Einen Propheten übersieht niemand. Weil er eine so gewaltige Ausstrahlung hat, dass er schon fast leuchtet. Und weil er schonungslos jeden Misstand aufdeckt. Doch Vorsicht: Propheten sind keine Abgesandten des Himmels und schon gar keine Engel. „Sie sind normale Menschen wie wir alle“, definiert Thomas Rutte, der katholische Hochschulpfarrer von Heidelberg. Mit dem Unterschied, dass Propheten jeden noch so kleinen Haarriss im Weltgetriebe erkennen.
„Propheten merken sofort, wenn ein scheinbar harmloses Phänomen zu einem Dammbruch in der Gesellschaft führen kann.“ Vielleicht ist das ja die Aufgabe für diesen Advent: Wachsam zu sein wie ein Prophet. Auf die Zeichen zu achten. Und: Sie hellsichtig zu deuten.
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Der Advent ist die große Wartezeit des Jahres. Eine Zeit der Sehnsucht, eine Zeit des Hinhörens, eine Zeit der Durchlässigkeit zwischen Himmel und Erde. Die Tage sind kurz, die Wälder stehen kahl, die Nächte scheinen endlos. Doch Dunkelheit kann auch wacher machen, weil sie die Aufmerksamkeit steigert: Je weniger das Auge sieht, desto schärfer reagieren die anderen Sinne. Auch Gefühle nimmt man in diesen langen Nächten intensiver wahr als an den hellen Tagen des Sommers.
„Propheten sind kluge Personen“, überlegt Universitätspfarrer Thomas Rutte. „Sie wissen, dass sich alle großen Prozesse in unserem Leben und in der Geschichte schleichend vollziehen“. Die Vorstellung, dass sich die Welt von einem Tag auf den anderen schlagartig verändert, entspringe allein unserer Unaufmerksamkeit. „Wirkliche Umwälzungen“, glaubt Rutte, „kündigen sich stets lange im Voraus an. Durch eine Flut von Zeichen.“ Deshalb die Propheten. Das Wort stammt aus dem Griechischen und bezeichnet Menschen, die die Botschaften der Götter übermitteln und zukünftige Ereignisse vorhersagen. Erfreulich sind ihre Prognosen allerdings in den seltensten Fällen. Gemütlich niemals. Sie verlangen stets Aktion. Das mag der Mensch nicht, also verscheucht er lieber die Unruhestifter. „Doch in letzter Konsequenz“, sagt Rutte, „behalten die Propheten immer Recht.“
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Jeremia lebte etwa von 660 bis 580 vor Christus und stammte aus einem alten Priestergeschlecht. Seine Rolle in der Geschichte Israels war vielleicht die undankbarste, die es je gegeben hat. Weil er dem Volk Juda mitteilen musste, dass es untergehen wird, wenn es seinem liederlichen Lebensstil nicht abschwört. Eine Botschaft, an der Jeremia selbst am meisten litt. Weshalb er als „der weinende Prophet“ in die Geschichte eingegangen ist. Jeremia hat nichts unversucht gelassen, um die Menschen wachzurütteln. Er hat gepredigt, geschimpft, gebetet, geredet, gefleht, gebettelt. Man hat ihn dafür geschlagen, angekettet und in eine verschlammte Zisterne geworfen, wo er fast ertrunken wäre. Als Jerusalem schließlich fiel, wurde auch der Prophet Jeremia nach Ägypten verschleppt. Dort ist er gestorben.
„Warnzeichen wahrnehmen, sie dechiffrieren und Entwicklungen prognostizieren kann eigentlich jeder Mensch.“ Meint Hochschulpfarrer Thomas Rutte. Man müsse nur mit offenen Augen durch die Welt gehen und lernen, die Miniaturen zu lesen. „Ich habe als Priester sehr viele Paare getraut“, erzählt Rutte. „Treffe ich eines dieser Ehepaare nach einer gewissen Zeit wieder, dann merke ich sofort, ob sich kleine Sprünge in der Beziehung gebildet haben. Solche winzigen Veränderungen im Umgang miteinander, führen letztlich immer zum Kollaps.“ So arbeiten Propheten.
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Ignatius von Loyola, der Gründer des Jesuitenordens, hat deshalb allen Menschen ans Herz gelegt, jeden Abend den vergangenen Tag noch einmal Revue passieren zu lassen. Am besten schriftlich. Denn: „Nicht das Vielwissen sättigt die Seele, sondern das innere Verkosten der Erlebnisse.“ Zehn Minuten, vielleicht fünfzehn – mehr Zeit braucht es nicht für solch einen Tagesrückblick. Stunde um Stunde wird das Erlebte „ausgepackt“ und auf dem Tisch ausgebreitet, wie der Inhalt einer Einkaufstüte. Das geht nur schriftlich. Danach fühlt man sich entweder wunderbar „aufgeräumt“. Oder man entdeckt tatsächlich hauchfeine Risse im Leben, denen man dringend auf den Grund gehen sollte. Auch so geht Prophet.
