„Einfach ein genialer Bau“

St. Michael ist eine Schönheit. Doch das katholische Gotteshaus steht seit Jahren verwaist.

Sie ist noch immer eine Schönheit. Klar, elegant, mondän. Mit extravaganter Linienführung und spektakulärem Licht. Wenn es eine Coco Chanel unter den Heidelberger Kirchen gäbe, dann wäre das St. Michael in der Südstadt. Erbaut 1962. Doch das avantgardistische Gotteshaus steht seit Jahren verwaist.

Eine Gemeinde hat St. Michael nicht mehr, eine Heizung auch nicht. Wohl aber einen ökumenischen Freundeskreis, der um die Zukunft „seines“ Gotteshauses ringt. Immerhin ist St. Michael die einzige Kirche in den boomenden neuen Heidelberger Stadtteilen „Südstadt“ und „Bahnstadt“. Läge da nicht eine experimentelle Nutzung nahe? Skulpturen mit Psalmen, Jazz mit Meditation, Zirkus mit Gebet. Ein Brainstorming zum 60. Geburtstag von St. Michael. 

St. Michael ist die einzige Kirche in den boomenden neuen Heidelberger Stadtteilen „Südstadt“ und „Bahnstadt“.

Die stattliche Betonskulptur aus dem Jahr 1962 verfügt über 600 Sitzplätze.

Jeder Mensch, der eine fremde Stadt betritt, sucht zuerst nach dem Kirchturm. Weil Kirchtürme Landmarken sind. Sie geben Orientierung, Geborgenheit, Halt. In der Bahnstadt, dem jüngsten und größten Stadtteil Heidelbergs, fehlt solch eine Landmarke. Die beiden großen christlichen Konfessionen haben sich vor Jahren gegen den Bau einer Kirche am heutigen Gadamerplatz entschieden. Stattdessen mieteten sie einen „Kirchenladen“, der aber nie so recht florieren mochte.

Genau das Gegenteil geschah 1962, als die Südstadt gebaut wurde. Das erste Bauwerk, das man damals in Angriff nahm, war die katholische Pfarrkirche. Eine stattliche Betonskulptur mit 600 Sitzplätzen. „Natürlich wussten wir, dass die kleine Südstadt keine so große Kirche braucht“, erinnerte sich Bertold Mogel, der 42 Jahre katholischer Pfarrer an St. Michael war, kurz vor seinem Tod in einem Gespräch. „Aber wir haben felsenfest damit gerechnet, dass die Amerikaner Deutschland bald verlassen werden. Dann wäre die Südstadt zum größten Stadtteil Heidelbergs herangewachsen.“ Eine Fehleinschätzung. 

Der Campanile ist nur Schmuck. Glocken hingen nie darin.

Die revolutionäre Architektur der Kirche wies 1962 weit über das Zweite Vatikanische Konzil hinaus.

Der Entwurf von St. Michael war ein Wagnis. Revolutionäre Architektur. Kritisch beäugt vom Erzbischöflichen Ordinariat in Freiburg. Manfred Schmidt-Fiebig, damals Leiter des Erzbischöflichen Bauamts in Heidelberg, hat eine Kirche gezeichnet, die weit über das Zweite Vatikanische Konzil hinauswies. Und das zu einem Zeitpunkt, an dem das Konzil gerade erst begonnen hatte. Niemand konnte 1962 mit Sicherheit voraussagen, ob Papst Johannes XXIII. tatsächlich den Mut haben würden, eine völlig neue Liturgie zu installieren.

Durchgängig in Landessprache. Mit Priestern, die während des gesamten Gottesdienstes ihr Gesicht der Gemeinde zuwenden, selbst wenn sich die Wandlung vollzieht. Man träumte von Laienlektoren und Kommunionshelfern. Die katholische Zukunft schien hell und modern, frei und offen. Und St. Michael war das steingewordene Antlitz dieser Vision. 

An dem Bronzekreuz über dem Altar hängt nicht der gemarterte Jesus, sondern der auferstandene Christus schwebt davor.

Die Südstadtkirche ist eine Konstruktion aus Stahlbeton mit fünfeckigem Grundriss, außen komplett mit Bruchsein verkleidet. Der Altar steht frei auf einer Insel, leicht erhöht und doch ungetrennt vom weiten Gemeinderaum. Grazile Bänke orientieren sich strahlenförmig zum Altar hin. Betonbalken folgen der ansteigenden Lamellendecke und vereinen sich an der höchsten Stelle zu einem Strahlenkranz. 

Die gesamte Ausstattung von St. Michael ist bis heute im Original erhalten.

Sensationell ist das Lichtkonzept von St. Michael. Die zartfarbigen Fenster sind von Lamellenwänden verdeckt, sie das Licht gebündelt zur Altarinsel hinführen. Dadurch entsteht eine ruhige, meditative Stimmung. Blickkontakt mit der Außenwelt gibt es nicht. Alle Materialien sind hochwertig und modern. An dem Bronzekreuz, das über dem Altar schwebt, hängt nicht der gemarterte Leib Jesu. Sondern der auferstandene Christus schwebt lächelnd davor.

Die gesamte Ausstattung von St. Michael bis heute im Original erhalten. Nur der freistehende Campanile – ein Glockenturm ohne Glocken – wurde vor Jahren saniert. Die Kirche ist ein „typusbildender Vorreiterbau“, urteilte der Denkmalschutz. Und wegen ihrer historischen Bedeutung besonders geschützt. 

„Man müsste nur die Bänke herausnehmen, dann wäre der Raum multifunktional nutzbar.“ Für Konzerte, Lesungen, Kinder, Kunst …

Was aber nichts hilft, wenn sich niemand findet, der St. Michael dauerhaft betreibt. „Die Zentralheizung ist seit Jahren kaputt“, sagt Pfarrer Johannes Brandt, der Leiter der Heidelberger Stadtkirche. Geschätzte Kosten: 150.000 Euro. Die Betonschale bröckelt: Ein bis zwei Millionen Euro. 70.000 Euro verschlingt St. Michael jährlich an Betriebskosten. Das ist zu viel Geld für die wenigen Gottesdienste, die hier noch gefeiert werden. Findet Pfarrer Brandt. „Wir befinden uns derzeit in Gesprächen zu alternativen Nutzungskonzepten. Sie zielen vor allem darauf ab, den Erhalt der Kirche im Stadtbild zu ermöglichen.“

Die Fenster sind von Lamellenwänden verdeckt. Das erzeugt eine meditative Stimmung.

Georg Klein ist Pfarrgemeinderat in der katholischen Stadtkirche, Organist an St. Michael und Sprecher einer ökumenischen Gruppe, die sich die Rettung des Gotteshauses zum Ziel gesetzt hat. „Der entscheidende Vorteil ist die moderne Architektur“, findet Klein. „Man müsste nur die Bänke herausnehmen, dann wäre der Raum multifunktional nutzbar.“ Zumindest in den acht wärmeren Monaten. St. Michael eigne sich für Konzerte, für Veranstaltungen mit Kindern, für Lesungen, für Vorträge, für Kunst oder sogar für einen Kirchenzirkus. „Diese Kirche“, sagt Klein, „ist einfach ein genialer Bau.“

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