Halt mal!

Die „Engelshaltestelle“: Eine Advents-Aktion der katholischen Jugend in Mannheim.

Die Haltestelle wirkte täuschend echt: Ein gelbes Schild mit neongrünem Rand und in der Mitte ein großes „H“. Daneben eine Bank mit ein paar jungen Leuten, die warteten. Allerdings nicht auf die Straßenbahn, sondern auf Passanten, die im vorweihnachtlichen Gewühl der Mannheimer Innenstadt unterwegs waren. Mit raschem Schritt, gehetztem Gesicht und prallen Tüten.

Diesen eiligen Shoppern eine kleine Adventsfreude zu bereiten, hatte sich das Team der „Engelshaltestelle“ vorgenommen. „Wir haben jedem einen Becher Tee und Plätzchen angeboten“, erinnert sich Matthias Leis, der katholische Dekanatsreferent von Mannheim, an die Aktion vor vier Jahren. Viele Menschen sind wortlos vorübergegangen. Es hat aber auch „richtig intensive Begegnungen“ gegeben. „Die Engelshaltestelle“, sagt Leis, „hat mein Verhältnis zum Advent verändert.“

Der Advent ist die dunkelste Zeit des Jahres. Und die kärgste.

Advent. Die dunkelste Zeit des Jahres. Und die kärgste. Die Tage sind kurz, die Bäume stehen kahl, in den Kirchen fehlen die Blumen und die Texte künden von Sehnsucht. Von alters her trägt der Advent Violett, die Farbe der Buße, die Farbe des Verzichts. Violett strahlt nicht, violett wuselt nicht. Violett wartet. Still, nüchtern, hellwach.

Matthias Leis arbeitet als Pastoralreferent
Mannheim.

So jedenfalls war der Advent ursprünglich einmal gedacht. „Davon ist heute kaum noch etwas übrig“, beobachtet Matthias Leis. Die Weihnachtsmärkte sind hell, laut und voll. Alle haben Stress wegen der Geschenke und des Essens. Dies muss noch erledigt werden. Und jenes. „Einmal habe ich im Advent tatsächlich über 250 Karten von Hand geschrieben“, gesteht Leis. Kein Platz für Sehnsucht, nirgends.

Dann kam die improvisierte „Engelshaltestelle“. Und alles war anders. „Ich habe gemerkt, wie gut es mir tut, die gewohnten Strukturen zu verlassen und dorthin zu gehen, wo die Menschen sind“, überlegt Matthias Leis. „Um zuzuhören und von meinem Glauben zu erzählen.“ Das ist zwar nicht einfach und auch nicht besonders gemütlich, gibt der katholische Theologe zu. Aber wahrscheinlich für die Kirche der einzige Weg in die Zukunft.

Die vier Wochen vor Weihnachten sind die ideale Zeit, um ein Ritual zu installieren.

Der Weg zum Licht führt steil hinab in die Tiefe. Stufe um Stufe steigt man die verwitterte Treppe zum Markushaus in der Heidelberger Südstadt hinunter, wo einst der evangelische Kindergarten sein Domizil hatte. Heute residiert hier das „Café Licht“, mit angesagten Vintage-Möbeln und Profi-Kaffeemaschine. Es ist warm und gemütlich im „Licht“, und fast immer triff man hier Mathis Goseberg.

Das Café Licht in der Heidelberger Südstadt wird vom CVJM betrieben.

Er ist einer von drei Pfarrern in der fusionierten evangelischen Megapfarrei „Christus-Luther-Markus“ – was man ihm aber auf den ersten Blick so gar nicht ansieht. Denn Goseberg wirkt sehr jung, eloquent, und er ist tief verwurzelt in der Szene.

„Das ,Licht‘ sieht zwar aus wie ein Café“, sagt Pfarrer Goseberg. „Aber in Wahrheit ist es eine Kirche im besten Sinn.“ Weil Kirchen ja Orte der Begegnung seien, offen für jeden, unabhängig von Alter, Verdienst oder Glauben. An Sonntagen lädt Mathis Goseberg oft zum „Community-Gottesdienst“ ins „Licht“. Mittags um 15 Uhr. Es gibt Live-Musik, Kreativ-Stationen und gemeinsames Essen. „Die Kirche der Zukunft muss ihren Schwerpunkt auf Beziehungen legen“, findet auch Goseberg. „In ihnen drückt sich unser Glauben aus.“

„Duschen im Kerzenschein ist auch auch einmal etwas anderes.“

Der Grundgedanke des Advent, überlegt der evangelische Theologe, ist die Aufforderung zu mehr Achtsamkeit. Was ja heute in aller Munde ist. „Achtsamkeit bedeutet, dass man den Tag nicht einfach vorbeiziehen lässt, sondern ihn bewusst strukturiert.“ Dabei helfen Rituale. Weil sie dem Menschen Leichtigkeit und Ruhe, Halt und Sicherheit geben. Die vier Wochen vor Weihnachten sind eine ideale Zeit, um solch ein Ritual neu zu installieren, findet Goseberg.

