Stadt ohne Kirchen?

In Mannheim müssen zwanzig Kirchen aufgegeben werden.

Mittendrin in der Unendlichkeit des Thüringer Waldes steht ein Kirchlein, das kein Mensch mehr braucht. Die evangelische Gemeinde von Neustadt am Rennsteig ist überschaubar, einen Pfarrer gibt es nicht mehr. Nur noch die Kirche. Neuromanisch und gut in Schuss. Doch was tun mit solch einem Gotteshaus?

Einfach abreißen sollte man es nicht, nutzlos konservieren kann man es nicht. Die Neustädter haben ein Doppelbett hineingestellt. Direkt unter die Empore. Auf airbnb kann man es buchen. Die Nachfrage ist riesig. Das Kirchlein trägt sich mittlerweile von alleine. 

Nur zwölf von 32 evangelischen Kirchen kann sich Mannheim künftig noch leisten.

Über solch ein traumhaftes Happy-End können Mannheims Protestanten nur neidisch staunen. Sie haben gerade Kassensturz gemacht und sind zu einem verheerenden Ergebnis gelangt: In der Quadratestadt stehen derzeit 32 evangelische Kirchen. Nur zwölf können sich die Mannheimer künftig noch leisten.

Die Kirche von Neustadt am Rennsteig ist jetzt eine „Herbergskirche“.

Weil die Einnahmen durch die Kirchensteuer drastisch einbrechen, und der Unterhalt für die Gebäude immer teurer wird. „Instandhaltung, Heizung, Barrierefreiheit, Brandschutz – das alles lässt sich auf Dauer nicht finanzieren“, sagt Dekan Ralph Hartmann. Und jetzt bröckelt auch noch der Nachkriegsbeton, aus dem im zerstörten Mannheim viel gebaut wurde. Eine Suche nach der Zukunft unserer Kirchen.

Was mit all den aufgegebenen Gotteshäusern geschehen soll, weiß noch niemand.

Die Zahlen erschüttern: 13 Gotteshäuser erhalten von der evangelischen Stadtsynode in Mannheim künftig keinen Cent mehr. Darunter auch die Jonakirche von Helmut Striffler. Ein denkmalgeschütztes Kunstwerk. Sieben weitere werden vorläufig noch benutzt. Bis größere Reparaturen anstehen, dann ist auch für sie Schluss.

Was mit all den aufgegebenen Gotteshäusern geschehen soll, weiß in Mannheim noch niemand. „Wir wollen möglichst keine Kirche abreißen“, betont Hartmann. Eine Schulmensa beispielsweise könne er sich als Nachnutzung vorstellen. Eine Bibliothek, eine Probebühne fürs Theater oder einen Konzertsaal. „Einen Supermarkt eher nicht.“ Aber ernsthaft nachgedacht hat Mannheim über diese Frage noch nicht. Der Schmerz ist noch zu frisch. 

Die denkmalgeschützte Jona-Kirche in Mannheim ist nicht mehr zu halten.

Spirituelle Räume schlagen Wurzeln in den Seelen.

Professor Ulrich Königs ist Architekt in Köln. Er denkt schon seit 25 Jahren über zukunftsfähige Kirchen nach. Und konkretisiert diese Gedanken in futuristischen Umbauten. „Ich glaube, dass manch eine Kirche zu schnell aufgegeben wird“, warnte Ulrich Königs bei einem Vortrag in Heidelberg. „Die Gemeinde will das Problem so rasch wie möglich aus den Büchern haben und verkauft an den nächstbesten Investor.“ Damit ist die Enttäuschung vorprogrammiert. Weil das Kirchlein doch irgendwann einem seriellen Wohnblock weichen muss.

Architekt Königs rät dringend dazu, Transformationen vorsichtig anzugehen. „Man gibt ja nicht nur die Kirche auf, sondern auch die Menschen, die in ihr gebetet haben.“ Spirituelle Räume, weiß Königs, schlagen Wurzeln in den Seelen. Einmal habe er eine Kirche zu einem Kindergarten umgebaut. Am Ende sei ein winziger Raum frei geblieben. Für ein Kapellchen. Die Erzieherinnen waren überglücklich gewesen, erzählte Königs. „Dass sie jetzt wenigstens noch ein kleines Stückchen ihrer früheren Kirche behalten dürfen.“

Stararchitekten aus Köln: Ilse Maria Königs und Professor Ulrich Königs.

Bis 2060 werden sich sowohl die evangelische wie die katholische Kirche halbiert haben.

