Überraschend kam diese Mail. Über einen Riesenverteiler. „Unser Vorschlag für die Fastenzeit: 7 Wochen ohne Verzicht“. Ein Scherz? Vielleicht. Aber er hat ins Schwarze getroffen.
Schließlich verzichten wir schon seit einer Ewigkeit. Auf Umarmungen, auf das Singen, auf Einladungen, Sport, Theater, Konzerte, Reisen … Braucht’s da wirklich noch eine Fastenzeit? Kathrin Grein, Mannheims katholische Hochschulseelsorgerin, schüttelt den Kopf. Die Pastoralreferentin hält Verzicht in diesem Jahr nicht für die richtige Herausforderung. „Wir sollten uns lieber fragen, wovon wir mehr brauchen.“ Gottvertrauen. Begegnungen. Flexibilität. Mut. Phantasie. Also, los. Abenteuer Fastenzeit.
Die erste Aufgabe: Mehr Wir.
Corona produziert Einsiedler, beobachtet Kathrin Grein. Mit Sorge. „Jeder sitzt isoliert vor seinem Computer oder beteiligt sich an sterilen Videokonferenzen. Zufällige Begegnungen und spontane Gespräche gibt es kaum noch.“ Über kurz oder lang verliert man dadurch viele Menschen aus den Augen, befürchtet die Mannheimer Hochschulseelsorgerin. Dabei ist es nicht verboten, sich zu einem Spaziergang zu verabreden. Oder einfach mal anzurufen. Es kostet nur Überwindung. „Mehr Wir“. Die erste Aufgabe für die Fastenzeit.
Silke Dangel ist die evangelische Pfarrrerin von Wilhelmsfeld. Momentan gibt es hier nur Online-Gottesdienste. Weil das Kirchlein unter Corona-Bedingungen nur zwei Handvoll Menschen fassen darf. Auch der Konfirmantenunterricht findet am Computer statt. Was Dangel schmerzt. „Wie soll ich die Konfis für Jesus begeistern, wenn ich sie nur mit Arbeitsblättern füttern darf?“
Hauptsache: Man hat sich gesehen. Und gesprochen.
Die Pfarrerin hat deshalb die „Haustürbesuche“ erfunden. Das sind kleine Gespräche zwischen Tür und Angel, die trotz Maske Nähe schaffen. Dangel dreht ihre Runde regelmäßig und schaut bei allen 24 Konfirmanden vorbei. Oft hat die Pfarrerin ein kleines Geschenk dabei. Eine Fanta, eine Tüte Chips, eine Kerze. Hauptsache: Man hat sich gesehen. Und gesprochen.
„Wenn wir ehrlich sind, warten wir doch alle insgeheim darauf, dass jemand vorbeikommt oder anruft“, überlegt Silke Dangel. Aber sich dazu aufzuraffen, das schaffen die wenigsten. „Die Passionszeit kann Anstoß sein, diese Lethargie zu überwinden.“
Im letzten Advent haben die Wilhelmsfelder Konfirmanden die Haustüraktion sogar noch erweitert. Sie haben Plätzchen gebacken und sie den Senioren ins Heim gebracht. Zusammen mit einer handgeschriebenen Karte für jeden Bewohner. „Es war wunderschön, was die 14-Jährigen den alten Menschen geschrieben haben“, lächelt Silke Dangel. Sie will die Aktion in der Passionszeit wiederholen. Mit Tulpen.
Die zweite Aufgabe: Mehr Bunt.
Judith Maier-Ortseifen ist Gemeindereferentin in der katholischen Kirchengemeinde Wiesloch-Dielheim. Begegnung und Nähe, sagt sie, seien ihr sehr wichtig. „Dass wir uns nicht mehr knuddeln können, ist für mich furchtbar.“ Aber weil Maier-Ortseifen ein positiver Mensch ist, hat sie sich auf die Suche nach neuen, kreativen Formen von Nähe gemacht. „Mehr Bunt“. Die zweite Aufgabe für die Fastenzeit.
