Lange hatte sie noch gehofft. Von Woche zu Woche. Doch dann musste Friedericke Brixner einsehen, dass es in diesem Jahr nicht geht. Zum ersten Mal wird es in Mauer im Kraichgau kein selbstgeschriebenes Krippenspiel geben. Für Pfarrerin Brixner, die Kinder und die Gemeinde war das immer der Höhepunkt des Advent.
Christian Hess quälen die Erinnerungen an den April, als die Patienten in der Heidelberger Chirurgie keinen Besuch mehr bekommen durften. „Ich war oft ihre einzige Verbindung nach außen“, berichtet der katholische Klinikseelsorger. Was, wenn dieser Albtraum zurückkehrt? Ausgerechnet im Advent. „Die vier Wochen vor Weihnachten gehören doch zu den schönsten Zeiten des Jahres.“ Eine Suche nach dem, was trägt. In diesem schwierigen Advent.
Die Welt steht kahl, die Nacht scheint endlos, die Texten künden von Sehnsucht.
Nimmt man Weihnachten ernst, dann ist der Advent nie behaglich. Er ist eine Zeit der Vorbereitung und der Dunkelheit. Die Welt steht kahl, die Nacht scheint endlos, die Lesungstexte künden von Sehnsucht. Von alters her trägt der Advent Violett. Die Farbe des Verzichts. Violett strahlt nicht, violett wuselt nicht. Violett wartet. Still, nüchtern, hellwach. „Aber wenn es in einer Sakristei zwei violette Messgewänder gibt, entscheide ich mich im Advent immer für das hellere“, lächelt Christian Hess, der Priester. „Da scheint die Weihnachtsfreude schon durch.“
Diese Vorfreude auf die Weihnacht kann tatsächlich ungeahnte Kräfte zu mobilisieren, findet Pfarrerin Friedericke Brixner aus Mauer. Selbst unter sehr eingeschränkten Bedingungen. „Vielleicht heißen wir das Kind in diesem Jahr sogar mit mehr Ernst willkommen als früher“, überlegt Brixner. „Weil wir am eigenen Leib erfahren, wie sich Unsicherheit und Angst anfühlen.“
Maria und Josef haben das auch erlebt. Damals auf ihrem eiligen, einsamen Weg nach Bethlehem. „Sie wussten ja nicht, ob sie ihr Kind auf dem Feld kriegen müssen. Oder auf der Straße“, sagt die Pfarrerin. „Maria und Josef konnten nur hoffen und beten. So wie wir heute auch.“
Womöglich verbirgt sich hinter diesem Gefühl des Ausgeliefertseins sogar die Botschaft des Advent 2020: Sich endlich zu verabschieden vom „Machermodus“ und dem Wahn, alles „im Griff“ zu haben. „Statt darüber zu lamentieren, was wir alles nicht tun können, sollten wir lieber nach den Freiräume suchen und sie nutzen.“
„Warten ist eine Kunst, die unsere ungeduldige Zeit vergessen hat“.
Advent feiern heißt warten können, schrieb Dietrich Bonhoeffer 1929. „Warten ist ein Kunst, die unsere ungeduldige Zeit vergessen hat. Wer nicht die herbe Seligkeit des Wartens, das heißt des Entbehrens in Hoffnung, kennt, der wird nie den ganzen Segen der Erfüllung erfahren.“
Eigentlich, überlegt Christian Hess, der katholische Seelsorger in Heidelbergs Chirurgischer Klinik, eigne sich die Kargheit dieses Advent gut dafür, mehr stille Zeiten in seinem Leben zu verankern. Das wünschen sich ja Viele. „Mir flutet eine große Sehnsucht nach Spiritualität entgegen. Vor der Pandemie waren die Gästehäuser der Klöster immer ausgebucht.“ Alle wollen meditieren. Alle wollen lernen, wie man still wird. Offensichtlich fordert unser stets eng getacktetes Tagwerk jetzt seinen Tribut. Da passt es doch ganz gut, dass der Advent in den Lockdown fällt.
