Darf man in einer Kirche Tango tanzen? Noch dazu in einer gotischen? Darf man auf einem Matschspielplatz Kinder taufen? Oder im Baggersee? Darf man auf einem Baumstumpf im Wald Eucharistie feiern? Oder im Zoo bei Kamelen und Elefanten?
Darf man im Einkaufszentrum einen Altar aufbauen? Im Schwimmbad? In der Kneipe? Darf man einen Gottesdienst für Pferde, Hunde oder Meerschweinchen feiern? Für Autos? Für Motorräder?
All das wird derzeit getan. Und hochemotional diskutiert. Plumpe Anbiederung an den Zeitgeist, sagen die einen. Eine logische Folge unserer bunten Gesellschaft, meinen die anderen. Tatsache ist, dass die Zahl der Teilnehmer am traditionellen Sonntagsgottesdienst seit Jahren zurückgeht. Auch in die katholischen Kirchen kommen kaum noch zehn Prozent der Gläubigen. Um die Menschen wieder zu erreichen, bleibt den Seelsorgern nichts anderes übrig, als ihre Gottesdienste dort zu feiern, wo was los ist. Oder ihre Kirchen für neue, spannende Ideen zu öffnen. Eine Suche nach den liturgischen Formen der Zukunft. Gottesdienst 4.0.
„Die Kneipe ist ein idealer Ort für einen Gottesdienst“
Eine Kneipe in der Heidelberger Hauptstraße am Freitag Abend. Es ist voll, es ist laut. In der Ecke feiert ein rosa Knäuel Jungesellinnenabschied, an der Bar hängen die üblichen Verdächtigen, die Jungs am Fenster ordern schon das dritte Bier. Die Tür zum Nebenzimmer steht offen. Ein Keyboard spielt Beatlessongs. Dann wird es still. Pfarrer Vincenzo Petracca betet das Vaterunser. Etwa siebzig Stimmen murmeln mit.
„Die Kneipe ist ein idealer Ort für einen Gottesdienst“, sagt Petracca, der evangelische Citykirchenpfarrer von Heidelberg. „Die Menschen kommen ja nicht nur hierher, um zu trinken. Sie wollen vor allem reden.“ Loswerden, was ihnen das Herz abdrückt. Die perfekte Voraussetzung für ein Gespräch mit Gott. „Deshalb werden die Kneipengottesdienste so gut angenommen“, sagt Petracca. Bis jetzt sei noch nie jemand gegangen. Im Gegenteil: „Manchmal guckt einer rein, holt sich einen Stuhl und setzt sich dazu.“ Theoretisch könnte man während der Gebetszeit auch Bier bestellen. Aber das geschieht selten. „Jeder merkt, dass hier etwas Besonderes geschieht.“
Studie: 2060 ist das Christentum eine Minderheitsreligion
Die Zahl der Kirchenmitglieder sinkt. Bedrohlich. Im Jahr 2060 werden die Kirchen in Deutschland nur noch halb so viele Mitglieder zählen wie heute. Dieses Ergebnis vermeldete im Mai eine Studie im Auftrag der beiden großen Kirchen. In Deutschland werden 2060 nur noch knapp 23 Millionen Menschen an Jesus Christus glauben, erwartet die Studie. Das Christentum als Minderheitsreligion. „Für mich ist die Studie ein klarer Aufruf zur Mission“, sagte Kardinal Reinhard Marx, der Vorsitzende der Bischofskonferenz. EKD-Ratsvorsitzender Heinrich Bedford-Strohm befand: “Manches an dem Rückgang werden wir nicht ändern können. Anderes schon.“ Will heißen: Raus aus der Heimeligkeit der Kirchen. Und rein ins pralle Leben einer modernen Gesellschaft.
Der Elzpark in Mosbach an einem Sonntagmorgen. Die Vögel zwitschern, die Sonne lugt vorsichtig zwischen Wolken hervor. Am Wasserspielplatz drängeln sich etwa dreihundert Menschen jeden Alters auf Bierbänken. Einige tragen Short und Shirt, andere Anzug oder Cocktailkleid. Überall wuseln Kinder. 15 von ihnen werden heute getauft. Zusammen mit drei Jugendlichen und zwei Erwachsenen. Hier im Park. Die Vorsichtigen im Bächlein am Spielplatz. Die Mutigen in den Stromschnellen der Elz. „Lebendiges Wasser“, strahlt Pfarrer Matthias Lenz aus Dallau, der wie einst Johannes der Täufer mit gerafftem Talar im kalten Fluss steht. Die ersten Christen haben nur in offenem Wasser getauft, sagt Lenz. Denn ohne Wasser könne der Mensch so wenig leben wie ohne Gott.
