Vom Zauber der Nacht

Alle wahren Abenteuer beginnen nach Einbruch der Dunkelheit. So wie damals bei Maria und Josef.

Es dunkelte schon, als das Pärchen mit seinem Esel erschöpft das Stadttor erreichte. Ein paar Minuten bevor es geschlossen wurde. Jetzt nur noch schnell ein Zimmer finden, dann konnten Maria und Josef endlich ausruhen. So lautete der Plan. Er hat bekanntlich nicht funktioniert.

Die Straßen von Bethlehem quollen über vor Menschen wegen der Volkszählung. Jede noch so schäbige Kammer war doppelt belegt, der Lärm ohrenbetäubend. Das heilige Paar hätte sehr gestaunt, wenn ihm jemand gesagt hätte, dass spätere Jahrhunderte diesen Abend als „Stille Nacht“ besingen würden. Was für eine verrückte Idee! Doch wie jetzt weiter? Das Licht schwand rasch, bald würden nur mehr die Sterne leuchten. Eine Weihnachtsgeschichte über die Nacht. Jene geheimnisvolle Schwester des Tages.

Die wahren Abenteuer beginnen einen Stunde nach Sonnenuntergang.

Heike Reinhard ist die neue evangelische Prälatin von Nordbaden.

Alle wahren Abenteuer beginnen eine Stunde nach Sonnenuntergang, wenn auch der letzte Lichtschimmer verloschen ist. In der Dunkelheit streift die Welt die Zivilisation ab und kehrt zurück zu ihren archaischen Wurzeln. Büsche und Bäume verwandeln sich in gespenstische Wesen. Selbst die vertrautesten Wege wirken fremd und unheimlichen.

Die Konturen verschwimmen, alles ist vage, zweideutig, potentiell gefährlich. Die Phantasie läuft auf Hochtouren: Jedes Rascheln wird als Bedrohung empfunden. Eine Nacht im Freien fühlt sich an wie die Rückkehr zum Ur-Chaos. Damals, als die Erde noch wüst und leer war. 

„Ich glaube schon, dass die Nacht gefährlicher ist als der Tag“, nickt Heide Reinhard, die neue evangelische Prälatin von Nordbaden. Vielleicht nicht unbedingt in ausgeleuchteten Fußgängerzonen. Aber wer sich im Dunkeln allein auf unbesiedeltes Terrain wage, der müsse schon mit prekären Situationen rechnen.

Die Lichtmetaphorik von Weihnachten nimmt auf die Schöpfungsgeschichte Bezug.

„Die Angst vor der Nacht ist eine tiefe anthropologische Erfahrung, die Menschen schon vor allen Zeiten gemacht haben“, definiert die Prälatin. Räuber, Mörder, Wölfe, wilde Hunde, Bären, Geister … Es ist angesichts all dieser Urängste kein Wunder, dass auch die Bibel mit der Nacht beginnt. Oder besser gesagt: mit dem Ende der Nacht. 

„Die biblische Ur-Finsternis muss eine tiefere Schwärze gewesen sein, als wir sie uns überhaupt vorstellen können.“

Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Die Erde aber war wüst und leer, Finsternis lag über der Urflut. Mit diesen Worten hebt das Buch Genesis an. „Die biblische Ur-Finsternis muss eine noch viel tiefere Schwärze gewesen sein, als wir sie uns heute überhaupt vorstellen können“, vermutet Heide Reinhard. Deshalb sprach Gott: „Es werde Licht.“ Und Gott nannte das Licht Tag, und die Finsternis nannte er Nacht. Die Lichtmetaphorik in der Weihnachtsgeschichte nimmt eindeutig auf diese Erzählung von der Schöpfung Bezug. Vielleicht lässt sich sogar ein langer roter Faden spannen von der Schöpfungsnacht zur Heiligen Nacht?

Licht, sagt die Physik, hat kein Eigenleben. Es wird erst sichtbar, wenn es auf Materie trifft. Was den Astronomen erlaubt, Rückschlüsse auf das Alter des Universums zu ziehen: Den Mond sehen wir so, wie er vor einer Sekunde ausgesehen hat. Die Sonne, wie sie vor acht Minuten war. Proxima Centauri, den nächsten Stern, wie er vor vier Jahren geschienen hat. Und vom Andromedanebel, unserer Nachbargalaxie, bis zur Erde braucht das Licht 2,3 Millionen Jahre.