Jede der beiden großen Konfessionen in Deutschland besitzt rund 75.000 Gebäude. Darunter sind je etwa 25.000 Kirchen. Ein riesiger Immobilienbestand, der Jahr für Jahr eine Milliarde Euro an Bauunterhalt verschlingt. Gleichzeitig sinkt sowohl die Zahl der Kirchenmitglieder wie der Taufen dramatisch. Bis 2060, so schätzt man, werden sich sowohl die evangelische wie die katholische Kirche halbiert haben.

All diese Zahlen hat Professor Thomas Erne zusammengetragen. Der evangelische Pfarrer leitete lange Jahre das EKD-Institut für Kirchenbau in Marburg. Jetzt ist er im Ruhestand, und das Institut geschlossen. Aus Geldnot. 

Thomas Erne glaubt nicht, dass es jemals eine Welt ohne Kirchen geben wird. Weil sakrale Räume an die tiefsten Grundbedürfnisse der Seele rühren. „Wenn sechs Millionen Menschen im Jahr den Kölner Dom besuchen, dann finden sie dort doch etwas“, überlegte Erne bei seinem Vortrag in Heidelberg. Vielleicht eine kleine Ahnung davon, wie sich die Ewigkeit anfühlt. Es ist eine Empfindung, sagte der Professor, die man am ehesten mit der Liebe vergleichen kann. „Man kann nicht mehr davon lassen, so schön ist es.“

Professor Thomas Erne aus Marburg.

Unterwasserfeeling vor dem Altar. Wer einmal hier war, kommt immer wieder.

Am nördlichsten Zipfel Deutschlands, in Schillig an der Nordseeküste steht eine Kirche, die eigentlich kein Mensch braucht. Weil sie katholisch ist und man in Ostfriesland flächendeckend evangelisch glaubt. St. Marien sitzt trotzdem immer voll. Mit Urlaubern, die ihrer Seele hier eine kleine Auszeit gönnen. Die Kirche nämlich liegt direkt neben dem größten Campingplatz Deutschlands. Und sie bietet in ihrem Inneren spektakuläre Lichterlebnisse.

Ulrich Königs hat St. Marien entworfen. Als riesige Welle, die gerade bricht. Eine komplizierte Dachkonstruktion lässt das Sonnenlicht durch den Kirchenraum tanzen, wo es auf blaue Leuchtdioden trifft. Unterwasserfeeling vor dem Altar. Wer einmal hier war, kommt immer wieder. 

Die katholische Kirche von Schillig an der Nordsee.

Niemand fühlt sich erhoben in einer Kirche, durch deren Fenster er hinausschauen kann.

Einen gelungenen Kirchenraum erkennt man daran, dass die Menschen in ihm augenblicklich still werden. Ganz gleich, welchem Kulturraum sie entstammen. Definiert Professor Thomas Erne aus Marburg. „Sobald wir eine Kirche betreten, wollen wir nicht mehr reden. Wir wollen unsere Sinne ausfahren wie Tentakel, um diese so besondere Atmosphäre aufzusaugen.“ Der Raum selbst verkündet Gott. Je spektakulärer er gestaltet ist, desto eindringlicher. „Der Petersdom ist schon deshalb so attraktiv, weil unanständig und unermesslich groß ist. Er vermittelt jedem Menschen sofort das Gefühl tiefster Ehrfurcht.“

Sie kann noch gesteigert werden durch Orgelklänge und verzaubertes Licht. Niemand, sagte Thomas Erne in seinem Vortrag, fühlt sich erhoben in einer Kirche mit Tageslicht und Fenstern, durch die er hinausschauen kann. „Kirchen sollen uns die Unendlichkeit der Transzendenz vor Augen halten. Und nicht den nächsten Apfelbaum.“

Alles geschieht heute spontan. Lange vorgeplant wird kaum noch. Man will am Frühstückstisch entscheiden.

Die Lukaskirche in Mannheim- Almenhof hat auch ausgedient.

Die Zeit der schlichten Gemeindekirchen, in denen sich Sonntag für Sonntag um zehn Uhr morgens die Bewohner eines Stadtteils versammeln, ist vorbei. Beobachtet Ralph Hartmann, der evangelische Dekan von Mannheim. Und sie wird auch nicht wiederkommen. „Wir finden heute in den Städten einen starken Pluralismus, einen starken Individualismus und sehr viel Mobilität.“ Der Radius, in dem die Menschen leben, ist viel größer geworden. „Heute wohnt man in A, arbeitet in B, verbringt seine Freizeit in C, und geht mit den Kindern auf den Skateboard-Park in D“, skizziert Hartmann das moderne Leben. 

