Da sitzen sie nun, die beiden Teenager, zusammengekauert in einem Holzverschlag mit drei Decken um den Schultern. Es zieht. Maria hält das göttliche Bündelchen, Josef versucht Ordnung zu schaffen. Vor allem in seinem Inneren. Von Frauen aus Bethlehem, die Maria bei der Entbindung beigestanden haben, erzählt die Bibel nichts. Also muss Josef dem Kind auf die Welt geholfen haben. Irgendwie.
Und schon bald wird er mit Maria und dem Baby nach Ägypten fliehen. Auch irgendwie. Solche Extremerfahrungen schweißen Menschen zusammen. Da passt kein Blatt mehr zwischen die Seelen. Vielleicht liegt darin das Geheimnis der „Heiligen Familie“.
„Maria und Josef waren so eng miteinader verbunden. Die haben sich wirklich geliebt.“
Die Geschichte von Maria und Josef hätte das Zeug zur Tragödie gehabt. Ein junges Mädchen, höchstens 16, bildhübsch, gut erzogen und gebildet, verliebt sich in den attraktiven Sohn des Zimmermanns. Alle sind glücklich, bis Maria feststellt, dass sie ein Kind erwartet. Nicht von Josef. Für den jungen Handwerker bricht eine Welt zusammen.
Er beschließt, die Verlobung „in aller Stille“ zu lösen. Was für Maria das Todesurteil bedeutet hätte. Auf den Bruch einer versprochenen Ehe stand im Orient vor zweitausend Jahren die Steinigung. Doch dann erschien Josef im Traum ein Engel. Womöglich derselbe, der eine paar Wochen zuvor mit Maria gesprochen hatte.
„Die beiden Engel sind für mich ein klares Zeichen, dass die Beziehung von Maria und Josef nicht arrangiert war“, sagt Katharina Barth-Duran, katholische Pastoralreferentin in Eppingen. „Josef glaubt an Engel, Maria glaubt an Engel. Beide hören auf ihre Träume …“ Wahrscheinlich verstand sich dieses Paar wortlos. Und wenn einer die Augen schloss, spürte er, was der andere fühlte. Katharina Barth-Duran: „Maria und Josef waren so eng miteinander verbunden. Die haben sich wirklich geliebt.“
Vierhundert Kilometer zu Fuß nach Ägypten. Mit dem neugeborenen Kind.
Die Eppinger Theologin findet es unglaublich, dass Josef jahrhundertelang als schweigender Greis dargestellt wurde. „Kein Wort davon steht in den Evangelien. Ich bin fest überzeugt, dass Maria und Josef gleichaltrig waren.“ Eine Sichtweise, die sich mehr und mehr durchsetzt. Auch Florian Barth, der evangelische Pfarrer der Heidelberger Kapellengemeinde, schätzt, dass Josef noch sehr jung war: „Ein Teenagerpärchen, das sich plötzlich mit einer geheimnisvollen Schwangerschaft konfrontiert sieht. Das war schon heftig.“
Umso bewundernswerter findet der Pfarrer, wie respektvoll die jungen Leute mit der Situation umgegangen sind. „Es gab keinen Streit und keine Vorwürfe.“ Im Gegenteil. Josef zog sich zurück, begegnete seinem Engel und entschied sich. „Josef hat Maria einfach geglaubt.“ So seltsam die Geschichte vom Heiligen Geist als Kindsvater auch geklungen haben mag. Nach der denkwürdigen Geburt im Stall hat Josef das göttliche Würmchen dann endgültig als sein Kind angenommen.
Die Engel kamen, die Hirten kamen, die Könige kamen. Durchaus möglich, dass sich Josef bei all diesen Besuchen im Hintergrund gehalten hat. Vielleicht war er auch gar nicht da, sondern auf der Suche nach einer Bleibe für seine Familie. Und vielleicht hat man ihm dabei schon zugeflüstert, dass König Herodes alle Neugeborenen ermorden lassen will. Jedenfalls zögerte Josef keine Sekunde, als ihm sein Engel befahl, mit seiner Familie nach Ägypten zu fliehen. „Maria und Josef waren jung. Die haben nicht lange nachgedacht“, vermutet Florian Barth. „Sie sind einfach losgelaufen, wie so viele Menschen heute wieder.“
Ob Maria ihrem Sohn vom Erzengel Gabriel erzählt hat ?
Was mögen die Teenager-Eltern erlebt haben auf dem 400 Kilometer langen Weg nach Ägypten ? Wovon hat die junge Familie gelebt? Wie war die weite Reise zurück nach Nazareth? Irrelevant, sagt Florian Barth. „Sie haben es geschafft. Gemeinsam.“ Das macht stark fürs ganzes Leben.
Zwölf ruhige Jahre. Josef übernahm das väterliche Bauunternehmen, später stieg Jesus als Lehrling mit ein. „Handwerker gehörten im antiken Galiläa zur Mittelschicht“, erklärt Diakoniepfarrer Barth. „Josef war nicht reich, aber er hatte sein Auskommen.“ Maria und Josef bekamen wohl noch mehr Kinder. Gemeinsame. Das Matthäus- wie auch das Markusevangelium erwähnen „Jakobus, Josef, Judas und Simon“ sowie einige Schwestern. Viele der Geschwistern folgten Jesus später als Jünger.