Der Andromdeanebel ist unsere Nachbargalaxie.

Überall haben Maria und Josef geklopft und ihr Sprüchlein gesagt. Vergebens.

Maria, Josef und der Esel sind mittlerweile wieder an der Stadtmauer von Bethlehem gelandet. Überall haben sie geklopft, immer wieder ihr Sprüchlein gesagt. Vergebens. In letzter Verzweiflung hatte Josef einfach eine Bauersfrau angehalten, ob sie nicht wenigstens einen Ort kenne, wo man die Nacht sicher durchwachen könnte. Die Bäuerin hatte kurz gezögert, und dann einen verrosteten Schlüssel hervorgekramt. Er öffne die Tür zu einem Heuschober draußen auf dem Feld vor der Stadt, hatte die Frau gesagt. Aber nur ausnahmsweise. „Und ja kein Feuer!“

Die Geschichte der heiligen Nacht hat nie den Anspruch gestellt, ein historischer Bericht zu sein, überlegt Judith Maier-Ortseifen, die katholische Gemeindereferentin von Wiesloch. Sondern die Evangelien beschrieben einen Prozess, der eigentlich in jedem Menschen stattfinden sollte. „Das göttliche Kind wird in unseren Alltag hinein geboren, um uns Halt zu geben in Bedrängnis, in Sorge und in Not.“

Judith Maier-Ortseifen, katholische Gemeindereferentin in Wiesloch.

Erst gestern habe ihr eine Frau gestanden, dass sie große Angst habe, dass der Krieg auch zu uns kommt. „Es verändert sich momentan alles so schnell auf der Welt“, sagt Maier-Ortseifen. „Das kann die Seele schon in Dunkelheit stürzen.“ Ihr helfe an solchen Tiefpunkten der Blick auf Maria im Stall. „Sie muss tausend Ängste ausgestanden haben. Und sie hat alle klaglos angenommen. Irgendwie.“

Sobald die Konturen verschwimmen, sprechen wir aus, was wir bei Tageslicht nie gewagt hätten.

Angst annehmen funktioniert in der Dunkelheit sogar besser als bei Tageslicht. Findet die Philosophin Elisabeth Bronfen aus Zürich. Sie hat gerade eine „Kulturgeschichte der Nacht“ verfasst („Tiefer als der Tag gedacht“, Carl-Hanser-Verlag). „Sobald die Konturen verschwimmen“, schreibt Bronfen, „sprechen die Menschen Dinge aus, die sie bei Tageslicht nie zu sagen gewagt hätten.“

Die Vorstellungskraft wächst, wenn es dunkel ist. Der Mensch denkt kreativer.

Im Schutz der Dunkelheit ist alles möglich, meint die Nachtforscherin. Der menschliche Geist könne phantastische Höhen erklimmen und ganze Welten ersinnen. Ja, sogar die Quadratur des Kreises gelinge in der Dunkelheit. Manchmal. Die Vorstellungskraft wächst, wenn es dunkel ist, der Mensch denkt kreativer und handelt verwegener. „Die Nacht bringt Entscheidungen, sie gebiert Koalitionsverträge und Hausarbeiten, Liebesgedichte und Abschiedsbriefe.“

Die Nacht als Rettungsanker. So denken wir selten. Dabei spricht Weihnachten von nichts anderem.

In der Karlsruher Kunsthalle hängt ein Bilderzyklus, den die evangelische Prälatin Heide Reinhard „außerordentlich“ schätzt. Dargestellt wird das Gleichnis vom „Barmherzigen Samariter“. Johann Wilhelm Schirmer hat es in vier kleinen historistischen Bildern dargestellt. Auf dem ersten Gemälde reitet ein Mann frohgemut in den Morgen. Am Mittag wird er ausgeraubt und verwundet. Am Abend schleppt er sich nur noch halb tot kriechend dahin.

Nächtliche Rettung: „Der Barmherzige Samariter“ von Johann Wilhelm Schirmer.

Doch auf dem Nacht-Bild, als es schon praktisch keine Hoffnung mehr gibt, kommt ein Samariter angeritten. Er lädt den Verwundeten auf sein Pferd und bringt ihn in Sicherheit. „Die Nacht als Rettungsanker“, lächelt die Prälatin. „So denken wir selten. Dabei spricht die Weihnachtsgeschichte von nichts anderem.“

Die Wahrnehmung verändert sich in der Nacht. Je weniger das Auge sieht, desto schärfer werden die anderen Sinne.