Klöster und Kurse, sagt Hess, braucht man eigentlich nicht, um nach Innen zu lauschen. Zehn Minuten pro Tag und etwas Durchhaltevermögen genügen. An einem Ort, „an dem ich mich wohlfühle und ungestört bin“. Was gärt gerade in mir? Aggression? Wut? Trauer? Schmerz? Angst? Woher kommt dieses Gefühl? Wie lange spüre ich es schon? Wo bin ich hin und her gerissen? Wo braucht es eine Versöhnung mit anderen Menschen?
Wo brauche ich mehr Abstand? Wo Versöhnung? Was möchte ich morgen versuchen?
„Es hilft, wenn man sich jeden Tag ein paar Stichworte notiert“, rät der Klinikpfarrer. Um rückblickend Muster aufzuspüren und „die inneren Stellschrauben zu justieren“. In seinem früheren Leben war Christian Hess Orgelbauer. Der Jesuitenorden empfiehlt, sich zusätzlich am Abend noch einmal für ein paar Minuten hinzusetzen. Was ist mir heute gelungen? Wo brauche ich mehr Abstand? Wo Versöhnung? Und was möchte ich versuchen mit Blick auf den morgigen Tag?
„Mit hilft es sehr, wenn ich mir in dieser dunklen Zeit immer wieder kleine Lichtblicke gönnen“, verrät Friedericke Brixner aus Mauer. Ein schön gefärbtes Blatt vom Baum, das man sich auf den Schreibtisch legt. Die letzte Rose aus dem Garten in einer Vase. Ein Spaziergang oder ein Lauf. Ein duftendes Tässchen Espresso nach dem Essen. Eine Kerze bei Einbruch der Dämmerung.
„Wichtig ist, dass man sich selbst wieder spürt“, betont Brixner. Das mache resistent gegen die großen diffusen Ängste, die momentan so gern von unserem Denken Besitz ergreifen. Sie führen nirgendwo hin. „Ich glaube, wir sollten wieder viel zu den Kleinigkeiten zurückkommen.“
Dietrich Bonhoeffer: „Je näher uns etwas kommt, desto geheimnisvoller wird es uns.“
Nicht der fernste Stern ist das größte Geheimnis, schrieb Dietrich Bonhoeffer 1929. „Sondern im Gegenteil, je näher uns etwas kommt, desto geheimnisvoller wird es uns. So ist uns auch nicht der fernste Mensch das größte Geheimnis, sondern gerade der Nächste. Und sein Geheimnis wird uns dadurch nicht geringer, daß wir immer mehr von ihm wissen; sondern in seiner Nähe wird er uns immer geheimnisvoller.“
„Die Menschen werden mir fehlen in diesem Advent“, sagt Friedericke Brixner, die Pfarrerin von Mauer. „Total.“ Sich die Hand geben, sich einfach mal in den Arm nehmen, kuscheln, knuddeln. Die ganze Palette des freundschaftlichen Miteinanders. „All das fehlt furchtbar.“
Das Christentum ist ja eine Religion, die von Nähe lebt.
Christian Hess nickt. „Dabei bereiten wir uns gerade auf das Fest der unendliche Nähe vor. Gott schickt uns seinen Sohn! Mehr Nähe gibt es nicht.“ Das Christentum, überlegt Hess weiter, ist ja eine Religion, die von Nähe lebt, vom Miteinander. „Aber wie soll man denn diese Nähe gestalten, wenn man sich nicht nahe sein darf?“
In den Seelsorgegesprächen in der Chirurgischen Klinik merke er immer mehr, wie sehr die Einsamkeit an den Menschen zehrt. „Da kommen Ereignisse wieder hoch, die sie lange Zeit verdrängt war. Und dann die Träume …“
Wie finden wir nach dieser langen Zeit wieder zusammen? Als Gemeinde? Als Gesellschaft?
