen, durfte sich Wilhelmsfeld mit dem Titel „Luftkurort“ schmücken. Landgasthöfe, kleine Pensionen und Langlaufloipen entstanden. Die Urlauber entdeckten den Reiz des Odenwalds im Wechsel der Jahreszeiten.

Auch das ist inzwischen Geschichte. Heute zieht es vor allem junge Familien auf dem Berg. Weil sie die Grundstückspreise in der Ebene nicht bezahlen können.

 Im neuen „Kooperationsraum Steinachtal“ gibt es weite Wege und nur spärlich öffentlichen Nahverkehr.

Der neue evangelische „Kooperationraum Steinachtal“ erstreckt sich von Heddesbach über Brombach, Wihelmsfeld, Altneudorf, Heiligkreuzsteinach bis hinunter nach Schönau. Das sind weite Wege. In einer Gegend, in der es nur spärlich öffentlichen Nahverkehr gibt. Wie soll da ein Gemeindegefühl entstehen?

Vier eng bedruckte Seiten umfasste der Fragebogen aus Karlsruhe, der den Pfarrern und Ältesten des neuen „Kooperationsraums Steinachtal“ vor einigen Monaten auf den Tisch flatterte. Die Fragen hatten es in sich. Wie soll die Zusammenarbeit zwischen den Dörfern künftig aussehen? Wo finden die Gottesdienste statt? Welche Kirchen und Gemeindehäuser dürfen bleiben? Welche werden geschlossen?

v.l.: Pfarrerin Dangel, die Prädikaten Guschi und Volker Herion, Pfarrerin Agnes Seyferth aus Schönau

„Solche Grundsatzentscheidungen berühren die Menschen auf dem Land noch tiefer als in der Stadt“, weiß Silke Dangel. Weil die Kirchen die Herzstücke ihrer Dörfer sind. „Da entstehen massive Verlustängste.“ Was der Stimmung bei den Treffen natürlich nicht förderlich war. „Am Anfang ging es für jeden Ort nur darum, so viel wie möglich zu behalten“, erinnert sich die geschäftsführende Dekanin. Kein Frieden, nirgends. Keine Freundschaft, kein Zusammenhalt, keine Spur von Zusammenwachsen. 

70, 80, 90 Menschen strömen am Sonntag aus den Dörfern herbei.

In Wilhelmsfeld saßen am Abend oft die Ältesten noch zusammen und beratschlagten, wie man die Gespräche aus dieser Sackgasse herausholen könnte, berichtet Volker Herion. Der Theologe hat viele Jahre das Heidelberger Thadden-Gymnasium geleitet. Jetzt im Ruhestand ist er mit seiner Frau Guschi, ebenfalls Pfarrerin, in sein Heimatdorf zurückgekehrt. Die Herions wirken in Wilhelmsfeld als Prädikanten.

Künftig wollen alle Dörfer die Sonntage gemeinsam feiern. Reihum.

„Plötzlich ist uns aufgefallen, dass in allen bisherigen Gesprächen nie die Gottesdienste thematisiert wurden“, erzählt Herion. Vielleicht, so die Idee des pensionierten Pädagogen, klappt die Kommunikation ja besser,  wenn man regelmäßig miteinander Gottesdienst feiert. Alle zusammen in einer Kirche. Jeden Sonntag in einem anderen Dorf. Reihum. Ohne Alternative. Ein unglaublicher Gedanke. 

„Der Zuspruch übertrifft unsere Erwartungen bei weitem“.

Doch siehe da: Was zunächst als zaghafter Versuch begann, entwickelte sich zum Erfolg. 70, 80, 90 Menschen strömen Sonntag für Sonntag aus den Dörfern herbei. Solche Zahlen hatte man schon lange nicht mehr erreicht. „Der Zuspruch der Menschen übertrifft unsere Erwartungen bei weitem“, strahlt Guschi Herion. „Das Singen in den vollen Kirchen macht so viel Spaß, wie nie zuvor.“

Das idyllische Pfarrhaus von Wilhelmsfeld wird nicht mehr gebraucht.

Und allmählich lernt man sich auch kennen. Weil es im Anschluss an den Gottesdienst immer noch ein Süppchen oder Kaffee und Kuchen gibt. „Wir feiern jetzt zwar weniger Gottesdienste, aber es kommen mehr Menschen in die Kirche“, staunt auch Agnes Seyferth, die Pfarrerin von Schönau. Zusammen mit ihrem Kollegen Steffen Banhardt aus Heiligkreuzsteinach wird sie die neue Gesamtgemeinde leiten. 

