Die Kunst des Wartens

Der Advent strahlt nicht. Er wartet.
Still, nüchtern,
hellwach.

Es hört nicht auf. Mit den Infektionen, den Masken, den Fallzahlen, den Tests. Als wäre man in einer Zeitschleife gefangen. Dabei wünschte man sich doch so sehr, dass dieses Dunkel endlich verschwindet. Und die Leichtigkeit zurückkehrt. Genau dieses sehnsüchtige Warten ist das Grundgefühl des Advents.

Der Advent strahlt nicht, der Advent wuselt nicht, der Advent wartet. Still, nüchtern, asketisch, hellwach. Das Licht leuchtet spärlich. Die Altäre stehen schmucklos. Die Kirchen tragen Violett. Die Farbe der Wehmut. Die Farbe des Harrens. Eine Annäherung an die Kunst des Wartens.

Wenn sich plötzlich ein Fenster mit unverplanter Zeit öffnet, greifet die meisten sofort panisch zum Handy.

Dekanin Monika Lehmann-Etzelmüller
vom Kirchenbezirk Neckar-Bergstraße.

Niemand wartet gern. Weder im Stau noch bei Verabredungen, weder im Supermarkt noch beim Arzt. Weil Warten aufhält. Weil es Pläne durcheinander bringt oder sie zumindest verzögert. Und weil sich plötzlich ein Fenster mit unverplanter Zeit öffnet. Was so ungewohnt ist, dass die meisten sofort panisch zum Handy greifen.

Kürzlich habe sie ihren Kindern erzählt, wie man früher Fernsehserien geschaut hat, berichtet Monika Lehmann-Etzelmüller, die Dekanin des evangelischen Kirchenbezirks Neckar-Bergstraße. „Am Samstag Nachmittag gab es eine Folge. Dann mussten man eine ganz Woche warten bis zur nächsten Episode.“ Ungläubiges Staunen bei der jungen Generation. Heute klickt man bei Netflix einfach weiter.

Dem Advent ergeht es ähnlich wie den Serien. Auch er wird immer öfter weggeklickt. Damit auf das Weinfest im Oktober direkt die glitzernde „Vorweihnachtszeit“ folgen kann. „Den stillen, erwartungsvollen Dezember gibt es eigentlich gar nicht mehr“, beobachtet Dekanin Lehmann-Etzelmüller.

Pater Benedikt Pahl, der Prior
der Abtei Neuburg in Heidelberg.

Warten ist immer auch eine Liebeserklärung.

Sie findet das sehr schade. Weil das Warten ja auch eine Liebeserklärung enthält. „Wenn ich bereit bin, auf einen Menschen oder ein Ereignis zu warten, zeigt das doch, wie viel Wert ich ihm beimesse. Auf das, was allzeit verfügbar ist, wartet niemand.“

Pater Benedikt Pahl ist Benediktinermönch und Prior der Abtei Neuburg in Heidelberg. Er hat sich das Warten zur Lebensaufgabe gemacht. „Der heilige Benedikt schreibt in seiner Regel, dass Mönche zeitlebens Menschen des Advent sein sollen“, erklärt der promovierte Theologe. „Wir Ordensleute sind diejenigen, die Ausschau halten nach der Wiederkunft Christi.“ Mit dem hibbeligen Gestus an der Bushaltestelle, hat dieses monastische Warten überhaupt nichts gemein. Weil Mönche ihre Wartezeit ja gar nicht abkürzen wollen. Sondern sie verwandeln sie Gebet für Gebet in Langmut und Gelassenheit. Weshalb Klöster immer eine Aura von Zeitlosigkeit umgibt. Ein winziger Vorgeschmack auf die Ewigkeit.

Schlicht und schön: Advent in der Abtei Neuburg.

Das treffendste Wort, um das Geheimnis des Advent zu beschreiben, sei der aramäische Begriff „maranata“. Findet Pater Benedikt Pahl. Das Wort ist schwer zu übersetzen, denn die Sprachen im Vorderen Orient machen keinen Unterschied zwischen Zukunft und Gegenwart. „Maranata“ bedeute sowohl „der Herr wird kommen“ als auch „der Herr ist da“. So ist der Advent, sagt der Prior von Stift Neuburg. „Wir spüren, dass der Gott bei uns ist. Und erwarten trotzdem seine Ankunft.“

Der Advent stellt auch Fallen. Den Rückzug in die Innerlichkeit beispielsweise.

Doch Vorsicht, mahnt Monika Lehmann-Etzelmüller, die Dekanin aus Weinheim. Der Advent stellt auch Fallen! Er verlockt beispielsweise dazu, sich in die eigene Innerlichkeit zurückzuziehen. Indem man es sich zuhause richtig schön gemütlich macht. „Hygge nennt man das heute“, weiß die Dekanin.

Stövchen und Kuscheldecke sind aber genau das Gegenteil von dem, was die kargen vier Wochen vor Weihnachten bewirken wollen. Wirksam warten, sagt Lehmann-Etzelmüller, kann man nämlich nur, wenn alles Sinne hellwach sind. „Der stärkste Impuls der Lesungen im Advent ist die Aufforderung: Lasst Eure Lichter brennen“, sagt die Dekanin. Sie liest das als politischen Auftrag: Beobachtet aufmerksam, ob und wie sich das Zusammenleben in unserer Gesellschaft verändert.

Die Gästezimmer im Stift Neuburg
sind nachgefragte denn je
.

