Wolken über dem Kinderparadies

Evangelische Kitas sind gefragt wie nie. Trotzdem fehlt es an Geld. Ein Besuch in Leimen.

In Leimen gibt es neuerdings eine fünfte Jahreszeit. Sie beginnt am 1. September, endet am 4. Oktober und nennt sich „Schöpfungszeit“. Ein paradiesischer Name. Und doch beschreibt er nur ungenügend die Überfülle von Farben, Düften und Aromen, die derzeit den evangelischen Elisabeth-Ding-Kindergarten in einen Garten Eden verwandeln.

Was so schwierig nicht ist. Denn die Kita, die 145 Kinder besuchen, liegt idyllisch im Park der gotischen Mauritiuskirche, eines der ältesten Gotteshäuser der Region. Die Kinder haben einen großen Spielplatz mit Wasser, Musikräume, Höhlen, Leseecken, Klettergerüste, eine Küche und sogar einen Theatersaal. Wie lange dieses Kinderparadies allerdings noch existiert, weiß niemand. 

Die Maritiuskirche ist eine gotische Schönheit.

Wenn Leimen Protestanten ihr Gemeindehaus behalten wollen, müssen sie es künftig selbst finanzieren.

Die Badische Landeskirche nämlich hat das evangelische Gemeindehaus von Leimen, in dem die Kita untergebracht ist, auf die rote Liste jener Gebäude gesetzt, die künftig nicht mehr finanziert werden können. Wenn Leimens Protestanten ihren Kindertraum weiter betreiben wollen, müssen sie das Geld dafür selbst aufbringen.

Pfarrerin Natalie Wiesner ist sicher, dass ihre Kirchengemeinde das schafft: „Wir sind intensiv in Gesprächen mit Sponsoren und Kooperationspartnern.“ Die Stadt und die Grundschule möchten Räume anmieten. Ein Bürgertreff ist in der Pipeline. Doch selbst wenn es gelingt, den Elisabeth-Ding-Kindergarten zu erhalten, bleibt das Personalproblem. Die Badische Landeskirche verlangt, dass alle ihre Erzieherinnen einer christlichen Konfession angehören. In der Praxis ist das kaum noch zu realisieren. Willkommen in der komplexen Welt der kirchlichen Kindertagesstätten.

Der „Kindergarten“ ist eine evangelische Erfindung. Das Wort wurde unverändert in 40 Sprachen übernommen.

Der Kindergarten ist eine evangelische Erfindung. Friedrich Fröbel, Lehrer und Pastorensohn, erkannte als Erster, welch enorme Bedeutung das freie, zwanglose Spiel für die kindliche Entwicklung hat. 1837 gründete Fröbel im thüringischen Bad Blankenburg den ersten „Kindergarten“.

Kita-Leiterin Claudia Neininger-Röth (l.) und Pfarrerin Natalie Wiesner

Den Begriff hat er bewusst gewählt, um deutlich zu machen, dass auch Kinder fruchtbaren Boden, viel Luft, Sonne und Pflege brauchen, um sich zu entfalten. 40 Sprachen haben das deutsche Wort unverändert übernommen. Selbst die Amerikaner schicken ihren Nachwuchs in den „kindergarden“.

628 evangelische Kindertagesstätten gibt es in Baden. Sie betreuen fast 38 000 Kinder. Mehr als 80 Prozent der Kosten für die konfessionellen Einrichtungen tragen die Städte und Gemeinden, deren Aufgabe es ist, für eine qualifizierte Unterbringung der Kinder während der Arbeitszeit ihrer Eltern zu sorgen.

Die Kindergartenjahre sind eine Phase, in der die Familien durchlässig werden für die großen Themen des Lebens. Liebe, Leid, Sehnsucht, Sinn.

Mindestens einmal in der Woche kommt die Pfarrerin den Kindergarten. Meist öfter.