Bis zu den Sommerferien, berichtet Pfarrerin Seyferth, soll das Experiment mit den Zentralgottesdiensten auf jeden Fall fortgeführt werden. „Dann evaluieren wir.“

Dabei war hier schon Kaiserin Sissi zu Gast.

Am ersten Osterfeiertag 1885 stand Kaiserin Sissi plötzlich vor der Pfarrhaustür. In Wanderstiefeln.

1857 beschloss der evangelische Oberkirchenrat, in Wilhelmsfeld eine eigene Pfarrstelle einzurichten. Es war die erste, die es hier je gegeben hat. 1868 war ein hübsches kleine Kirchlein fertiggestellt. Im neugotischen Stil. Und gleich daneben wuchs ein geräumiges Pfarrhaus in die Höhe. Mit Stall, Waschhaus und Scheune.

Vor ihr stand am ersten Osterfeiertag des Jahres 1885 plötzlich Kaiserin Sissi von Österreich in Wanderstiefeln. Sie war mit ihrer Tochter Valerie von Heidelberg nach Wilhelmsfeld hinauf gewandert. Und bat nun um eine kleine Erfrischung. Bis heute ist dieser Besuch das größte Ereignis in der Geschichte von Wilhelmsfeld geblieben.

„Bei einem Wochenende im Baumhauscamp in Michelbuch kommen unglaublich viele Emotionen hoch.“

Rundum glücklich mit der künftigen Großgemeinde sind die Konfis.

Rundum glücklich über den künftigen Zusammenschluss der Dörfer sind die Konfirmanden. „Sie bilden jetzt eine schöne, große Gruppe von 25 Jugendlichen“, berichtet Silke Dangel. „Damit kann man wirklich etwas anfangen.“ Ein Wochenende im „Baumhauscamp“ von Michelbuch beispielsweise, das die Stiftung Schönau zu weiten Teilen finanziert.

„Wenn man bei Einbruch der Dunkelheit auf einer Plattform hoch oben im Baum sitzt und über den Glauben spricht, kommen unglaublich viele Emotionen hoch“, weiß Silke Dangel. Dann wird das Lagerfeuer angezündet, eine kleine Band spielt auf, man kocht, isst und erlebt Gemeinschaft. „Oft sind die Konfirmanden der Vorjahre auch noch mal mit dabei.“

Bleibt das Interesse so rege wie momentan, wird das Projekt verfeinert. Im Sommer beispielsweise durch Waldgottesdienste am Forsthaus Michelbuch. Oder durch einen Taufgottesdienst an der Steinach.

Liebster Aufenthaltsort der Konfirmanden ist das Baumhauscamp in Michelbuch.

„Als wir kürzlich in Altneudorf Gottesdienst hatten, habe ich beobachtet, mit wie viel Freude, die Menschen sich begrüßt haben“, berichtet Guschi Herion. Für allem für Menschen, die zuhause niemanden haben, sei der gemeinsame Sonntagmorgen sehr attraktiv. „Ich glaube nicht, dass sich das verschleißt.“ Demnächst will man noch zwei Busse anschaffen, um die Menschen abzuholen. „Mit dieser Konzeption nimmt das Steinachtal eine Vorreiterrolle im Kirchenbezirk ein“, findet Silke Dangel.

In dieser Übergangsphase zwischen alten Traditionen und neuen Strukturen muss man sehr vorsichtig sein.

So vielversprechend das alles klingt. Es gibt auch Bereiche, denen der Zusammenschluss der Gemeinden nicht gut tut. Die Kirchenchöre beispielsweise wehren sie massiv gegen eine Vereinigung. Sie wollen in ihren Kirche bleiben. „Wir befinden uns in einer Übergangsphase zwischen den alten Traditionen und den neuen Strukturen“, überlegt Silke Dangel. Da müsse man sehr vorsichtig sein. „Wahrscheinlich bieten wir deshalb an den hohen christlichen Feiertage, weiterhin mehrere Gottesdienste an“, überlegt Pfarrerin Agnes Seyferth.

25 Jugendliche werden im „Kooperationsraum Steinachtal“ konfirmiert.

Weitgehend verloren gegangen sind die berufstätigen Erwachsenen zwischen 40 und 65, deren Kinder schon aus dem Haus sind. „Da muss von unserer Seite mehr passieren“, weiß Silke Dangel. Der große Bonus hingegen ist, dass die Ortspfarrer weiterhin an der Grundschule unterrichten. „Die Kinder lieben Religionsunterricht.“ Weshalb die Gemeinden auch alle Familien aus dem Dörfern zum großen Tauftag im Sommer an der Steinach einladen wollen. Silke Dangel lächelt ein wenig verschmitzt. „Vielleicht entsteht ja irgendwann so etwas wie Tauf-Neid.“

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