Auch Friedericke Brixner in Mauer ringt mit Ängsten: Wie finden wir nach dieser langen Zeit des Abstands wieder zusammen? Als Gemeinde. Als Gesellschaft. Werden wir es weiterhin schaffen, rücksichtsvoll miteinander umzugehe, aufeinander zu achten? Oder wollen wir das überhaupt nicht mehr? Macht ab jetzt jeder nur noch seinen Stiefel? Was ist mit der Solidarität?
Doch dann lächelt die Pfarrerin plötzlich: „Verglichen mit den Menschen in Alten Testament jammern wir immer noch auf hohem Niveau.“ Abraham und Mose sind vierzig Jahre durch die Wüste gezogen, ohne zu wissen wo und wann der Weg zu Ende geht. Sie haben einfach vertraut. „Unser Gott ist einer, der mitgeht. Er weiß den Weg. Darauf vertraue ich auch.“
Wie ein mühsames Vorantasten im Nebel. Mit ganz kleinen Schritten. Immer nur ein Fuß vor den anderen.
Warten kann nicht jeder, schrieb Dietrich Bonhoeffer 1929. „Nicht der gesättigte, zufriedeneund nicht der respektlose. Warten können nur Menschen, die eine Unruhe mit sich herumtragen, und Menschen, die zu dem Größten in der Welt in Ehrfurcht aufblicken. So kann Advent nur der feiern, dessen Seele ihm keine Ruhe läßt, der sich arm und unvollkommen weiß und der etwas ahnt von der Größe dessen, was da kommen soll.“
„Ich merke auch, dass die Menschen jetzt langsam müde werden“, gesteht Friedericke Brixner. „Und mutlos.“ Die Situation zehrt. Weil man nicht ahnt, was noch kommen wird. Weil man nur noch maximal zwei Wochen im Voraus planen kann. „Ich weiß jetzt immer noch nicht, wie Weihnachten wird. Ich habe noch keine konkreten Pläne gemacht. Diese Ungewissheit ist uns allen fremd und unheimlich.“
Wie ein mühsames Vorantasten in dichtem Nebel. Mit ganz kleinen Schritten. Immer nur ein Fuß vor den anderen. „Menschen, die schwer krank sind oder auf der Flucht haben auch diesen kurzen Blickwinkel“, überlegt Brixner. „Die können auch nicht planen. Da geht es nur noch von Stunde und Stunde.“ Vielleicht sei das ja die Aufgabe für diesen Advent: Versuchen im Hier und Jetzt zu leben. Und nicht im Übermorgen.
Aber vielleicht geht ja im Advent einfach alles. Fast wie von selbst.
„Gottvertrauen hat immer auch sehr viel mit Vertrauen in sich selbst zu tun“, findet Christian Hess, der katholische Klinikpfarrer in der Chirurgie. „Aus dem Vertrauen heraus, dass Gott mich will und liebt, darf ich mir erlauben, an mich selbst zu glauben.“ So funktioniert Gelassenheit. Geschenkt werde einem diese angenehme Gefühl der Autonomie allerdings nicht, gesteht Hesse. „Da muss man sich schon reinfinden. Sie einlassen auf sich selbst. Die eigenen Prozesse gehen.“ Klingt ziemlich anstrengend, oder? Christian Hess lächelt. Im Advent geht alles einfach. Fast wie von selbst.
„Ich mag die Adventszeit sehr. Eigentlich seit ich denken kann“, gesteht Christian Hess. In seiner Kindheit habe die ganze Familie um den Adventskranz gesessen und die sehnsüchtigen Lieder gesungen.
Jetzt als Priester könne er kaum den Moment erwarten, wenn er von der Vorabendmesse zum ersten Adventssonntag nach Hause zurückkehre. „Ich mir einen Glühwein, suche meine Advents-CDs heraus und setze sich gemütlich aufs Sofa.“ Dann werde nur noch genossen: „Oh Heiland, reiß die Himmel auf“ in der Vertonung von Johannes Brahms oder die wunderbaren Choralvorspiele von Max Reger und Bach. „Und ich freue mich: Es ist wieder Advent.“