Tauffeste sind der Renner. Ob am Bach, am Brunnen oder am Baggersee
Tauffeste sind momentan der Renner in der evangelischen Kirche. Man tauft im Bach, im Brunnen, im Baggersse, ja sogar im Wasserwerk. Mit gewaltigem Erfolg. Von Jahr zu Jahr wird die Zahl der Anmeldungen größer. „Ein Tauffest nimmt die Schwellenangst, die heute viele Menschen vor der Kirche haben“, beobachtete Victor vom Hoff, Pfarrer an der Mosbacher Stiftskirche. Wer jahrelang nicht mehr im Gottesdienst war, möchte bei der vorsichtigen Neuannäherung verständlicherweise nicht gleich im Zentrum aller Blicke stehen.
Beim Tauffest liegt die Schwelle niedrig. Man trifft sich zwanglos im Freien, umgeben von vielen Menschen in gleicher Situation. Die Kinder dürfen springen. Jedes Symbol, jede Segenshandlung wird erklärt. „Wir müssen heute möglichst viele verschiedene Zugänge zum Glauben anbieten“, sagt Pfarrer vom Hoff. „Die Lebenswege verlaufen nicht mehr so geradlinig wie früher.“
Allerdings gebe es auch Phasen im Leben, in denen die Menschen besonders „durchlässig sind für religiöse Themen“, überlegt Victor vom Hoff, selbst Vater von vier Kindern. „Wenn ein Kind geboren wird, steht man fassungslos vor dem Wunder des Lebens.“ Und fragt sich, ob man dieser großen Aufgabe gerecht werden kann, nickt Wibke Klomp, die Pfarrerin von Walldorf. „Deshalb war für mich die Taufe unserer Kinder so wichtig. Ich wollte Gott für das Geschenk des Lebens danken. Und ich ihn bitten, dass er die Kinder auf ihrem Weg begleitet.“
„Wir wollen dort sein, wo die Menschen uns wirklich wahrnehmen“
Walldorf bei Heidelberg. Ein ehemaliges Bauerndorf mit Weltkonzern. 14000 Einwohner, zwanzigtausend Einpendler jeden Morgen. Verwunschene Gärten mit uralten Scheuern, horrende Immobilienpreise, sehr viele Kinder. Derzeit baut Walldorf gerade einen neuen Stadtteil für 3000 Menschen: die „Neue soziale Mitte“. Es gibt dort Schulen, Sportanlagen und Supermärkte. Und: Es gibt einen neuen evangelischen Kindergarten mit 125 Plätzen. Die große Einrichtung ersetzt den idyllischen evangelischen Kindergarten im Zentrum, den die Kirchengemeide abgegeben hat. Warum? Pfarrerin Klomp schaut einem direkt in die Augen. „Leicht gefallen ist uns dieser Entschluss nicht“, sagt sie. Aber das Konzept der evangelischen Kirche von Walldorf fordere den neuen Standort: „Wir wollen überall dort sein, wo die Menschen uns und unsere Angebote auch wirklich wahrnehmen.“
Stadtteilgottesdienste, Schwimmbadgottesdienste, Gottesdienste im Tierpark, Feuerwehrgottesdienst. „Wir orientieren uns komplett nach außen“, sagt Wibke Klomp. Das moderne evangelische Gemeindehaus verstehe sich als offenes Haus für den ganzen Ort. Einmal im Monat wird ein Frühstück serviert, zu dem 60 bis 80 Menschen kommen. Es gibt ein Frühlingscafé, Sportgruppen, Sprachkurse für Geflüchtete, Angebote für junge Mütter, und, und, und. „Eigentlich sind hier rund um die Uhr Veranstaltungen“, freut sich die Pfarrerin.
„Dadurch kommen viele Menschen ins Haus, die mit der Kirche nicht direkt etwas zu tun haben.“ Die man dann aber trotzdem kennt. Das ist wichtig in Walldorf, wo die Strukturen dörflich geblieben sind. „Persönliche Beziehungen sind hier entscheidend“, nickt Wibke Klomp. „Wenn ich einkaufen gehe, plane ich viel Zeit ein. Für Gespräche mit den Bekannten, die ich im Supermarkt treffe.“
„Die Biker wissen genau, wie schutzlos sie auf ihren Maschinen sind“
„Gott ist Lebensfreude“, überlegt Vincenzo Petracca, der Heidelberger Citykirchenpfarrer. „Überall, wo Menschen Freude haben, wirkt Gott. So profan der Anlass einem Außenstehenden auch vorkommen mag.“ Motorradfahrer beispielsweise kämen kaum auf die Idee, am Sonntag in die Kirche zu gehen. Trotzdem stecke in diesen Schränken von Männern ein tiefes Bedürfnis nach dem Segen Gottes, sagt Petracca. „Die Biker wissen genau, wie schutzlos sie auf ihren Maschinen sind.“ Also quetscht sich der Citykirchenpfarrer im Talar in den Beiwagen und lässt sich zum Motorradgottesdienst fahren. Auf dem ADAC-Verkehrsübungsplatz.
