Der Aushang war türkisgrün wie ein Waldsee, am Rand erahnte man ein mattes Kreuz. „Nichts machen“, stand auf dem Plakat geschrieben. Jeden Dienstagabend, eine dreiviertel Stunde lang. Ein seltsames Angebot. Das aber gut zum Advent passt. Denn eigentlich ist der Advent die Zeit der Stille.
Die Welt wartet auf den Heiland, das Licht leuchtet spärlich, die Lieder künden von Sehnsucht. Von alters her trägt der Advent violett, die Farbe der Buße und des Fastens. Violett wuselt nicht, violett wartet. Still, nüchtern, hellwach. Warum also nicht ausprobieren, was passiert, wenn man „nichts macht“. Ein Versuch über das Stillwerden.
„Wir Menschen sind in der Lage, unser Innerstes aus der Beobachterperspektive wahrzunehmen“
„Pluspunkt“ nennt sich das neue Ökumenische Seelsorgezentrum im Neuenheimer Feld vor den Toren Heidelbergs. Im „Pluspunkt“ gibt es alles, was der Seele gut tut. Halt, Trost, Gebet, Gespräche, Literatur, Musik, Kunst – und Meditation in vielen Formen. Das türkisgrüne Nichts-tun-Plakat führt zur Vipassana-Meditation.
„Wir Menschen sind erstaunlicherweise in der Lage, unser Innerstes aus der Beobachterperspektive wahrzunehmen“, erklärt Nikolaus Schmerbeck. Der katholische Pfarrer und approbierte Arzt leitete den „Pluspunkt“ zusammen mit der evangelischen Pfarrerin Marit Rödszus-Hecker. „Bei der Vipassana-Meditation schaue ich mir liebevoll an, was mein Gehirn gerade so denkt und mein Körper fühlt.“ Am Dienstagabend, eine Dreiviertelstunde lang.
Stille ist selten geworden in unserer beschäftigten Welt. Möglichst kein Augenblick soll ungenutzt vergehen. „Der Drang, jede Minute optimal zu nutzen, schließt mittlerweile alle Bereiche unseres Lebens ein“, diagnostiziert der Berliner Philosoph Fabian Goppelsröder. „Verspätungen und Pausen machen uns nervös. Jede Inaktivität ist ein Problem.“ Ohne Handy fühlt man sich nackt, ohne Internetzugang unvollständig. Doch irgendwann müssen all die Informationen, die wir in uns hineinschaufeln, ja auch verarbeitet werden. Das geht nur in der Stille. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass zwei Stunden Stille am Tag das Wachstum der Nervenzellen im Mäusehirn fördert.
„Christliche Mystiker haben in der Stille ähnliche Erfahrungen gemacht wie die Zen-Patriarchen“
Die Religionen wussten schon immer um die Kraft der Stille. Das Alte Testament erzählt vom Propheten Elija, der darauf wartete, dass Gott zu ihm spreche. „Doch der Herr war nicht im Sturm, der Herr war nicht im Erdbeben, der Herr war nicht im Feuer.“ Er kam als „sanftes, leises Säuseln“. Und das Neue Testament wird nicht müde zu berichten, dass sich Jesus Christus immer wieder an einsame Orte zurückzog, um zu beten. Nächtelang.
„Christliche Mystiker wie Teresa von Avila oder Johannes vom Kreuz haben in der Stille ähnliche spirituelle Erfahrungen gemacht wie die Zen-Patriarchen oder die Sufis“, weiß Professor Peter Terness. Früher war er erfolgreicher Immunologe. Jetzt ist er Zen-Lehrer. Seine Linie heißt „Leere Wolke“, der ehemalige Benediktinermönch Willigis Jäger hat sie begründet. Auch Terness meditiert mit seinen Schülern im Ökumenischen Seelsorgezentrum im Neuenheimer Feld.
„Meditation ist kein Training sondern eine Auszeit. „
Der „Pluspunkt“ liegt im Erdgeschoss eines nagelneuen High-Tech-Hochhauses. Sichtbeton und schwarzer Schiefer, viel Glas. Man blickt auf eine Wiese und einen gepflasterten Innenhof. Rundum stehen Hochhäuser. Keine Kerze, nirgends.
Im Meditationsraum herrscht eine klare, sachliche Atmosphäre. Das Deckenlicht ist leicht gedimmt. Auf dem Boden liegen dünne Matten, im Schrank stapeln sich Kniebänkchen, Kissen und Decken. Wer möchte, kann sich auch einen Stuhl nehmen. „Wichtig ist, dass man bequem und entspannt sitzt“, erklärt Pfarrer Schmerbeck. „Mit aufrechtem, stabilem Oberkörper.“ Schneidersitz geht nicht. Anlehnen auch nicht. Die Sitzposition sollte während der Meditation nicht verändert werden, die Augen bleiben geschlossen. Damit genug der Vorgaben. Meditation, sagt Schmerbeck, ist kein Training sondern eine Auszeit. „Ich muss nichts machen, leisten oder planen. Ich darf in Ruhe bei mir selbst sein.“
„Waldbaden“ liegt besonders im Trend. Bei jedem Schritt lockern sich die Sinne.