Alles geschieht spontan. Lange vorgeplant wird kaum noch. Man will am Frühstückstisch entscheiden. Ist dafür aber bereit, längere Wege in Kauf zu nehmen. „Deshalb brauchen wir in Mannheim eine Vielfalt von Gottesdienstangeboten, die verlässlich immer zur selben Zeit stattfinden.“ Einen Kindergottesdienst in A, einen Orgelvirtuosen in B, einen Gottesdienst mit Abendmahl in C, einen populären Gastprediger in D, Rock und Pop in E … .

Der Künstler behandelte den Kirchenraum mit Leuchtdioden und Neonfarbe. Schon standen die Leute Schlange.

Die Madonna von Goldscheuer war in New York auf dem Titelblatt.

Im äußersten Südwesten Deutschlands, wo die Europabrücke über den Rhein führt, steht eine Betonkirche aus den 1960-Jahren, die kein Mensch mehr haben wollte. St. Maria, Hilfe der Christen, in Goldscheuer ist ein phantasieloses Produkt aus der Retorte. Allerweltsarchitektur. Der Abriss der Kirche war bereits terminiert, nur der Pfarrer mochte noch nicht von seinem Gotteshaus lassen.

In einer letzten verzweifelten Aktion kontaktierte er Stefan Strumbel, einen wilden Streetart-Künstler aus dem Schwarzwald und gab ihm freie Hand für die Umgestaltung der Kirche. Strumbel malte die Altarwand eine riesige quietschbunte Madonna mit Trachtenhut und mißmutigem Christkind. Dann behandelte er den Kirchenraum mit Leuchtdioden und zig Eimern Neonfarbe. Und schon standen die Leute Schlange. Sogar die „New York Times“ hat die Kirche von Goldscheuer auf ihre Titelseite gedruckt.  

Die Kirchen müssen endlich lernen, das anzubieten, was die Menschen haben wollen. Sagt Thomas Erne.

Ein Traum aus Himmelslicht im Kiefernhain: Die Pfingstbergkirche ….

Die beiden großen Kirchen in Deutschland müssen endlich anfangen, von „außen nach innen“ zu denken. Sagte Professor Thomas Erne aus Marburg beim Kirchenbau-Symposium in Heidelberg. Er meint damit nichts anderes, als dass man das anbieten, was die Menschen haben wollen. Eine Neonmadonna, eine Umarmkirche, eine Heilkräuterkirche, einen Raum der Stille, eine Herbergskirche. „Das sind doch alles gute Sachen. Und religiös anschlussfähig sind sie auch“, findet Erne. „In der Bibel wird dauernd geschlafen und geträumt.“ Und jede Wellnesskirche kann an die Heilungsgeschichten im Neuen Testament anknüpfen. 

Ralph Hartmann wird in den kommenden Jahren einen ganzen Sack von Idee brauchen, um seine Mannheimer Kirchen zukunftsfähig zu machen. Was beispielsweise wird aus der Pfingstbergkirche? Das ist eine traumschöne Betonskulptur mit viel Glas von Stararchitekt Carlfried Mutschler. Sie steht inmitten eines lichten Birken- und Kieferwäldchens. Ohne Gemeinde, praktisch unheizbar, aber unter allerhöchstem Denkmalschutz. Dekan Hartmann seufzt. Vielleicht finde sich ja doch noch ein Liebhaber. „Es gibt solche Wunder.“ 

„Mein Alptraum wäre es, wenn wir eine Kirche endgültig schließen müssen. Und dann kommt der Denkmalschutz und verbietet den Abriss.“

… sucht ebenfalls einen neue Lebenssinn.

Im Stadtteil Feudenheim beispielsweise konnte die bereits zum Abriss freigegeben Epiphaniaskirche in letzter Sekunde gerettet werden. Weil ein großer Mannheimer Einzelhändler 1,2 Millionen Euro auf den Tisch gelegt hat. Er verwandelte Epiphanias in eine „Kulturkirche.“ Jetzt bietet sie  200 Tage im Jahr ein exquisites Musik- und Kunstprogramm.

„Mein Alptraum wäre es“, seufzt Dekan Hartmann, „dass wir eine Kirche endgültig schließen müssen. Und dann kommt der Denkmalschutz verbietet den Abriss.“ Das Resultat wäre eine Brache. Mitten in der Stadt. „Das wäre furchtbar. Das will keiner.“

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