Maria und Josef sind mittlerweile todmüde. Mit langsamen schweren Schritten nähern sie sich der Hütte auf dem dunklen Feld. Jetzt nur noch das Schlüsselloch finden, dann kann die werdende Mutter sich endlich niederlegen. Das Heu duftet frisch und angenehm. Und es schmeckt offensichtlich ausgezeichnet, wenn man dem zufriedenen Mampfen des Esels glauben darf. Josef geht noch einmal kurz nach draußen, um den Eimer mit Wasser zu füllen. Ihm will scheinen, dass die Sterne hier heller funkeln als sonst.

Die Wahrnehmung des Menschen verändert sich in der Nacht. Je weniger das Auge sieht, desto schärfer werden die anderen Sinne. „Die Dunkelheit verstärkt jede Wahrnehmung und jedes Gefühl“, sagt Heide Reinhard. „Wir hören und spüren plötzlich Dinge, an denen wir bei Tag achtlos vorübergehen.“

Auch die Hirten kamen in der Nacht zur Krippe.

Je nach individueller Stress-Stabilität löst das entweder neugieriges Interesse oder lähmendes Entsetzen aus. Langweilig werden Nachtwanderungen jedenfalls nie. Solange man sich darauf verlassen kann, dass irgendwann wieder die Sonne aufgeht. 

Die Nacht ist in fast allen Kulturen ein Symbol für den Tod. Vielleicht musste der Retter der Welt deshalb im Finstern geboren werden.

Am vierten Tag seiner Schöpfung ist auch Gott aufgefallen, wie eminent wichtig der Wechsel von hell und dunkel für seine neue Schöpfung ist. Weshalb er „Lichter ans Himmelsgewölbe setzte, die über die Erde leuchten sollten.“ Ein größeres bei Tag, ein kleineres bei Nacht. Dazu noch ein paar Myriaden Sterne. Dass er irgendwann gezwungen sein würde, auch noch eine Hölle zu erschaffen, hat Gott zu jener Zeit wohl noch nicht geahnt.

Die griechische Mythologie dachte da pragmatischer. Die größte Strafe, die sie für einen Übeltäter vorsah, war die Verbannung in das Reich des Tartaros, wo man in Ewigkeit in tiefschwarzer geräuschloser Finsternis leben musste. Das ist vielleicht noch schlimmer als die Vorstellung, dass nach dem irdischen Leben gar nichts mehr kommt. 

„Die Nacht ist ja in fast allen Kulturkreisen ein Symbol für Angst und Tod“, überlegt Judith Maier-Orthseifen, die Gemeindereferentin aus Wiesloch. „Vielleicht muss der Retter der Welt auch deshalb in der Nacht geboren werden.“

Weihnachten stellt die Verhältnisse auf den Kopf: Die Nacht als Retterin, Heilbringerin, Hoffnungsträgerin.

Die Nacht als Hoffnungsträger. Die Nacht als Retterin der Welt.

Jedes noch so kleine Problem nämlich, das wir haben, besitzt die Eigenschaft, sich im Dunkel der Nacht zu gewaltiger Größe aufzuplustern. Man grübelt und wälzt sich, wälzt sich und grübelt. „In der Nacht fühlt man sich viel verzweifelter und verlassener als bei Tag“, weiß auch Prälatin Heide Reinhard.

Die biblische Weihnachtsgeschichte entlarvt diesen urmenschlichen Mechanismus und setzt ihn außer Kraft, glaubt die Zürcher Philosophin Elisabeth Bronfen. „Christus, der Retter der Welt, wird in tiefer Nacht geboren. Der Stern in der Nacht führt die Könige zum Kind. Ein nächtlicher Traum warnt Josef, mit seinem Sohn nach Ägypten zu fliehen.“ Die Nacht als Retterin. Die Nacht als Heilbringerin. Die Nacht als Hoffnungsträger. 

„Das rohe Geschwätz der Hirten verstummte“, dichtete Bert Brecht. “Später wurden aus ihnen Könige in der Geschichte./ Der Wind, der sehr kalt war, / wurde zum Engelsgesang. / Ja, von dem Loch im Dach, das den Frost einließ, blieb nur / der Stern, der hineinsah. / Alles dies / kam vom Gesicht ihres Sohnes, der leicht war / Gesang liebte / Arme zu sich lud / Und die Gewohnheit hatte, unter Königen zu leben.“

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