Pfarrerin Marita Rödszus-Hecker gelingt das am besten draußen im Wald. „Ich gehe schon seit Jahrzehnten bei jedem Wetter, ungefähr eine Stunde lang.“ Die evangelische Seelsorgerin wählt grundsätzlich denselben vertrauten Weg, damit sie nicht auf Markierungen oder Abzweigungen achten muss. Sie kann sich ganz darauf konzentrieren ihre Sinne zu lockern. Atmen, lauschen, riechen, schmecken. Luft, Erde, Himmel, Gras, Bäume. „Mit jedem Schritt lässt man mehr los, die Gedanken schweifen, neue Ideen kommen“, schwärmt Marita Rödszus-Hecker. Nach dem Spaziergang zündet sie oft eine Kerze an. „Das gibt so ein gnädiges Licht.“
Pfarrerin Rödszus-Hecker liegt mit ihrer Wald-Affinität im Trend. Wohin man auch schaut, formieren sich Gruppen zum gemeinsamen „Waldbaden“. Man geht in Stille, lässt die Natur und die uralten Bäume auf sich einwirken. Manche Waldbadende umarmen die Bäume auch. Und im Sommer legen sie sich gern ins Moos. Doch Vorsicht: Einmal Wald, einmal Kerze, einmal Meditation bringen nicht viel. „Stille braucht Kontinuität, damit sie zur Haltung wird“, sagt Marita Rödszus-Hecker. Im Prinzip sei das wie beim Sport. Auch die innere Haltung muss man trainieren.
Das größte Problem: Unser Gehirn lässt sich nicht ausschalten
„Mehrmals am Tag zehn Minuten meditieren“ empfiehlt Zen-Lehrer Terness seinen Schülern. „Es ist eine lange Wegstrecke, bis man sich vom egozentrischen Denken löst, um sich absichtslos der Stille hinzugeben.“ Zazen nennt sich die Meditationsform, die Terness lehrt.
Das Wort kommt aus dem Japanischen. „Za“ heißt sitzen, „Zen“ steht für Stille, Sammlung, Versunkenheit. Ziel des Zazen ist es: „Im kontemplativen Erlebnis die Erfahrung des Absoluten machen.“ Das Absolute. Ein anderes Wort für Gott? Ja und nein, sagt Peter Terness. Im Zen gebe es die Vorstellung nicht, dass die Menschen auf ein Paradies hinleben, in dem sie für ihre guten Taten belohnt werden. „Wir sitzen nicht, um dafür später eine Belohnung zu erhalten. Wir sitzen einfach. Und betrachten. Ohne etwas zu erwarten und ohne zu werten.“
Das klingt einfach, ist aber furchtbar schwer, sagt Professor Terness. Weil wir unser Gehirn nicht abschalten können. Terness: „Im Laufe der Evolution haben die Menschen eine Software entwickelt, die immerfort arbeitet. Das ist auch gut so. Denn ohne dieses logische Denken hätten wir den Säbelzahntiger nicht überlebt.“ Der Preis dieses Überlebens sei die „Vertreibung aus dem Paradies“ gewesen. Die einzige Möglichkeit dorthin zurückzukehren, sagt Peter Terness, bestehe darin, „unser Ego und unserer Streben nach dem Gewinnen aufzugeben und nur noch zu betrachten.“ Drei Mal 25 Minuten sitzt die „Leere Wolke“ in der Stille. Dazwischen geht man jeweils fünf Minuten schweigend.
Versuch fehlgeschlagen. Danke, Hirn.
„Wenn es nur einmal so ganz stille wäre. Wenn das Zufällige und Ungefähre verstummte und das nachbarliche Lachen, wenn das Geräusch, das meine Sinne machen, mich nicht so sehr verhinderte am Wachen -:“
Ach, Rilke. Tatsächlich ist „das Geräusch, das meine Sinne machen“ der größte Störfaktor beim Sitzen in der Stille. Jetzt gerade soll man sich eigentlich ganz in seinen linken Fuß hineinfühlen. Doch was macht der Kopf. Er bringt diese vermaledeite Abfuhr vor ein paar Tagen wieder hoch. Vorbei ist es mit der Seelenruhe, vorbei mit der Stille. Versuch fehlgeschlagen. Danke, Hirn. Was tun?
„Sich auf keinen Fall Druck machen“, rät Nikolaus Schmerbeck, der Pluspunkt-Pfarrer. Sondern ruhig und still wieder die Perspektive des Beobachters einnehmen. „Das bin nicht ich, der das denkt. Das ist mein Gehirn.“ Aus der Distanz könne man sich dann „liebevoll-akzeptierend“ all das anschauen, was das Hirn so denkt. Und nach einer Weile verabschiedet man sich freundlich von diesen Gedanken, lässt sie weiterziehen und kommt zur Ruhe.
Das Beobachten auf der Distanz helfe auch bei körperlichen Schmerzen, sagt Pfarrer Schmerbeck. Wenn man beispielsweise in der Stille ein Ziehen im Arm spürt, konzentriere man seinen Gedanken ganz auf diese Stelle. „Erstaunlicherweise verändert sichdurch diese Fokussierung etwas. Manchmal verschwindet der Schmerz sogar, weil er keine Aufmerksamkeit mehr braucht.“
Dann lächelt der Seelsorger plötzlich. Für ihn sei Meditation Theologie in Reinform. „In dem Moment, in dem ich wirklich zu mir komme, komme ich automatisch auch zu dem, der mich geschaffen hat und der immer bei mir ist.“