Kirchen üben eine magische Anziehungskraft auf Menschen aus. Noch nie sei ihr das so bewusst geworden wie jetzt in der Krise, sagt die Wieslocher Gemeindereferentin. „Deshalb müssen wir in den Kirchen Angebote machen, mit denen die Besucher ihren Ängsten Ausdruck verleihen können.“
„Warte nicht darauf, dass Menschen Dich anlächeln. Zeige ihnen, wie es geht.“
Eine „Klagemauer“ beispielsweise, an der die Sorgen haften bleiben. Fußspuren aus Papier, auf die man seine Bitten schreibt. Und natürlich Kerzen in jeglicher Form. Die Besucher öffnen sich durch solche Angebote, beobachtet Judith Maier-Ortseifen. Auch für einander. „Es ist in der jetzigen Situation so wichtig, dass man sich gegenseitig wahrnimmt“, sagt die Seelsorgerin. „Nichts bringt mehr Lebensfreude als eine gute Begegnung.“
Außerhalb der Kirche setzt Judith Maier-Ortseifen auf kleine Aufmerksamkeiten. Seelenöffner. Ein Herz aus Marzipan neben der Kaffeetasse. Ein Blümchen auf dem Teller. Eine Papiertröte als Trostpflaster für die ausgefallene Fastnacht. „Es sind nur Kleinigkeiten, aber man freut sich darüber.“ Und wenn sich der Beschenkte freut, dann freut sich auch der Schenkende. Das wusste schon Pippi Langstrumpf: „Warte nicht darauf, dass die Menschen Dich anlächeln. Zeige ihnen, wie es geht.“
Die dritte Aufgabe: Mehr Weg.
Pater Werner Holter ist Jesuit und lebt als City-Seelsorger in Mannheim. Durch Corona hat er entdeckt, dass Spaziergänge Wunder wirken können. „Ich gehe bei jedem Wetter, auch wenn es regnet, schneit oder kalt ist“, verrät der Jesuitenpater. Eine Karte oder gar eine App braucht er nicht. „Die Stadt führt mich“, sagt Holter. „Mehr Weg“. Die dritte Aufgabe für die Fastenzeit.
Wichtig ist, dass sich die Sinne öffnen, erklärt Pater Holter. „Was sehe ich? Was höre ich? Was rieche ich? Wie fühlt sich der Boden unter meinen Füßen an?“ Klingt wie eine Meditation. Dabei geht der Jesuit immer nur durch die Mannheimer Quadrate, wo er auch wohnt. Genau darin liege ja der Reiz, findet Holter. „Ich schlendere durch die Straßen, durch die ich sonst eile.“ Wodurch er auf einmal Dinge wahrnehme, die ihm zuvor nie aufgefallen sind. Die Kinder auf dem Spielplatz. Der ältere Herr mit Hund. Der Auto-Poser an der Ampel …
Durch dieses gelassene Beobachten wird man ruhiger. Sagt der Jesuitenpater. Die Ängste verschwinden. Und die Zwänge. „Ich muss nichts mehr. Ich darf einfach sein und genießen.“
Die vierte Aufgabe: Mehr Ich.
Das Titelbild des katholischen Gemeindebriefs von Wiesloch-Dielheim ziert in der Fastenzeit ein Wolf. Er blickt den Leser direkt an. Mit gespitzten Ohren und wachsamen Augen.
Judith Maier-Ortseifen hat das Foto gewählt, weil es sie an eine alte indianische Weisheit erinnert. In jedem Menschen, erzählen die Cherokee, kämpfen zwei Wölfe miteinander. Der eine nährt sich vom Neid, Misstrauen und Angst. Der andere von Liebe, Vertrauen und Hoffnung. „Den Kampf gewinnt der Wolf, den ich besser füttere“, sagt Maier-Ortseifen. „Mehr Ich“. Die vierte Aufgabe für die Fastenzeit.
