Normalität gibt es bis heute nicht. Immer, wenn sich Mannheims jüdische Gemeinde versammelt, patroullieren Streifenwagen vor der Synagoge. Als Schutz vor Neonazis wie vor arabischen Terroristen. Dabei liegt den Juden nichts ferner, als sich einzubunkern.
„Die Tür unseres Gemeindezentrums steht für alle offen“, betont Schoschana Maitek-Drzevitzky, die Vorsitzende der jüdischen Gemeinde. „Der große Saal wird von den unterschiedlichsten Gruppen genutzt.“ Türkische Familien mieten ihn für Hochzeiten. Die Griechisch-Orthodoxen feiern hier ihren Nationalfeiertag. Die Stadtverwaltung veranstaltet Seminare. „Die Juden sind in Mannheim ein integrierter Teil der Stadtkultur“, sagt Schoschana Maitek-Drzevitzky.
Pide, Kebab, Brautmoden – und dazwischen die jüdische Synagoge.
Die Filsbach, wie die Mannheimer ihre westliche Unterstadt nennen, ist fest in türkischer Hand. Pide, Kebab, Handys, Brautmoden. Mittendrin die Synagoge. Seit 24 Jahren erhebt sich das jüdische Versammlungshaus mit der eindrucksvollen Kuppel und seinen dreihundert Sitzplätzen über dem Quadrat F3.
Ursprünglich war geplant, dass im Erdgeschoss die Männer beten und auf der umlaufenden Empore die Frauen. Doch dazu kam es nie. Wegen des entrüsteten Protests der Damen. Heute befinden sich die Frauenplätze ebenfalls im Erdgeschoss. Die Empore wird nur von Gästen genutzt.
Eine Geschichte wie sie charakteristischer nicht sein könnte für die jüdische Gemeinde Mannheims. Von Hierarchien hält man hier nichts. Lieber beruft man sich auf die Freiheit und die Individualität des Judentums. „Jeder steht allein vor Gott und muss seine Entscheidungen selbst verantworten“, definiert Marlies Studniberg, die Synagogenführerin. Ein Rabbiner, der zu solch einer Schar von Individualisten passt, konnte bislang nicht gefunden werden. Der Kantor leitet die Gottesdienste.
Nur ein winziges silbernes Glöckchen ist von früher übrig geblieben.
Etwa 500 Mitglieder zählt die jüdische Gemeinde Mannheims; die Hälfte davon stammt aus der ehemaligen Sowjetunion. Vor dem Krieg lebten mehr als 7000 Juden in der Quadratestadt. Es muss ein blühendes Gemeindeleben gewesen sein mit prachtvoll ausgestatteten Synagogen. Außer einem winzigen Glöckchen von einem silbernen Tora-Behälter ist nichts übrig geblieben.
„Wir haben lange gehofft, dass wenigstens ein Teil der Kunstschätze irgendwo versteckt läge“, sagt Marlies Studniberg. Doch jetzt müssen sich die Mannheimer wohl eingestehen, dass die Wurzeln ihrer Gemeinde vernichtet wurden. So wie die Familien.
Schoschana Maitek-Drzevitzky kam 1948 zur Welt. In Deutschland. Beide Eltern waren unter dramatischen Bedingungen aus dem KZ geflohen. Kurz nach der Geburt der Tochter emigrierte die Familie nach Israel. Doch der Vater, ein berühmter Fotograf, vertrug das Klima nicht und wurde schwer krank. Als Schoschana neun Jahre alt war, kehrte die Familie nach Deutschland zurück. „Ich kam in ein Land mit Schnee, Kirchen und einer komischen Sprache“, erinnert sich die heutige Gymnasiallehrerin.
Ein jüdisches Kind in den Fünfziger Jahren hatte keine Großeltern mehr. So wenig wie Onkeln und Tanten.
Besonders befremdlich fand das Mädchen, dass ihre Klassenkameraden immer von „Oma“ und „Opa“ erzählten. Diese Worte sagten Schoschana nichts. Ein jüdisches Kind in den Fünfziger Jahren hatte keine Großeltern mehr. So wenig wie Onkel und Tanten, Vettern und Basen. Nur die Angst war geblieben. Ihre ganze Schulzeit über nannte sich Schoschana „Susi“. Bis zum Abitur ahnte niemand, dass sie Jüdin war. „Sag nichts“, hatten die Eltern ihrem Kind eingebläut. „Sag nichts.“
Vergangenheit. Gott sei Dank.
Heute bestehen jüdische Familien wieder aus drei Generationen und die Jungen stehen selbstbewusst zu ihrem Glauben. „Mein Sohn bringt zu Chanukka immer Studienfreunde mit“, erzählt Marlies Studniberg. Trotzdem ist es nicht einfach, in Mannheim nach den jüdischen Gesetzen zu leben. Das Speisegebot beispielsweise sagt, dass sich Juden „koscher“ ernähren sollen. Das bedeutet unter anderem, niemals bei einer Mahlzeit Fleisch und Milchprodukte zusammen zu essen. Mit Käse überbackene Lasagne ist ebenso tabu wie Geschnetzeltes in Sahnesoße oder Eis nach dem Braten.
Gruppen und Vereine kommen von weit her, um die Synagoge zu besichtigen.
Auch der Teller, auf dem einmal Fleisch gelegen hat, darf künftig nicht mehr mit Milchprodukten in Berührung kommen. So wenig wie das Besteck, die Schüsseln und die Töpfe. „Eigentlich kann ein Jude in keinem Mannheimer Restaurant essen“, erklärt Marlies Studniberg.
Selbst Einladungen bei Freunden sind problematisch. Von Schulmensa und Kindergarten ganz zu schweigen. „Ob man so isoliert leben möchte, muss jeder selbst entscheiden“, sagt Schoschana Maitek-Drzevitzky.
Die Vorsitzende der jüdischen Gemeinde ist glücklich darüber, wie gefragt die Führungen durch die Synagoge sind. Von weit her kommen Kindergärten, Schulgruppen oder Vereine, um sich über das jüdische Leben zu informieren. Ein wichtiger Schritt. Denn wie zäh Vorurteile in Köpfen festkleben, zeigt die Bemerkung jenes Siebtklässlers, der sich nach der Führung vor Schoschana Maitek-Drzevitzky aufbaute. „Sie sind wirklich Jüdin?“, fragte der Junge. „Sie sehen gar nicht so aus.“