„Ich habe mich kürzlich mit Beratern der Telefonseelsorge getroffen“, berichtet Monika Lehmann-Etzelmüller. „Der Besuch hat mich tief erschüttert.“ Seit Corona kann sich die Telefonseelsorge vor Hilferufen nicht mehr retten. Das Telefon klingelt pausenlos. Man arbeitet in Doppelt- und Dreifachschichten. Von Woche zu Woche werden die Anrufer jünger. Da melden sich 12-Jährige, die völlig vereinsamt sind. „Sie haben dieses Jahr als dunkelste Finsternis erlebt“, berichtet Lehmann-Etzelmüller. Als Thema für den Advent 2021 hat sich die Dekanin deshalb vorgenommen, „darüber nachzudenken, wie wir aus dem Loch wieder herausfinden, das Corona in unser Miteinander gerissen hat.“

„Wenn wir Gott etwas zutrauen, müssen wir akzeptieren, dass der etwas völlig Neues aus uns macht.“

„Bei uns haben in der Zeit der Pandemie unzählige Menschen angerufen, die unbedingt ein Zimmer in unserem Gästehaus mieten wollten“, berichtet auch Pater Benedikt Pahl von der Abtei Neuburg. Tatsächlich sei die Nachfrage nach einer Auszeit im Kloster momentan gerade bei jungen Leuten extrem hoch. „Es ist absurd anzunehmen, es könnte je eine Generation geben, die nicht nach Gott sucht“, sagt Pater Benedikt. Manchmal könnten die Jungen das nicht so artikulieren. Aber die Suche sei da.

Hell und heilig: Die Klosterkirche der Abtei Neuburg.

Wobei eine Auszeit im Kloster keine Therapie ist. Und Mönche verstehen sich weder als Psychologen noch als Missionare. „Wir begleiten unsere Gäste, aber wir bieten ihnen keine schnellen Antworten“, betont Pater Benedikt. Jeder Menschen müsse allein lernen, die Suche und das Warten aushalten. Im Gebet. Und in der Stille. Um Gott Freiraum zum Handeln zu geben. Wobei immer das Risiko bleibt, dass das Ergebnis völlig anders aussieht, als man es sich vorgestellt hat, warnt der Neuburger Prior. „Wenn wir Gott wirklich etwas zutrauen, dann müssen wir akzeptieren, dass er all unsere Pläne über den Haufen wirft und etwas völlig Neues aus uns macht.“

In den schlimmen ersten Tagen des Lockdown, erinnert sich Pater Benedikt, als das Kloster seine Kirche abschließen musste, seien die Menschen in Scharen gekommen und hätten Zettel unter der Tür durchgeschoben. Mit Gebetsanliegen. „Das war wie eine Klagemauer.“

„Zwei Sätze aus der Bibel reichen offensichtlich, um einen Menschen durch den Tag zu tragen.“

Der Advents-Tipp der Dekanin:
Eine Losung für jeden Tag.

Wenn man es genau nimmt, ist warten nicht gleich warten, überlegt derweil Monika Lehmann-Etzelmüller in Weinheim. Es gebe das ungeduldige Warten der Kinder, bis das nächste Adventstürchen aufgeht. Das angespannte Warten, wenn man sich Sorgen um die Zukunft macht. Und das leidvolle Warten, wenn man auf eine ärztliche Diagnose wartet. „Ich glaube, in der Adventszeit steckt von allem etwas drin.“

Doch wie geht man um, mit dieser Spannung, die das Warten erzeugt? Wie bleibt man wirksam trotz des ungewissen Endes? Monika Lehmann-Etzelmüller hat da einen sehr einfachen Vorschlag. Der aber gut wirkt, wie sie versichert. „Wir haben ja in der evangelischen Kirche unsere Losungsbücher. Ein ausgeloster Impuls aus der Bibel für jeden Tag.“ Wenn man dieses Bibelwort mit sich in den Alltag nehme, in die vielen verschiedenen Situationen, in denen sich jeder Menschen jeden Tag wiederfindet, dann passiere in den meisten Fällen etwas. Der Vers macht etwas mit dem Tag. Und mein Tag macht etwas mit dem Vers. „Ich finde das eine aufregende Sache“, strahlt Monika Lehmann-Etzelmüller. „Zwei Sätze aus der Bibel reichen offensichtlich, um einen durch den Tag zu tragen.“

„Nur wer sein Ziel kennt, kann produktiv und begründet warten“.

Der Rat des Priors für den Advent:
Ein gutes Buch lesen.

Pater Benedikt Pahl von der Abtei Neuburg ist allergisch gegen Slogans. Gegen lässig dahingeredete Sprüche. Einer ärgert ihn derzeit besonders: Der Weg ist das Ziel. „Diesen Spruch halte ich für vollkommen verkehrt.“ Ein Weg ohne Ziel mache ebenso wenig Sinn wie ein Advent ohne Weihnachten. „Nur wer sein Ziel kennt, kann produktiv und begründet warten“, findet der Neuburger Prior. Oder wie es der heilige Benedikt von Nursia formulierte: „In Freude Ausschau halten nach dem Kommen Christi.“

Der heilige Benedikt von Nursia hatte übrigens auch eine sehr genaue Vorstellung, womit man sich im Advent beschäftigen sollte: Jeder Mensch, befand der Ordensgründer, sollte in dieser geprägten Zeit ein Buch lesen. „Diesem Ratschlag zu folgen war im 6. Jahrhundert sicher sehr viel aufwändiger als heute“, lächelt Pater Benedikt Pahl. „Aber die Weisung hat dadurch nichts von ihrer Gültigkeit verloren.“ Weil es gerade in Wartezeiten wichtig sei, die Tage zu strukturieren. Und feste Auszeiten einzubauen. „Für die Begegnung mit anderen Menschen und den Anruf Gottes.“

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