Und falls doch dunkle Gedanken aufkommen, helfen Selbstgespräche.
Selbstfürsorge ist eine Kunst, die seltsamerweise in unserer Gesellschaft kein hohes Ansehen genießt. Und die auch nicht wirklich gelehrt wird. Am besten gelingt sie, indem man sich Rituale schafft, rät die Gemeindereferentin.
Weil Rituale Sicherheit geben. Ein kurzer Blick aufs Kreuz nach dem Aufstehen. Die Lieblingsmusik im Bad, das Stundengebet, das freundliche Wort für die Frau an der Supermarktkasse. „Wenn ich fest entschlossen bin, nicht trübsinnig oder ängstlich zu werden, weil ich mich fest verbunden weiß zwischen Himmel und Erde, dann nähre ich meinen Wolf mit Zuversicht“, betont Judith Maier-Ortseifen.
Und falls man doch einmal auf dunkle Gedanken kommt, helfen Selbstgespräche: Ich bin nicht allein. Gott ist bei mir. Alles geht gut. Ich schaffe das. „Wenn man sich solche Sätze mantramäßig laut zuspricht, kann das Wunder wirken“, weiß die Wieslocher Gemeindereferentin. Dann muss sie lachen. „Ich führe solche Selbstgespräche mittlerweile sogar auf meinen Spaziergängen. Da gucken die Leute schon. Aber das macht mir nichts.“
Die fünfte Aufgabe: Mehr Gott.
Womit wir bei der letzten Aufgabe für diese Fastenzeit wären. „Mehr Gott“. Pater Werner Holter empfiehlt, öfter mal die Psalmen aufzuschlagen. Weil sie leicht lesbar sind und ihnen sei nichts Menschliches fremd ist. „Da wird gelobt, getrauert, geflucht. Da findet man garantiert alles, was gerade im Inneren rumort.“
Silke Dangel, die evangelische Pfarrerin von Wilhelmsfeld, hat in ihrer Kirche, die immer geöffnet ist, Zettel bereitgelegt. Überall. Auf ihnen kann man Fürbitten formulieren oder kleine Gebete, die dann in den nächsten Online-Gottesdienst eingebaut werden. Von Einsamkeit ist in diesen Gebeten oft die Rede. Vom Gefühl, abgekapselt zu sein von der Welt. Und vom Ich-halts-nicht-mehr-aus.
Selbst Kinder wenden sich mittlerweile mit Fürbitten an Gott
„Erstaunlich ist, wie viele Kinder sich mit solchen Fürbitten an Gott wenden“, berichtet die Pfarrerin. Schon die Kleinsten malen ein Häuschen mit einer Kerze daneben.
„Eine Zeitlang kam jeden Mittag eine Gruppe von Grundschülern vorbei.“ Zielstrebig sind die Kinder zum Leuchter marschiert und haben ein Licht angezündet. Irgendwann hat die Pfarrerin sie gefragt, warum sie das tun. Die Antwort: „Wir wollen, dass Corona wieder vorbei ist.“
„Warum muss man sich so fest die Hand geben?“ „Damit der Andere Dich spürt.“
Silke Dangel will das auch. Damit man sich endlich wieder die Hand geben kann. „Dieser fehlende Handschlag ist für mich vermutlich das Schlimmste an der jetzigen Situation“, überlegt sie. Ihr Opa, längst im Himmel, habe mit ihr immer geübt, fest die Hand zu geben. Irgendwann hat sie ihn dann gefragt: Warum muss man denn so fest die Hand geben? Die Antwort des Opas: „Damit der Andere etwas von dir spürt.“
Vielleicht, überlegt Silke Dangel mit Schalk in den Augen, können man ja eine Art Happening veranstalten. Man trifft sich in der Kirche. Desinfiziert sich die Hände. Und dann schüttelt man. Und schüttelt. Und schüttelt …