Der Advent ist die Zeit der Dunkelheit und der Dürre.Von Alters her tragen die Kirchen in den vier Wochen vor Weihnachten violett, die Farbe der Buße, die Farbe der Besinnung, die Farbe des Fastens. Violett strahlt nicht, violett wuselt nicht, violett wartet. Enthaltsam, asketisch, still. In früheren Jahrhunderten versammelten sich die Menschen schon vor Sonnenaufgang zum Gottesdienst im Kerzenschein. „Rorate-Ämter“ nennt man diesen Brauch in der katholischen Kirche. Nach einem Vers aus dem Buch des Propheten Jesaja: „Rorate caeli desuper et nubes pluant justum.“ Tauet, ihr Himmel, aus der Höhe und ihr Wolken, lasst regnen den Gerechten.
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Der Prophet Jesaja wirkte zwischen 740 und 701 vor Christus im Land Juda. Und er agierte komplett anders als sein Vorgänger Jeremia. Jesaja war vornehm, selbstbewusst, reich, eloquent und verheiratet mit einer bildschönen Prophetin. Das Paar hatte Kinder. Man hätte es sich gemütlich machen können und das Leben genießen. Aber solch ein bequemer Weg ist für einen Propheten undenkbar. Weil er zu klar sieht. Er durchschaut jede Scheinheiligkeit, jede Oberflächlichkeit, all die Ungerechtigkeiten, die Lügen, die Verbrechen. Der neue König Manasse hatte sogar den barbarischen Kult der Kinderopfer wieder zugelassen. Wie hätte Jesaja da schweigen können? Umfänglich ist das alttestamentarische „Buch Jesaja“. Voll von Reden, Beschwörungen und Verfluchungen. Warnungen, Gesichten und Weissagungen. Jesaja starb, als er sich auf der Flucht vor König Manasse in einem hohlen Baum versteckte. Der König ließ den Baum in der Mitte durchsägen.
„Propheten sind normalerweise eher schwermütige Seelen“, beobachtet Thomas Rutte. „Weil sie eine Neigung dazu haben, das Haar in der Suppe zu erkennen und Schattenwürfe an sich heranzulassen.“ Ein grundoptimistischer, lebenslustiger Mensch käme niemals auf die Idee, „eine Differenzialanalyse der Problematiken seiner Zeit anzustellen.“
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Womit wir bei Friedrich Nietzsche wären. Nietzsche vereinte in sich alle Züge eines modernen Propheten, bis hin zum geistigen Zusammenbruch und seinem Ende in einer Psychiatrischen Klinik. Schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts, findet Pfarrer Rutte, hat Nietzsche glasklar den modernen europäischen Nihilismus vorausgesagt. Mit absoluter Sicherheit. „Ich schreibe von dem, was kommen wird und was gar nicht mehr anders sein kann, als dass es kommen muss.“ Nietzsche Texte sind 150 Jahre alt und sie klingen, als ob er sie gestern erschienen wären. Als ob er unsere Zeit beschriebe.
„Ich stelle mir das gar nicht so angenehm vor, wenn man die Welt mit solchem Weitblick und solcher Klarheit sieht“, sinniert Thomas Rutte. Wahrscheinlich lebe es sich sehr viel besser, wenn man „etwas dumpfer denkt.“ Zumal es die Menschen ja nicht mögen, wenn man ihnen die Augen öffnet. „Bis sie irgendwann kolossal auf die Füße fallen. Aber dann ist es zu spät.“ Also behalten wir die Propheten lieber, hegen und pflegen sie auch wenn es manchmal schwer fällt. „Denn“, lächelt der katholische Hochschulpfarrer von Heidelberg, „mit wem sonst sollte wir denn all die unwirklichen nächtelangen Gespräche führen, die nur im Schutz der Dunkelheit möglich sind.“
Jesaja war davon überzeugt, dass das Ende der Welt unmittelbar bevorsteht. Er datierte es um das Jahr 700 vor Christus. Danach werde ein Zeitalter des universalen Friedens anbrechen. Das Reich Gottes. „Der Herr wird euch von sich aus ein Zeichen geben: Seht, die Jungfrau wird ein Kind empfangen, sie wird einen Sohn gebären und sie wird ihm den Namen Immanuel geben.“ Das ist hebräisch und bedeutet: Gott ist mit uns.