Vom Mauerblümchen zum stillen Star

Wenn man durch die Heidelberger Neugasse auf St. Anna zugeht, streckt man unwillkürlich die Hand aus, um die Kirche zu stützen. Sie sieht aus, als würde sie jeden Moment umkippen. Was natürlich eine optische Täuschung ist. Ursprünglich sollte St. Anna der Mittelpunkt eines großen, zweiflügeligen barocken Krankhauses werden, doch das Budget reichte nur für einen Flügel. Die Kirche blieb Torso, der provisorische Dachreiter sitzt bis heute schief. Im Juni 2014 wird St. Anna dreihundert Jahre alt.

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Heidelberg im Jahr 1714. Eine wunde Stadt. Der dreißigjährige Krieg hatte die Menschen ausgezehrt, der Pfälzische Erbfolgekrieg ihre Häuser in Schutt und Asche gelegt. Erst jetzt, zwanzig Jahre nach der Zerstörung, normalisierte sich das Leben wieder. Kurfürst Johann Wilhelm im fernen Düsseldorf investierte kräftig in die Kurpfalz. Überall wuchsen auf mittelalterlichen Grundrissen barocke Häuser im Miniaturformat aus dem Boden. 1712 war mit dem Neubau der Universität begonnen worden, direkt daneben sollte eine prunkvolle katholische Kirche entstehen. Fehlte nur noch ein Spital, um die Siechen aus dem schmucken neuen Stadtbild verschwinden zu lassen.

Eigentlich sollte in der Plöck ein Spital mit zwei Flügeln errichtet werden

Der Platz für die „Elende Herberge“ war schnell gefunden: Draußen in der Vorstadt neben dem St. Anna-Friedhof standen die verkohlten Reste eines Lazaretts, in dessen Keller ein  „Gesundbrunnen“ sprudelte. Am 24. Juni 1714 wurde der Grundstein für das St. Anna-Hospital gelegt. „Der Johannistag war der Namenstag des Kurfürsten“, erklärt der fundierte Kirchenkenner Eberhard Grießhaber. „Zwei Jahre zuvor hatte man an Johanni den Grundstein für die Alte Universität gelegt.“ 1717 sollte der Ostflügel des Hospitals fertig sein, drei Jahre später sein symmetrisches Pendant im Westen. Doch dann starb der Kurfürst.

Kein müder Heller mehr für Heidelberg

Sein jüngerer Bruder Carl Philipp schätzte Düsseldorf nicht besonders und übersiedelte daher nach Heidelberg. Keine so gute Idee. Carl Philipp, der eigentlich Geistlicher hätte werden sollen, war von Jesuitenpatres erzogen worden. Sehr fromm und sehr katholisch. Als erste Amtshandlung im reformierten Heidelberg verbot er den Heidelberger Katechismus, dann erklärte er die Heiliggeistkirche für katholisch. Aufregung unter der Bürgerschaft. Ärger. Carl Philipp, dem es im maroden Heidelberger Schloss sowieso nicht behagt hatte, packte seinen Hofstaat zusammen und zog nach Mannheim, um in der Ebene ein Schloss zu bauen, das barocken Ansprüchen genügte. Heidelberg erhielt fortan keinen müden Heller mehr.

Spätes Finish: Erst 1749 erhielt St.Anna eine schmucke Fassade mit Barockmadonna

Die Jesuitenkirche blieb dachloser Rohbau, der Westflügel des Krankenhauses wurde nie in Angriff genommen. Die Kirche St. Anna erhielt erst 1749 unter Kurfürst Karl Theodor eine ordentliche Fassade mit geschweiftem Giebel, der eine elegante Kuppel vortäuschen sollte. Was aber in Heidelberg niemand begriff. Kaum war der Architekt nach Italien zurückgekehrt, „schmückte“ man die Fassade mit einer Uhr und einem Fenster. Der Kuppeleffekt war perdu.

Vielleicht besser so, denn St. Anna ist eine bescheidene Kirche. Keine Säulen, keine Wandgliederungen. Nur eine hölzerne Empore mit kastenartiger Orgel und zwei unspektakuläre spätbarocken Seitenaltäre. Sie zeigen Maria und ihre Mutter Anna bei der Lektüre (links), sowie den heiligen Franz Xaver. Beide Ölgemälde sind etwas duster geworden, wodurch sich ein nettes kleines Ratespiel ergibt. „Im Bildnis des Franz Xaver sind neun Kreuze versteckt“, verrät Eberhard Grießhaber. Man muss aber schon sehr genau hinsehen, um sie zu finden.