Wann hat der Knabe Jesus gemerkt, dass er anders war als seine Geschwister? Ab wann begriff er sich als Sohn Gottes? „Kinder fragen etwa ab dem Kindergartenalter nach dem Spirituellen. Sie spüren, dass es mehr gibt, als wir sehen und kaufen können“, weiß Katharina Barth-Duran. Sicher war Maria die erste, die mit Jesus über Gott gesprochen hat. Sie war nicht nur fest im jüdischen Glauben verwurzelt, sie konnte auch mit Engeln sprechen. Ob sie ihrem Sohn von Gabriel erzählt hat?
Die schlaflosen Nächte begannen, als Jesu zwölf Jahre alt war
Sowohl Pastoralreferentin Barth-Duran wie auch Pfarrer Barth nicken spontan. Ja, sagen die beiden Theologen, die einander nicht kennen. Maria hat auf jeden Fall mit Jesus darüber gesprochen. Weil sie stolz war auf ihr Gotteskind. „Siehe, von nun an preisen mich selig alle Geschlechter“, jubelte Maria, als sie während ihrer Schwangerschaft bei ihrer Base Elisabeth zu Besuch war. Das klingt nicht so, als habe sie vorgehabt, der Welt dieses Wunder zu verheimlichen. Warum sollte sie dann ausgerechnet ihrem Sohn gegenüber geschwiegen haben?
Und Josef? Viele Stunden arbeitete er Tag für Tag gemeinsam mit Jesus auf den Baustellen rund um Nazareth. Er hat dem Jungen beigebracht, wie man mit Beil, Säge, Hammer und Schabeisen umgeht. Wie man große Balken sägt und Türen einpasst. Viel Zeit für Männergespräche. Welche Ratschläge hat Josef seinem Sohn mit auf den Lebensweg gegeben? Die Beziehung zwischen Jesus und Maria mag eng gewesen sein. Die zwischen Jesus und Josef war es auch.
Mit umso brutaler traf die Eltern das Erwachsenwerden des Sohnes. Die schlaflosen Nächte begannen, als der Zwölfjährige auf dem Rückweg von einer Pilgerreise nach Jerusalem verschwand. Drei Tage und drei Nächte suchten Josef und Maria außer sich vor Angst, dann entdeckten sie Jesus im Tempel. Seelenruhig legte dort die heilige Schrift aus. „Kind, wie konntest du uns das antun?“, stammelte Maria unter Tränen. Worauf Jesus mit der geballten Arroganz der Jugend antwortete: „Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört?“
Ein normales bürgerliches Leben kam für den Sohn Gottes nicht in Frage
Die heilige Familie war keine Heile-Welt-Familie, sagt Katharina Barth-Duran. Sie war ein Flickenteppich wie die meisten anderen Familien auch. Maria und Josef haben sich schwer getan mit der Ablösung ihres Sohnes. Wie die meisten anderen Eltern auch. „Wer bin ich und wo komme ich her, ist die Zentralfrage der Pubertät“, überlegt die Eppinger Pastoralreferentin. „Kinder, die ein Elternteil nicht kennen, fangen in diesem Alter oft an, nach ihm zu suchen.“
Jerusalem war für Maria und Josef ein Warnschuss. Ein normales bürgerliches Leben kam für den Sohn Gottes nicht in Frage. Das hatten sie sich, eingebunden in den friedlichen Familienalltag, zuvor nie klar gemacht. „Alle Eltern wünschen sich für ihre Kinder Normalität mit einem kleinen Plus“, lächelt Florian Barth. Die „Kinder“ hingegen wollen die Welt ausprobieren und bis an die Grenzen gehen. Jesus von Nazareth ging in die Wüste. Vierzig Tage lang. Allein. Er fastete und betete. Er begegnete dort den Schatten seiner Seele. Und besiegte sie.
Danach hatte der Gottessohn seinen Weg gefunden. Es war der schwerstmögliche Weg. Auch für die Eltern. Immer wieder hat der Sohn sie weggestoßen, wenn sie ihn halten wollten. Oft brutal. „Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder?“, rief er verärgert aus, als ihm mitgeteilt wurde, dass seine Familie auf ihn warte. „Kinder muss man gehen lassen“, sagt Katharina Barth-Duran aus Eppingen. „Sie müssen ihren Weg ganz allein finden.“
Frauen halten aus. Männer ergreifen die Flucht und rennen um ihr Leben.
Den schwersten Weg ihres Lebens musste auch Maria allein gehen. Auf Golgota fehlte von Josef jede Spur. Er war bereits gestorben, ist die gängige Erklärung. Florian Barth ist sich da nicht so sicher. „Es gibt einen Gender-Umgang mit Gefühlen und Schwierigkeiten“, überlegt der evangelische Pfarrer. „Frauen bleiben und halten aus. Männer ergreifen die Flucht und rennen um ihr Leben.“ Vielleicht hat es Josef einfach nicht geschafft, seinen Jungen da hängen zu sehen.
Doch soweit sind wir noch nicht. Jetzt ist erst einmal Weihnachten, und zwei Teenager sitzen zusammengekauert in einem Holzverschlag mit drei Decken um den Schultern. Es zieht. Maria hält das göttliche Bündelchen, Josef blickt hinauf zu der winzigen Dachluke. Am dunklen Himmel ist ein Stern aufgegangen. Fast sieht es aus, als habe er einen Schweif. Josef lächelt.