Natalie Wiesner, die Pfarrerin von Leimen, besucht mindestens einmal in der Woche den Elisabeth-Ding-Kindergarten. Meist kommt sie öfter. Weil sie die Kinder und ihre Eltern kennenlernen möchte. Die Kindergartenjahren, sagt Wiesner, sind eine Phase, in der die Familien durchlässig werden für die großen Themen des Lebens. Liebe, Leid, Sehnsucht, Hoffnung, Sinn. „Wenn man gerade ein Kind zur Welt gebracht hat und staunend beobachtet, wie es sich entwickelt, stellt man tiefere Fragen als zuvor.“ Die Angebote der Pfarrerin werden von den Eltern rege angenommen. „Durch die Kindergärten hat die Kirche plötzlich wieder einen Fuß in der Lebenswelt der Menschen.“

Die Landeskirche hat daher eigens für ihre Kitas ein „evangelisches Profil“ entwickelt. „Wir feiern mit den Kindern alle kirchlichen Feste“, erläutert Diakonin Patricia Schneider-Winterstein, die Beauftragte für Religionspädagogik im Kirchenbezirk Südliche Kurpfalz. „Und wir erzählen ihnen die biblischen Geschichten.“ Noah mit den Tieren in der Arche. Jona im Bauch des Walfischs. Jesus, der über das Wasser geht. „Die Kinder tauchen vollständig in solche Erzählungen ein“, beobachtet Schneider-Winterstein. „Geschichten, die ihnen besonders gut gefallen, wollen sie immer und immer wieder hören.“ Und sie möchten sie malen, basteln und nachspielen. Völlig unabhängig davon, welchem Glauben ihre Eltern angehören.

60 Prozent der Kinder in der evangelischen Kita haben Migrationshintergrund. Entsprechend groß ist die Glaubensvielfalt.

Der Elisabeth-Ding-Kindergarten von Leimen entwickelt aus den biblischen Erzählungen mitunter ein Leitthema für das ganze Jahr, berichtet Claudia Neininger-Röth, die Leiterin. Das bisher schönste Erlebnis basierte auf der Schöpfungsgeschichte. „Die Kinder waren so  begeistert bei der Sache, dass wir mit ihnen und ihren Eltern einen kleinen Garten angelegt haben“, erzählt Neininger-Röth. Der Garten existiert noch heute. Im Frühjahr dürfen die Kinder pflanzen, im Sommer hegen und im Herbst ernten. Ein zauberhaftes Kinderkochbuch ist dank des Gartens auch entstanden, das in der großen Küche gern benutzt wird. Das Lieblingsrezept von allen: Tomatenketchup.

Diakonin Patricia Schneider-Winterstein kümmert sich um die Religionspädogik.

60 Prozent der Kinder im Kindergarten von Leimen haben Migrationshintergrund. Entsprechend groß ist die Glaubensvielfalt. „Wir haben Hindus, Buddhisten, Moslems und russisch-orthodoxe, katholische, evangelische und freievangelische Kinder“, zählt Claudia Neininger-Röth auf. Im Kita-Alltag bemerkt man von dem Konfessions-Kaleidoskop nichts. Bevor beim Mittagessen der Löffel in die Hand genommen wird, halten alle kurz inne, um ein Tischgebet zu sprechen.

Und am Ende eines jeden Kita-Tages danken die Kinder und die Erzieherinnen Gott für das schöne Miteinander. „Und wenn wir Ostern feiern, färben wir nicht nur Eier“, berichtet die Kita-Leiterin. „Sondern wir brechen wie beim Abendmahl mit den Kinder auch das Brot und trinken dazu Traubensaft.“

Zum Kindergottesdienst kommen mindestens 85 Prozent der Familien. Regelmäßig!

Besonders beliebt ist der Kindergottesdienst in der Mauritiuskirche. „Da kommen regelmäßig mindestens 85 Prozent der Familien“, freut sich Pfarrerin Wiesner. Und beim Krippenspiel an Weihnachten erscheint sogar noch ein Schwung ehemaliger Kindergartenkinder, die gern noch einmal mitspielen würden. Natalie Wiesner findet es „ideal“, dass in Leimen Kindergarten und Kirche auch räumlich eine Einheit bilden. „Die Kinder spielen unter dem Kirchturm. Sie hören, wenn die Glocken läuten. Sie sehen, wenn ich zum Gottesdienst gehe. Und sie kennen mich.“

„Familienzentrum“ nennt die Badische Landeskirche solch ein Ensemble neuerdings. Es gilt als Modell der Zukunft, sagt Oliver Tuscher. Der Diakon ist beim evangelischen „Verwaltungs- und Serviceamt“ in Meckesheim zuständig für die Verwaltung der Kindertagesstätten im Kirchenbezirk Südliche Kurpfalz.