Heidelbergs einziger Barockaltar am Originalstandort

Der einzige Barockaltar Heidelbergs, der noch am Originalstandort steht

Wirklich bemerkenswert ist der Hochaltar. „Er ist der einzige am Originalstandort erhaltene Barockaltar Heidelbergs“, betont der Kunsthistoriker Hans Gercke. Ein mächtiges Kruzifix wächst aus dem Altar hervor und ragt frei in den Chor hinein. Am Stamm des Kreuzes knien Rochus, der Patron aller Kranken, und ein Engel mit goldenen Flügeln. Zumindest der prächtige Engel, vermutet Eberhard Grießhaber, stammt aus dem engsten Umkreis des berühmten Bildhauers Paul Egell. „Man munkelt, er ist von seinem Sohn Augustin.“

Das Flügelgold inspirierte wohl auch den Bildhauer Sebastian Langner aus der Eifel zum neuen Zelebrationsaltar, der seit zwei Jahren in St. Anna den barocken Holztisch ersetzt. „Altar und Ambo sind ganz und gar mit Blattgold belegt“, sagt der katholische Dekan Joachim Dauer. „Dies soll den Tisch des Brotes und den Tisch des Wortes als die kostbarsten Orte der Kirche hervorheben.“ Blattgold in St. Anna. Die Krönung eines Mauerblümchens, das nie darauf aus war, Königin zu werden.

Der Auszug der Katholiken unter bitteren Tränen

Barocker Humor: Der kleine Putto am Hochaltar ahmt den Gestus des großen Engels nach

1870 begann die aufregendste Episode im Leben der kleinen Kirche. Das Erste Vatikanische Konzil war gerade zu Ende gegangen und hatte die katholische Welt in Unordnung gebracht. Es gab Streit um das neue Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes, eine Gruppe freiheitlich orientierter Priester wurde aus der römisch-katholischen Kirche ausgeschlossen. Sie gründeten postwendend die altkatholische Kirche, in der Priester heiraten dürfen und alle Entscheidungen von Synoden gefällt werden.

Heidelberg gehörte zu den ersten Städten, in denen sich eine altkatholische Gemeinde formierte. Man bat den Großherzog von Baden um ein Gotteshaus und  dieser bestimmte, dass die beiden katholischen Konfessionen St. Anna gemeinsam nutzen sollten. Zufriedenheit bei den Altkatholiken. Entsetzen bei den Römisch-Katholischen. „Unter bitteren Tränen und lautem Wehklagen zogen sie 1876 aus der St. Anna-Kirche aus“, erzählt Eberhard Grießhaber.

Aus der „Nothkirche“ wurde das Verpackungsmuseum

Die Rettung für die Papsttreuen kam vom Bauunternehmer Veith. Er ließ sein Salzlager im Hinterhaus der Hauptstraße 22 räumen und umbauen. Eine Empore wurde eingezogen, die Fenster verlängert und ein Glockentürmchen aufs Dach gesetzt. Fertig war die „Nothkirche“, in der die römischen Katholiken bis 1894 ihre Messen feierten. Heute beherbergt die Nothkirche das Verpackungsmuseum und die altkatholische Gemeinde versammelt sich in ihrer eigenen Erlöserkirche in der Schießtorstraße.

Nightfever in St. Anna: Junge Leute locken Passanten mit Teelichtern in die Kirche

Die St. Anna-Kirche, formal im Besitz der Stadt Heidelberg, wird von der römisch-katholischen Altstadtgemeinde Heilig Geist genutzt. Aber auch die polnische Gemeinde, sowie die rumänischen und die russischen Orthodoxen feiern hier ihre Gottesdienste. 2009 wurde St. Anna für mehr als 400000 Euro komplett saniert. Seither erlebt die kleine Kirche einen regelrechten Hype. Jeden Dienstag, wenn zur Mittagsstunde die „City-Messe“ gefeiert wird, ist das Gotteshaus rappelvoll. Abteilungsleiter im Anzug gönnen sich die geistliche Auszeit ebenso wie Studenten, Shopper oder Senioren. Bei den Abendmessen am Samstag reichen weder die Gesangbücher noch die Sitzplätze aus.

Das gilt umso mehr, wenn „Nightfever“ angesagt ist, eine Initiative der Katholischen Hochschulgemeinde. Die jungen Christen sprechen am Samstag Abend in der Fußgängerzone Passanten an, schenken ihnen ein Teelicht und laden sie nach St. Anna ein. Der Kirchenraum liegt dann im Dämmerlicht, eine Band singt leise moderne geistliche Lieder, die Atmosphäre ist warm, ruhig und angenehm. 700 Teelichter verteilen die jungen Katholiken pro Abend. Etwa die Hälfte kommt zurück.

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