Oder Tiere. „Tiere sind für sehr viele Menschen ein wichtiger Teil ihres Lebens“, weiß Vincenzo Petracca. Weshalb beide Kirchen neuerdings spezielle Tiersegnungs-Gottesdienste feiern. In Mannheim segnet der katholische Dekan um die Pferde im Reitverein. An der Letzenbergkapelle in Malsch erscheint jeden Herbst eine ganze Arche Noah mit Herrchen. Die katholische Stadtkirche Karlsruhe feiert im August erstmals einen Fernsehgottesdienst im Zoo. Und auch in Heidelberg wird es bald wieder einen Gottesdienst mit Tiersegnung geben, verspricht Petracca. In der Kirchheimer „Arche“. Das passt.
Darf man in einer gotischen Kirche Tango tanzen?
Bleibt noch die Eingangsfrage: Darf man in einer Kirche Tango tanzen? In der gotischen Heiliggeistkirche zu Heidelberg, so scheint es, tut man nichts anderes mehr. Oder? Vincenzo Petracca lacht. Erstens sei Tanzen Balsam für die Seele. Zweitens werde auch in der Bibel gern und viel getanzt. Und drittens handle es sich bei den Tangoabenden um klassische Gottesdienste. Mit Gebet, Fürbitten, großer Predigt und Segen. Dazwischen allerdings wird tatsächlich Tango getanzt in der hohen Halle des 600 Jahre alten Gotteshauses.
Die Sache kommt so gut an, dass der Pfarrer Petracca jetzt viele verschiedene Tanzangebote ins Programm seiner Citykirche aufgenommen hat. Darüber hinaus gibt es Kooperationen mit dem Heidelberger Theater und einer Tanzschule. Dieses Angebot richtet sich gezielt an Jugendliche, was Petracca sehr wichtig findet. „Wenn 200 Jugendliche studenlang in einer Kirche tanzen, dann ist das ein Stück Mission.“ Weil der Kirchenraum auf die jungen Menschen wirkt. Wie auf jeden, der sich längere Zeit hier aufhält. „Die Heiliggeistkirche predigt“, sagt Petracca.
Es ist ein großartiges Gefühl, den Kirchenraum mit allen Sinnen zu durchdringen
Auch Victor vom Hoff, Pfarrer an der ebenfalls gotischen Mosbacher Stiftskirche, macht sich neuerdings Gedanken über diese erstaunliche Wirkung durchbeteter Mauern. Er arbeitet jetzt an einem Konzept für Geistliche Kirchenführungen. „Ich möchte die Menschen dafür sensibilisieren, wie ein heiliger Raum sie zu den Spuren Gottes führen kann“, sagt vom Hoff. Es sei ein großartiges Gefühl, wenn man beginne, den Kirchenraum mit allen Sinnen zu durchdringen.
Pfarrerin Wibke Klomp aus Walldorf denkt im Moment viel darüber nach, wie sich unser Alltagsleben verändert. „Digitalisierung und Individualisierung machen die Arbeit für die Kirchen schwieriger, aber nicht uninteressanter“, findet Klomp. Sie will dem Computerleben jetzt verstärkt Begegnungen mit echten Menschen entgegensetzen. „Analoge Kontakte“, formuliert die Pfarrerin lächelnd. „In Walldorf hat dieses Wort noch einmal eine andere Qualität.“
Was lese ich da von neuen, wunderbaren Ideen? Endlich, endlich, spät, aber nicht zu spät gehen die Kirchen zu den Menschen draußen, dorthin, wo sie feiern oder trauern oder Ängste haben , anstatt darauf zu hoffen, dass sie zu ihr kommen.
Wenn, als ich jung war, in meiner Stammkneipe Gottescienste abgehalten, in der Kirche getanzt oder an Orten nach Wahl geheiratet und getauft worden wäre, dann hätte es keinen Mitgliederschwund gegeben.
Jetzt bin ich fast 80 J.a. und so schwerbehindert, dass ich das Haus praktisch nicht mehr verlassen kann, z.B. um in die Kirche zu gehen, Wenn es aber mal hier irgendwo einen open air Gottesdient gäbe, würd ich alles versuchen, dorthin zu gelangen.