„Vielleicht kann ich mir vornehmen, am Morgen noch vor dem Gang ins Bad eine Kerze anzuzünden. Dann habe ich gleich eine andere Atmosphäre im Leben und stolpere nicht einfach in den Tag hinein.“ Wer sich beim Auflodern der Flamme auch noch gedanklich mit einem lieben Menschen verknüpft, fühlt sich sofort geborgen und getragen. „Und duschen im Kerzenschein ist auch mal was anderes.“

„Ich kann das Jesuskind nicht mit ganzem Herzen willkommen heißen, wenn ich noch mit einem Menschen im Streit liege.“

Matthis Godesberg ist evangelischer Pfarrer in Heidelberg.

Mindestens ebenso wichtig wie die äußere Vorbereitung auf Weihnachten – einkaufen, schmücken, backen – ist der innere Frieden, findet Pastoralreferent Matthias Leis in Mannheim. Er ist verheiratet und hat eine Tochter. Das zweite Kind ist unterwegs. „Ich kann das Jesuskind in der Krippe doch nicht mit ganzem Herzen willkommen heißen, wenn ich noch mit einem Menschen im Streit liege.“ Womöglich sogar mit einem Verwandten.

Deshalb, sagt der katholische Theologe, sollte man den Advent unbedingt nutzen, um schwelende Konflikte beizulegen. Das sei auch der tiefere Sinn des Adventskranzes, findet Matthias Leis: „Er macht deutlich, dass es von Woche zu Woche lichter werden soll in meinem Herzen.“ Vielleicht kann man sogar den Großputz vor dem Heiligen Abend metaphorisch deuten, überlegt Leis: „Das Aufwischen fordert mich auf, darüber nachzudenken, welche Freunde ich im Laufe des Jahres unter den Tisch habe fallen lassen. Und es fordert mich auf, mich schleunigst wieder bei ihnen zu melden.“

Enttäuschte Erwartungen können Beziehungen zerstören. Manchmal unwiederbringlich.

„Warten“, schreibt das Lexikon, meint immer eine konkrete physische Handlung. Man wartet auf einen Bus, auf eine Person oder auf den Sommer. „Erwarten“ hingegen ist fragiler. Weil es einen psychischen Vorgang beschreibt, der nicht planbar oder einklagbar ist. Ähnlich wie die Hoffnung. Man erwartet bestimmte Handlungen oder Worte von einem anderen Menschen, und ist tief enttäuscht, wenn sie nicht eintreffen. Beim Warten verliert man einfach nur Zeit. Enttäuschte Erwartungen können Beziehungen zerstören. Manchmal unwiederbringlich.

Die „Engelshaltestelle“ im Trubel der Mannheimer Planken.

Wenn man Gott in sein Leben hineinlässt, können „heilige“ Traditionen ins Wanken geraten.

Weihnachten und Ostern sind die beiden Feste, an denen man „einen Geschmack davon bekommt, wie unser Gott tickt“. Formuliert der evangelische Pfarrer Matthis Goseberg aus dem Heidelberger Süden. „Gottes Handeln unterscheidet sich ziemlich stark von dem, wie wir miteinander umgehen. Auch in der Kirche.“ Für die wichtigste Aufgabe im Advent hält es Goseberg daher, „die göttlichen Vibes wieder in unser Leben einzulassen.“ Doch Vorsicht! Dabei können womöglich „heilige“ Traditionen ins Wanken geraten.

„Als meine Frau und ich unser erstes Kind bekommen haben, war das für uns das größte Geschenk unseres Leben“, erzählt Pfarrer Goseberg. „Noch mehr Geschenke brauchten wir nicht und wollten wir nicht.“ Weshalb sich das Ehepaar dafür entschied, die weihnachtliche Bescherung abzuschaffen, bevor der schöne Gedanke des Schenkens zum bloßen Stress pervertiert.