„Wir bereiten Verträge vor, führen Vorstellungsgespräche, achten darauf, dass die rechtlichen Vorschriften eingehalten werden, kümmern uns um die technische Ausstattung und um alle Baufragen.“ Ein Back-Office also, das Pfarrer und Erzieher entlastet. „Der Landeskirche sind die Kitas sehr wichtig“, weiß Tuscher. Man denkt in Karlsruhe sogar darüber nach, sie zu Treffpunkten für die ganze Gemeinde auszubauen. Die Leimener waren auf diesem Weg schon relativ weit fortgeschritten, doch dann kam Corona. 

Eltern engagieren sich heute nur noch in klar definierten Projekten. Regelmäßige Gruppenabende sind passé.

Künftig gibt es in der Kita auch ein Mittagstisch für alleinstehende ältere Menschen.

„Im Moment sind wir dabei, das Familienzentrum wieder in Gang zu bringen“, berichtet Claudia Neininger-Röth. Dienstags und donnerstags beispielsweise will man einen Mittagstisch für Alleinstehende anbieten, die dann zusammen mit den Kita-Kindern essen. „Die gewohnte Struktur einer Kirchengemeinde, in der es verschiedene Gruppen gibt, die sich regelmäßig treffen, stirbt aus“, beobachtet Pfarrerin Wiesner. Eltern engagieren sich heute nur noch in klar definierten Projekten. Der „Knubbelplanet“ beispielsweise, ein Samstagmorgen für Väter und Kinder, ist immer sofort ausgebucht. Ebenso die Fahrradralley durch Leimen.

94 Prozent der Beschäftigten im Kita-Bereich sind Frauen. Die meisten von ihnen arbeiten in Teilzeit.

Auch in Wiesloch „explodiert“ derzeit die Zahl der Taufen, berichtet Diakonin Patricia Schneider-Winterstein. Und die Kindergottesdienste boomen. „Da kommen Mama, Papa, Oma, Opa und sogar die Tanten mit.“ Sie glaube, sagt Schneider-Winterstein, dass sich alle Menschen nach Gottes Segen für ihr Kind sehnen. Um es beschützt zu wissen in Situationen, in denen die Eltern es nicht selbst beschützen können. „Wenn irgendetwas geschieht, das der Mensch nicht begreifen kann, ist der Glaube an Gott sofort wieder da.“

Diakon Oliver Tuscher kümmert sich um die Verwaltung und die Finanzen der Kitas.

Oliver Tuscher beobachtet all diese personalintensiven Entwicklungen mit hohem Interesse. Und ein wenig Bauchweh. Er hat schon jetzt zu wenig Erzieherinnen. „94 Prozent der Beschäftigten im Kita-Bereich sind Frauen“, berichtet Tuscher. „Die meisten von ihnen arbeiten in Teilzeit.“

Jede Erzieherin erhält künftig zwei „Regeneration-Tage“ pro Monat.

Die Stellen in kleinen Kindergärten, die nur bis 15 Uhr geöffnet sind, sagt der Diakon, seien meist einfach zu besetzt. Doch fast aussichtslos ist die Situation in den großen Kitas, wo im Schichtdienst bis 17.30 Uhr gearbeitet wird. „60 Prozent unserer Kitas müssen derzeit ihre Öffnungszeiten reduzieren, weil ihnen Personal fehlt“, seufzt Tuscher. Immerhin habe die Gesellschaft mittlerweile verstanden, wie wichtig die Arbeit der Kindergärten ist. „Jede Erzieherin erhält jetzt einen Zuschlag von 130 Euro im Monat sowie zwei zusätzliche Regenerations-Tage.“ 

Noch müssen alle Erzieherinnen Mitglied in einer Kirche sein. Doch das könnte sich bald ändern.

Oliver Tuscher hofft, dass die Landessynode in Karlsruhe die Pflicht zur Kirchenmitgliedschaft der Erzieherinnen bald nur noch auf die Leitungsebene beschränkt. Schließlich seien Kitas heutzutage lebensnotwendig für die Familien, ergänzt Kindergartenleiterin Claudia Neininger-Röth. „Kaum jemand hat noch Großeltern zuhause, die einspringen können. Oder Nachbarn, die ganz selbstverständlich das Kind mit zu sich nach Hause nehmen.“ Aber wer weiß, sagt die Kindergartenleiterin plötzlich und lächelt. Manchmal kehren die alten Zeit völlig überraschend wieder zurück.

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