Gehört dem Plastikbaum die Zukunft?

„Das hat starken Unmut ausgelöst in unserer Großfamilie“, gesteht der Heidelberger Pfarrer. „Wie immer, wenn man mit einer Tradition bricht.“ Jahrelang, sagt Mathis Goseberg, mussten seine Frau und er immer wieder neu erklären, warum ihnen an Weihnachten das friedliche Zusammensein mit der Familie als Geschenk völlig genügt. „Diese Diskussion hat viel Kraft gekostet, und es ist auch mal laut geworden“, sagt der evangelische Pfarrer. „Aber jetzt fühlen wir uns wie befreit.“

Gerade im Advent muss man verstärkt nach seinen persönlichen Krafträubern fahnden. Was stresst mich am meisten?

Man müsse, findet Mathis Goseberg, gerade im Advent verstärkt nach seinen persönlichen Krafträubern fahnden und sie identifizieren. Was stresst mich am meisten? Was laugt mich aus? Was brauche ich eigentlich nicht? „Manchmal genügt es schon, eine Kleinigkeit anders zu machen. Aber manchmal muss man auch radikal mit Traditionen brechen. „Das knallt richtig laut. Und tut richtig weh.“

Im Hause Goseberg war die Abschaffung der Geschenke erst der Anfang der Veränderungen. Danach verschwand der Tannenbaum. „Die Tradition des Weihnachtsbaums finden wir zwar alle sehr schön“, begründet der Heidelberger Pfarrer. „Aber die Vorstellung, dass dafür jedes Jahr ein lebender Baum gefällt werden muss, ist uns unerträglich.“

Auch Sehnsüchte und Träume brauchen Zeit, um wahrgenommen zu werden.

Im ersten Jahr ohne Baum haben die Gosebergs einfach ihre Zimmerpalme dekoriert. Mit Lametta, Weihnachtsmütze und Sternen. Dann erstanden sie eine Tanne aus recyceltem Plastik. „Sie sieht genauso aus wie ein richtiger Baum, hält aber mindestens dreißig Jahre“, sagt der Heidelberger Südstadtpfarrer. Und den Kindern sei es sowieso egal, ob sie einen echten oder einen künstlichen Baum schmücken. Hauptsache: Er ist schön bunt und glitzert.

Auch im Advent hat der Tag nicht mehr als 24 Stunden. Wird diese Zeit nicht bewusst gestaltet, verschwindet sie spurlos.

Matthias Leis in Mannheim erinnerte sich in den Adventswochen an der Engelshaltestelle plötzlich an eine Begebenheit, die er längst vergessen hatte. „Während meines Studiums hat mir mein Spiritual einen grünen Filzstift geschenkt“, erzählt der katholische Pastoralreferent. Mit diesem Stift sollte er in seinem Kalender für jeden Tag eine „Me-Time“ blocken. Eine Zeit nur für sich selbst. So unverrückbar, unverschiebbar und undiskutierbar wie ein offizieller Termin. Den Stift besaß Leis zwar noch, aber benutzt hatte er ihn bis zur Haltestellen-Aktion kaum.

Das etwas andere Haltestellen-Schild.

Das hat sich inzwischen geändert. Leis reserviert jetzt in seinem Kalender „grüne“ Zeiten fürs Gebet, für Spaziergänge, für das Spiel mit seiner Tochter, für einen Abend mit Freunden. „Natürlich gibt es viele Menschen, die sagen, ich degradiere all diese wertvollen Stunden zu Terminen“, räumt der katholische Theologe ein. Aber wenn er seine Zeit nicht so akribisch strukturiere, blieben viele dieser wunderbaren Begegnungen unter Garantie auf der Strecke. „Wir haben auch im Advent nicht mehr als 24 Stunden am Tag“, sagt Leis. „Diese Zeit muss bewusst gestaltet werden, sonst verschwindet sie spurlos.“

Das gilt auch für Sehnsüchte und Träume. Auch sie verlangen nach Zeit, um wirklich wahrgenommen zu werden. Und um zu wachsen. Und um sich zu konkretisieren. Wonach sehnt sich das Herz gerade? Nach Begegnung? Nach Ruhe? Nach Abenteuer? „Um die Antwort zu verstehen, muss ich still werden“, sagt Matthias Leis. „Nur wer die Ohren nach innen richten, hört sein Herz.“

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